Die Sozialdemokratien in Österreich und in der BRD sind seit Längerem in einer Schwäche-Phase. Noch sind sie nicht zusammengebrochen, wie die in Griechenland und Frankreich. Es sieht aber so aus, als ob beide Parteien bei den kommenden Wahlen eines übergebraten bekämen. Zwar: Über die SPD muss man sich allenfalls wundern, dass sie sich wundert, dass man ihr die Soziale Gerechtigkeit als Thema nicht abnimmt –erst holt sie sich Schulz als Vorsitzenden und dann Schröder als Wahlkämpfer. Aber auch in Österreich ist es nicht so sicher, dass die SPÖ nach Gusenbauer und Faymann wieder einen Fuß auf den Boden bekommt. Das Angebot Kern ist reichlich mickrig. Strache und Kurz scheinen sich überdies schon einig zu sein; es fragt sich höchstens, wer von beiden Kanzler wird.
„Sozialkapitalismus“, „demokratischer Kapitalismus“, so nennt W. Streeck die Ordnung der Nachkriegszeit. Ich beziehe mich hier auf ihn, weil er in diesem Buch prominent eine Krisenerklärung für heute anbietet. Heute kämen die Krisen daraus, dass das Kapital diesen Konsens, diesen Kompromiss aufgekündigt habe. Es sind eine Menge überlegenswerter Gedanken in Streecks Buch. Und doch: Einige der wichtigsten Punkte hat er nicht begriffen, will er vielleicht nicht begreifen. Wie entstand denn diese europäische Nachkriegsordnung, deren Verblassen wir heute mit Nostalgie sehen, obwohl die Linke sie seinerzeit stets bekämpft hat?
Die paradigmatische Verwalterin dieser Nachkriegsordnung war die europäische Sozialdemokratie. Doch auch die konservativen Parteien ließen sich ganz und gar auf den Sozialdemokratismus der unmittelbaren Nachkriegszeit ein. Es gibt kaum etwas Kennzeichnenderes für den Versuch eines Neuanfangs als das Ahlener Programm der CDU von 1947. Programmatisch-ideologisch hatten die Konservativen diese Phase schnell überwunden und stiegen in den harten Konflikt ein. Die Sozialdemokratien aber betrachteten sie als ihre Grundlage.
Aber die Sozialdemokratie hat ihren Erfolg selbst nie verstanden. Vor allem hat sie nie begriffen, dass sie ihn ihren erbittertsten Gegnern verdankte, der Sowjetunion und den dieser verbundenen, vielmehr untergeordneten Kommunistischen Parteien. Nur der Angst vor diesem System ist die Bereitschaft des Kapitals zu einem solchen Kompromiss geschuldet. Man trug ihn ja nicht mit Freuden mit, sondern zähneknirschend. Der Lösungsansatz der Zwischenkriegszeit war mit Eklat gescheitert: Die diversen, vom Großkapital gestützten und benutzten Faschismen hatten in die Katastrophe geführt. Nun fürchtete das Kapital, auch Westeuropa zu verlieren.
Dazu trugen auf eine paradoxe und fast ironische Art die USA bei. Von Japan angegriffen und von Nazi-Deutschland in den Krieg verwickelt, waren sie notwendig Gegner des Faschismus geworden. Zwar entwickelten sie schnell das Konzept des weltpolitischen roll back und versuchten die Praxis nachzuschieben. Aber gleichzeitig sahen sie das eigene System in einer teils naiven, teils arroganten manifest destiny-Haltung als verpflichtend an, schon damals eine Art end of history-These. Eine weitere Faschismus-Periode in einem der Kernländer Westeuropas sollte es also nicht mehr geben. Also mussten sich die kapitalistischen und die konservativen politischen Eliten beugen. Vergessen wir nicht: Damals hatte die USA ein scharf progressives Einkommenssteuer-System, an das sich heute niemand erinnern will.
Die westeuropäische Entwicklung war also von beiden einander entgegen gesetzten Systemen außenbestimmt. Dazu kam, dass auch die USA, zwar mit einiger Verzögerung, nach der MacCarthy-Periode eine Version des Sozialstaats entwickelten, in der Kennedy-Zeit und vor allem unter Johnson. Der führte gewissermaßen eine US-sozialdemokratische Politik. Doch bereits mit Nixon, also ab 1969, setzte der soziale roll back ein. Seine Ergebnisse kann man in den Verteilungsdaten auf Pikettys website im Detail nachverfolgen.
