Neun Wochen nach der Wahl vom 15. Oktober 2017 und nun, nach der Formierung der Regierung Kurz / Strache, lässt sich eine erste Zwischenbilanz ziehen, auch ohne dass wir alle Einzelheiten des Regierungsprogramms bereits durchbesprochen haben.
Die Wahl endete als Misstrauens-Kundgebung gegen den Globalismus der Eliten und der Oberen Mittelschichten, für den heute in Österreich vor allem die SPÖ und die Grünen stehen. Und sie gab, wie in Westeuropa inzwischen schon gewohnt, deutliche Gewinne an zwei Parteien, von denen zumindest eine diesen Globalismus als Kern ihrer Partei-Identität betrachtet. Ein Widerspruch? Ja und Nein.
Die Unterschichten wenden sich zuerst einmal gegen einen Aspekt der Globalisierung, den sie begreifen und hautnah erleben – und diese Haltung geht weit in die Mittelschichten hinein: Sie fürchten sich vor dem Ansturm der Dritten Welt auf die Zentren und wollen diesen mit möglichst allen Mitteln stoppen. Kurz hat dies begriffen, und er hat mit seinem vielleicht etwas primitiven aber zugkräftigen Slogan von der „Schließung der Balkan-Route“ und dann der „Mittelmeerroute“ zielgenau reagiert. Kern hat dies nicht begriffen und sich mit seinem Schimpf „Vollholler“ ins Abseits gestellt.
Ich will jetzt gar nicht auf die materiellen Inhalte eingehen, welche damit verbunden sind. Aber vielleicht ist ein Wort zur Bewertung nicht überflüssig. Wir gehören nicht zu jenen, welche dem klassistischen und rassistischen Gewäsch einer Christa Zöchling eine Bewunderung der sehnigen Proletarier-Körper und ihres unfehlbaren wenn schon nicht revolutionären, so doch rebellischen Geistes gegenüber setzen. Wir wissen gut genug, dass Politik ein Prozess von Versuch und Irrtum ist. Und manch ein Irrtum kommt sehr teuer zu stehen. Wir brauchen nur an die Zwei-Drittel-Mehrheit von 1994 für die EU zu denken. Sie dient heute der politischen Klasse dazu, dass man über die EU grundsätzlich nicht mehr abstimmen darf. Die Abstimmung über den Globalismus in den vergangenen Nationalrats-Wahl könnte ganz gut ebenfalls sehr kostspielig sein und vielleicht nicht mehr reversibel – ist doch die Politik der Bürokratie und der ihr dienenden politischen Klassen in den letzten Jahrzehnten genau darauf ausgerichtet, und sie sagen es auch: Der politische Wandel hin zum Imperium soll irreversibel werden. Noch und noch lesen wir dies in allen EU-Dokumenten. Es könnte also sehr wohl sein, dass die Wahl vom Oktober ein gewaltiger Schritt zur jenen Unumkehrbarkeit war, die ein Großteil der Bevölkerung gerade nicht will.
Die Regierungserklärung des Sebastian Kurz vor dem Parlament vom 20. Dez. 2017 ist ein Text, der in seiner Aussagelosigkeit schon wieder lesenswert ist. Er müsste eigentlich von jedem Parlamentarier als Schlag ins Gesicht empfunden werden. Inhaltlich werden ein paar völlig allgemeine Positionen wiederholt: „Steuer- und Abgabenquote in Richtung 40 % senken, … mehr Ordnung und Sicherheit, … Kampf gegen die illegale Migration“. Sie werden entsprechend stilisiert: „damit die Menschen, die arbeiten gehen, nicht die Dummen in unserem Land sind. …unser Sozialsystem wieder wirklich treffsicher machen, … Veränderung bei der Mindestsicherung, um Ungerechtigkeiten im System zu beenden…“ Ansonsten sind es ausschließlich Wahlkampf-Phrasen: „Österreich wieder einen Platz an der Spitze ermöglichen, … mehr Eigenverantwortung.“ Und dann kommt eine Phrase, die direkt aus den Dreißiger Jahren und dem Austrofaschismus stammt: „In Deutschland sind viele der Meinung, Österreich sei das bessere Deutschland…“ – Dann wird noch das neue Personal mit je zwei-drei Sätzen vorgestellt, und das war es. Aufmerksam machen sollte man, dass es nun einen Minister für Deregulierung gibt.
Man könnte meinen, mit einer solchen Vorgangsweise dürfte diese Regierung kaum wenige Monate überstehen können. Aber wir sollten uns nicht täuschen. Das Regierungs-Programm ist ganz offensichtlich auf Entpolitisierung angelegt. Und das dürfte eine verbreitete Stimmung in der Bevölkerung treffen. Sie hat von der bisherigen Politik die Nase voll. Das gilt keineswegs nur für Österreich, das ja seit 1994 europäisch normalisiert werden sollte und wurde. Man hat Kurz gelegentlich mit Macron und dergleichen Figuren verglichen. Zwar ist die politische Struktur in Frankreich deutlich anders. Macron gelang sein großer Sprung vor allem wegen der Marine Le Pen. Aber in einem Punkt können wir dem Vergleich Recht geben: Dort wie da kommt der neue Populismus des Zentrums zum Tragen. Er greift den Impuls der Antipolitik auf, der in der Bevölkerung weit verbreitet ist und bisher vor allem vom Rechtspopulismus eingesetzt wurde. Die Sozialdemokratie hingegen verkörpert die alte Politik der globalistisch-liberalen Bürokratie. (In Italien hat allerdings der „rottamatore“ Renzi, ein Rechtssozialdemokrat, diesen Populismus zu nützen versucht.) Dies entspricht ganz dem EU-Programm: Die Kommission + EZB+ EuGH geben Richtung und Grundsätze vor; die nationalen politischen Klassen führen durch. Wie gut dies in Österreich gelingt, ist noch die Frage.
Wir können dies am Regierungs-Programm sehen, und damit sind wir wieder beim Konkreten, falls wir diese Papier konkret nennen wollen und können. Im Abschnitt über den „modernen Bundesstaat“, dem „schlanken Staat“ und der „wirkungsorientierten Haushaltsführung“ finden wir, wie auch sonst, vorwiegend öde Phrasen, die wir seit Jahrzehnten hören: „Regelungen in optimaler Weise im Sinne der Bürgerinnen und Bürger“, „Controlling“ und ähnliches Bla-bla. Dazu kommen neoliberale Neigungen, gekleidet in unverfängliche Vokabel: „gemeinsame Förderungsstrategie“, „Verfahrenskonzentration“. Schließlich werden Einzelmaßnahmen aufgezählt, die auf dem ersten Blick sehr bescheiden wirken. Erkennbar ist dahinter immerhin: Die Herrschaften wollen zum Einen den Unternehmer-Interessen freien Durchzug schaffen. Zum Anderen aber sollen mögliche Widerstände gegen ihre Politik unmöglich gemacht oder jedenfalls erschwert werden. Poulantzas hat seinerzeit darauf hingewiesen: Im transformistischen Staat der 1970er sind z. B. Ministerien zu Lobbys bestimmter Interessen geworden. Ein Landwirtschafts-Minister hat nicht einfach die Regulierung der Agrarwirtschaft im Auge. Er vertritt die Interessen der Bauern bzw. meist eines bestimmten Teils unter ihnen. „Vollkonzentrierte Genehmigungsverfahren“ und „Abschaffung gegenseitiger Blockademöglichkeiten“ bedeutet somit vor allem den Wegfall der Kontrolle von dominanten Interessen durch andere, weniger geschätzte; also z. B. im Umweltschutz.
Die Ankündigung ist großkotzig, die Konkretisierung meist dürftig. „Die Überprüfung und Neuordnung der Kompetenzbestände der Art 10 – 15“ B-VG wäre fast eine Revolution im österreichischen Verwaltungsstaat, würde das Verfassungs-Prinzip des Bundesstaats berühren und wahrscheinlich aushebeln. Aber da wird dann aufgezählt: „Bautechnikrecht“ und „Jugendschutz“, also im Grund Kleinigkeiten, wo das eine den Baufirmen im Weg steht, und das andere eine Lieblings-Marotte der Medien ist.
Apropos Jugendschutz: Ich erinnere mich, wie in meiner frühen Jugend die Vorarlberger Landesregierung im Namen des Jugendschutzes verboten hat, Twist zu tanzen. Dieses Beispiel zeigt deutlich genug: „Jugendschutz“ enthält ein gewichtiges konservativ-politisches, ein ideologisches Element. Er ist also keineswegs nur eine quasi-technische Frage, die man „selbstverständlich“ auf Bundes-Ebene lösen müsse und wo der Föderalismus nichts zu suchen habe. Einer der wichtigsten Punkte, welche zur Schaffung des eigenständigen Bundeslandes Wien führte, waren die „Sever-Ehen“; auch im Burgenland war das Eherecht nach dem Anschluss an Österreich eine wichtige Frage.
Bleibt noch die von Strache als zentrale Forderung angekündigte direkte Demokratie. Man kann ihm nicht vorwerfen, er sei „umgefallen“. Die Forderung war vermutlich nie ernst gemeint. Übrig geblieben ist ein Verschieben der Volksabstimmungen auf „das Ende der Gesetzgebungsperiode“ und damit auf den St. Nimmerleins-Tag; von vorneherein eine Einschränkung auf unwesentliche Agenden, und schließlich ein Schwellenwert (900.000 Unterschriften), welcher es möglichst unmöglich machen soll, dieses Instrument überhaupt einzusetzen. Besonders lustig hier ist: Die FPÖ sprach im Wahlkampf von 200.000, die ÖVP von 600.000, und herauskam, wie schon gesagt – 900.000. Das also ist die Wirklichkeit von demokratiepolitischen Maßnahmen dieser Regierung. Es zeigt auch, was Unumkehrbarkeit heißt: Über den Beitritt zur EG / EU durften wir abstimmen, über ein Verlassen dürfen wir es nicht. Aber nochmals: Wer sich wundert, ist selbst schuld.
Rechtspopulismus ist das Aufgreifen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung und das Anbieten völlig ungeeigneter Maßnahmen. Zentristischer Populismus ist die Umkehrung der Angelegenheit in ihr Gegenteil mittels der Bürokratie und ihrer neuen Rhetorik. Wie lange dies wohl funktioniert?
Albert F. Reiterer, 27. Dezember 2017