Es war eine spezifisch keynesianische Politik, welche die Sozialdemokratie da durchzog. Sie setzte im Kulturbereich – darunter verstehe ich Alles, was nicht Ökonomie ist – eine linksliberale Ausrichtung, eine soziale und kulturelle „Modernisierung“, wie sie sagte. Damit errang sie bis heute die Meinungsführerschaft unter den hegemonialen intellektuellen Gruppen in dieser Sphäre. Die sozio-ökonomischen Strukturen aber wagte sie nicht anzutasten. „Solange ich regiere wird rechts regiert“, dekretierte Kreisky 1978 kategorisch. Überhaupt war die Kreisky-Zeit für die Blüte der europäischen Sozialdemokratie paradigmatisch. Diese völlige Unterwerfung unter die herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnisse hatte kennzeichnende Folgen.
Die neuen Leistungen für die Unter- und vor allem die (unteren und mittleren) Mittelschichten wurden keineswegs durch den Abzug von Ressourcen bei denen finanziert, wo sie zu finden gewesen wären. Denn, wie gesagt, die herrschenden Verhältnisse wagte die Sozialdemokratie nicht anzurühren. Es war der Staat, welcher die neuen Leistungen auf sich nahm, nicht etwa das Kapital. Konkret hieß dies: Ein Großteil dieser Leistungen entsprang einer horizontalen Umverteilung innerhalb der Mittelschichten. Aber bei der Unterschicht konnte man dies nicht machen. Die Leistungen für sie wurden zu einem nicht geringen Teil über Kredite finanziert. Das hatte zwei Folgen. Die Schuldenlast der öffentlichen Hand wuchs, und zwar stetig, nahezu naturgesetzlich. Aber damals gab es noch nicht den Investitionsstreik des Kapitals aus seinen heute auch aus kreislaufanalytischer Sicht viel zu hohen Gewinnen. Das Sozialprodukt war bereits vor der Umverteilung ausgeschöpft. Die notwendige Folge dieser keynesianischen Politik in einer unkeynesianischen Situation war somit Inflation. In Österreich machte die Inflation 1974 9,5 % aus und 1975 8,4 %. In der BRD stand sie 1973 bei 7,1 %, 1974 bei 6,9 %. Danach gab es eine kurze Periode der Entspannung. Doch 1981 stieg sie wieder auf 6,3 %.
Es war eine weltwirtschaftlich-weltpolitische Entwicklung großer Tragweite, welche die Entwicklungen überlagerte und teils auch anstieß. Inflation ist immer Ausdruck eines Verteilungskampfes, und ein völlig neuer Verteilungskampf begann. In den „Ölschocks“ 1973 und 1979 schafften es die parasitären Eliten einiger Entwicklungsländer, einen beachtlichen Anteil des Reichtums für sich abzuzweigen. Aber es waren nicht die räuberischen Konzerne, welche drankamen, ganz im Gegenteil. Bezahlt hat diesen Anteil die Bevölkerung, vor allem des westlichen Zentrums, durch allgemeine Preiserhöhungen. Das gab einen zusätzlichen Inflations-Impuls. Es hatte überdies weitreichende politische Folgen.
Zum Einen konnten nun die Unternehmen mit einer gewissen Plausibilität ihre Preiserhöhungen den „Ölscheichs“ in die Schuhe schieben. Es entstand ein allgemeines Inflations-Klima. Und ebenso wichtig: Die Rezyklierung der Ölgelder gab der Entwicklung zum neuen Finanzkapitalismus einen mächtigen Schub. Der Globalismus wurde zu einem neuen System.
Solange die Leistungen stiegen, nahm die Bevölkerung dies hin. Als aber die ersten Verunsicherungen und eine Tendenz zum Abbau erkenntlich wurden, kam schlechte Stimmung auf, und die Zustimmung zur SP begann zu sinken. Die Soziologen begannen mit einem gewissen Zynismus von den „steigenden Erwartungen“ der Unter- und Mittelschichten zu sprechen. Die könnten nun nicht mehr erfüllt werden. Affairen und Korruptionsfälle verstärkten das Missvergnügen. Die Eliten und die Konservativen standen bereit, dies zu nützen. Und die SP selbst reagierte mit der Wende zum Neoliberalismus. Frankreich war besonders früh dran, aber in der Entwicklung symptomatisch.
Inzwischen begann sich auch die Sowjetunion als Papiertiger zu erweisen. Das Wachstum in ihrem Herrschaftsbereich ließ nach. Manche Sozialindikatoren wiesen bisweilen sogar nach unten. In Ungarn etwa sank in den 1980ern die Lebenserwartung. Mit dieser Entwicklung entfiel aber die Hauptgrundlage der ohnehin schwachen Legitimität. Der Versuch eines Umbaus geriet außer Kontrolle. Die alten Eliten selbst zerschlugen das System und rissen sich die Beute unter den nun privaten Nagel.
Damit aber entfiel die Geschäftsgrundlage des bisherigen Arrangements auch im Westen. Nun fühlte sich das Kapital völlig frei. Das politische Problem des allgemeinen Wahlrechts und der Demokratie aber löste es mit der Transformation der EG zur EU: Die wesentlichen Entscheidungen wurden dem Zugriff oder der Beeinflussung seitens der Bevölkerung entzogen.
Haupttreiber dabei war die Sozialdemokratie. So verwunderlich ist dies nicht. Sie hatte sich mittlerweile aus einer Massenpartei der Arbeiter und Unterschichten zu einer Kaderpartei der Bürokratie gewandelt. Mao hatte in seiner Jugend und in seinem Alter den Legalismus und Han Fei als seine Vorbilder genannt: um das System, ja die Maschine Gesellschaft (man könnte in Anlehnung an den aufklärerischen Materialismus von société machine sprechen) zu steuern, muss die Bürokratie Alles kontrollieren. In Europa hießen die Vorbilder anders. Ich habe mehr als einmal von sozialdemokratischen Beamten den Bürokraten-Kaiser Josef II. als Vorbild nennen gehört. Auf paternalistische Weise lautet nun das Motto: Alles für das Volk (oder was wir darunter eben verstehen), aber nichts durch das Volk. Es ist kein Zufall, dass einige der erfolgreichsten Beamten in Brüssel ehemalige (?) Maoisten sind.
Sie übersahen dabei nur eines: Ihre Wähler-Basis begann zu erodieren.
Denn die „frei“ gewordenen und immer stärker verunsicherten Unterschichten begannen zu murren und suchten sich einen anderen politischen Repräsentanten. Diese Obere Mittelschicht-Sozialdemokratie, diese Mischung aus Yuppies mit den ihnen so wichtigen sexuellen Orientierung, und der Elite-Interessen mit ständigen Kaufkraft-Verlusten und ihrer Botschaft der Disziplinierung war dieser Repräsentant jedenfalls nicht.
Aber die Repräsentation ist, bei aller Neigung zur direkten Partizipation, nun einmal das Grundprinzip moderner Politik. Großgesellschaft bedarf unabdingbar der Stellvertretung mit ihren beiden Charakteristiken: dass Interessen und Identitäten auf der politischen Ebene vertreten sind; und dass dies eine Stellvertretung ist. Politik ist für den übergroßen Teil der Bevölkerung keine erwünschte Lebenswelt, wie es für viele Intellektuellen ist. Es war einer der gröbsten Fehler der Studentenbewegung, den Wert des Privaten für fast alle Menschen nicht zu erkennen. Zum Privaten aber gehört eine möglichst gesicherte Lebensplanung.
Noch einmal Streeck. Er meint: Die „Toleranz für die Ungewissheiten des Marktes“ habe sich „deutlich erhöht“. Ich halte dies für ein schweres Fehlurteil. Als das soziale roll back begann, wussten die Menschen eine Zeitlang nicht recht, wie sie sich wehren sollten. Sie begannen aber sehr schnell, ihrem Unmut Ausdruck zu geben. Sie wandten sich von den etablierten Parteien ab. Dieses „De-Aligning“, wie akademische Politikwissenschaft schwadroniert, war kein Automatismus.
Die Stunde des Populismus schlug.
Da die angebliche „Linke“ – in Frankreich nennt sich heute noch der Rest der zusammen gebrochenen SP „Neue Linke“ – so eklatant „versagte“, nämlich die Gegenseite bediente, wandten sich die Unterschichten nach Rechts, zumal ihnen die Intellektuellen-Kultur der Linksliberalen sowieso eher fremd waren.
Die Erfolge des Rechts-Populismus, wie immer sich die Parteien nennen, FPÖ, AfD, FN, …, kommen im Wesentlichen aus dem diffusen Protest der Bevölkerung gegen die neoliberale Politik und ihr Programm der fundamentalen, existenziellen Verunsicherung. Denn noch ist der reale Leistungsabbau in einzelnen Ländern wie Österreich nicht besonders weit fortgeschritten. In Österreich steigt sogar die „Sozialquote“ noch etwas, obwohl man dem wenig Beachtung schenken muss, weil die „Sozialquote“ unsinnig definiert ist.
Aber das Programm der existenziellen Verunsicherung ist der Grundbaustein der neoliberalen Strategie. Die will nämlich durchsetzen: Ihr müsst diszipliniert unseren Wünschen nachkommen. Dann könnt ihr auch überleben. Anderenfalls stoßen wir Euch in den Orkus der sozialen Verachtung, in die Kategorie der prekären Wirklichkeit.
Populismus lässt sich auf einen kurzen Nenner bringen: Er nimmt die Sorgen der Bevölkerung auf und stellt richtige Fragen. Aber er gibt Antworten, die völlig ungeeignet und meist kontraproduktiv sind. Also: Die Arbeitnehmer-Vertretung ist wenig kämpferisch. Die typisch populistische FP-Folgerung lautet: Schaffen wir die AK ganz ab, und schwächen wir die Arbeitnehmer noch mehr. Usf.
Sprechen wir vom Populismus, so müssen wir, wie in der Politik immer, beide Seiten des Ablaufs betrachten: das rechts-populistische Anbot der entsprechenden Parteien; und die Haltung der Bevölkerung.
Beim Anbot brauchen wir nicht lange zu verweilen. Die Haider-FPÖ hat 2000 – 2007 gezeigt, wozu sie gut war: Sie hat den härtesten Neoliberalen und deren politischen Repräsentanten, den Schüssel und Bartenstein etc., die Möglichkeit zu ihrer Politik eröffnet. Selbst waren die FPÖler zu unfähig, jenseits von Korruption irgendetwas zu bewirken. Die Strache-FPÖ schlägt eben denselben Pfad ein und bereitet sich auf dieselbe Karriere vor. Da ist es ziemlich belanglos, ob der Häuptling selbst Kanzler wird oder aber sein jüngerer Abklatsch namens Kurz. Die AfD hatte noch nicht die Möglichkeit zu einer solchen Politik, auch der FN nicht.
Und die Bevölkerung? Ist die starke Protesthaltung der erste Schritt zu einem System-Protest?
Die Antwort fällt höchst zwiespältig aus. Der unmittelbare, der größte Wunsch einer Mehrheit in der Bevölkerung dürfte sein: Zurück in die gute alte Zeit des Nachkriegs-Arrangements mit seinem stetigen Wachstum im Wohlstand und seinen fiktiven Sicherheiten in der Lebensführung. Aber dieses Anbot führen die ökonomischen und politischen Eliten nicht mehr. Ihr klares Programm heißt: Disziplinierung – Bescheidung! Dann sichern wir Euch auch ein Überleben, auf niedrigem Niveau natürlich.
Der Populismus ist auch für eine linke, eine emanzipatorische Orientierung problematisch. Wir dürfen zwar nicht in den Chor jener einstimmen, für welche der Populismus eine Gefahr für ihre Privilegien und ihre Bequemlichkeit ist. Ihr Geschimpfe erinnert nur zu sehr an die giftigen Attacken auf die „Demagogen“ seitens der Feinde der Demokratie in früheren Zeiten.
Ich halte es aber auch für einen politischen Irrtum, auf die Strategie einer „links-populistischen Bewegung“ zu setzen. Es ist richtig: Man muss die Menschen dort ansprechen, wo sie stehen. Und allein das Wort „Populismus“ beinhaltet mittlerweile die ganze Arroganz bürgerlicher Intellektueller, jener „platonischen“ Schicht, welche allen Anderen ihre Kultur aufzwingen wollen. Der Irrtum besteht jedoch darin, die völlig legitimen Anliegen der Bevölkerung, den Wunsch nach einer Absicherung des Lebens auf angemessenem Niveau, mit dem aktuellen Ausdruck der Unzufriedenheit zu verwechseln. Dieser Ausdruck ist meist eindeutig: Uns soll es gut gehen. Alle Anderen mögen bleiben, wo sie wollen. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bringe den Ansätzen des Links-Populismus viel Sympathie entgegen. Aber das ist keine Strategie. (Lenin würde sagen: Das ist „Chwostismus“, Nachtrab-Politik.) Rebellisches Aufbegehren ist ein Anfang. Eine Strategie der langen Dauer ist doch wieder eine intellektuelle Angelegenheit. Diesem Widerspruch müssen wir uns stellen.
Eine linke Strategie kann sich nicht gegen solche Bewegungen wenden, schon deswegen nicht, weil sie wirkliche Bedürfnisse der Bevölkerung widerspiegeln. Aber sie wird die ganz engen Grenzen eines solchen Anfangs immer mitdenken müssen. Ich vermute, dass wir uns mit der Rolle als politische Minderheit auf Dauer zufrieden geben müssen. Aber diese Minderheit hat sich ihre Aufgaben und Ziele zu definieren. Die werden, je nach Können, Temperament und Alter, in der Beobachtung, in der Analyse, im besseren oder wichtigeren Fall aber im Setzen von Impulsen, im Vorgeben von Themen, im Antreiben von Aktionen bestehen müssen.
Albert F. Reiterer, 2. Juli 2017
Streeck, Wolfgang (2013), Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt / M.: Suhrkamp.