Politische Ideen oppositioneller Minderheiten haben fast immer einen radikalen Kern, da nicht vom pragmatischen Druck der unmittelbaren Umsetzbarkeit belastet. Sie sind vom Hauch der Utopie getragen, wie Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“ darstellte.
Der Unabhängigkeits-Nationalismus im spanischen Staat, am prominentesten im Baskenland, ist dementsprechend eine radikale Geschichte des (bewaffneten) Kampfes für den Bruch mit dem Status Quo. Die faschistische Unterdrückung durch Franco und der globale Kontext der antikolonialen Bewegungen gab ihm seit den sechziger Jahren eine zunehmen linksradikale Ausrichtung der Verbindung von Unabhängigkeit und Sozialismus. Auch die Republik nach Franco demokratisierte das Verhältnis des Madrider Zentrums zu den Völkern im spanischen Staat völlig unzureichend und blieb, vor allem im Baskenland, durch Gewalt geprägt (GAL-Paramilitarismus).
Ein durchgehendes Markenzeichen der radikalen Unabhängigkeitsbewegungen war ihre Opposition gegen den kompromisslerischen Autonomismus der bürgerlichen Eliten ihrer „Nationen ohne Staat“: die PNV im Baskenland und die CiU in Katalonien waren nie interessiert, das Erdbeben zu riskieren, das ein Bruch mit Madrid bedeutet hätte; sie lebten gut von den Autonomiestatuten, die ihnen genügend Hoheit über Steuermittel gaben, um einen breiten klientelistischen Apparat zu füttern und hatten den Konsens der regionalen Bourgeoisien, die ökonomisch eng in den Gesamtstaat eingebunden waren. So vertraten die Unabhängigkeitsbewegungen nicht nur politisch ein radikales oppositionelles Projekt; der gute Schuss an Antikapitalismus entsprach ihrer sozialen Basis in den Unter- und unteren Mittelschichten.
Nun ist heute mit Katalonien, das die Basken seit dem Unabhängigkeitskurs seiner Regionalregierung an der Vorfront der „Problemnationen“ im spanischen Staat abgelöst hat, (fast) alles anders geworden. Konstant bleibt nur die Unnachgiebigkeit des spanischen Zentralstaats unter Mariano Rajoy‘s Volkspartei (PP, Partido Popular). Treu ihrer Tradition (Franco blickt ja immer noch von der Wand so manchen Parteibüros) pochen sie angesichts des bevorstehenden Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober kompromisslos auf die Einheit Spaniens, die notfalls von den Streitkräften zu sichern ist. Doch auf Seiten der katalanischen politischen Kräfte hat sich einiges verändert, seit Artur Mas 2004 den Alt-Vorsitzenden der Autonomisten und langjährigen Regierungschef Jordi Pujol abgelöst hat und ab 2010 eine nationalistisch orientierte Regionalregierung anführt.
Was waren die Gründe, dass die katalanischen Autonomisten der CDC (Demokratische Konvergenz Kataloniens, bei den Wahlen immer unter dem Namen Convergència i Unió, CiU, als Koalition angetreten; seit 2016 PDeCAT – Katalanische Europäische Demokratische Partei) – langjährige Mehrheitsbeschaffer im Madrider Parlamente sowohl für PP als auch PSEO-geführte Regierungen – auf den Konfrontationskurs des „Rechts zu entscheiden“ („Derecho a decidir“ als Synonym des Rechts auf Selbstbestimmung) umschwenkten?
Für die katalanische Bourgeoise war und ist der spanische Staat fraglos ein zentraler Markt: während die innerspanische Handelsbilanz für Katalonien ein großes Plus aufweist, so ist sie mit der Summe der Länder außerhalb Spaniens negativ. Dennoch fiel die Bedeutung des spanischen Marktes, vor allem seit der Wirtschaftskrise und dem Platzen der Immobilienblase, ab 2008 als Abnehmer für katalanische Exporte zunehmend unter die außerspanischen Abnehmer und liegt derzeit bei nur mehr etwa 40% zu 60%. Hier liegt offenbar ein Faktor, der Teile der wirtschaftlichen Elite für ein Unabhängigkeitsprojekt offener gemacht hat.
Dazu kam, dass die politisch-sozialen Momente der Krise, mit den Indignados auch auf den Plätzen Kataloniens, das regierende Establishment in allen Teilen Spaniens unter Druck setzte. Es drängte sich für die katalanische Regierung unter Artur Mas auf, den Finanzausgleich mit Spanien als externen Zwang für den Sozialabbau auszumachen. Zumal die mit der Wirtschaftskrise verknappten Staatsfinanzen die Fähigkeit der Autonomisten untergruben, ihren Klientelapparat zu alimentieren. Damit lag auch für die politische Elite Kataloniens ein Motiv vor, mit dem Unabhängigkeitsprojekt zu liebäugeln. Unterstrichen sei hier, dass die katalanischen CDC-Abgeordneten im Madrider Parlament 2011 allesamt für die EU-diktierte Schuldenbremse in der spanischen Verfassung stimmten (Reform des Artikels 135; Priorität der Schuldenbegleichung vor allen anderen Staatsausgaben). Um den Herren in Brüssel und Berlin zu gefallen, stimmte man so ohne mit der Wimper zu zucken für eine verstärkte Zentralisierung des spanischen Staates, denn die Schuldenbremse beinhaltet auch das Recht Madrids leichter in die Autonomiehaushalte einzugreifen, die einen wesentlichen Brocken in der Staatsverschuldung ausmachen!
Des Weiteren hoffte die CDC-Elite möglicherweise durch das Unabhängigkeitsprojekt den eigenen Niedergang aufzuhalten. Erschüttert durch Korruptionsskandale um illegale Parteifinanzierung und den allgemeinen sozialen Unmut der Bevölkerung verlor man zunehmend Stimmen an die Mittelinksnationalisten der ERC (Republikanische Linke Kataloniens). Mit den Wahlen zum Regionalparlament 2015 wurden dann noch die radikal-linken Unabhängigkeitsbefürworter der CUP mit 10 Mandaten zum Zünglein an der Waage. Die Hoffnung, mit dem Bündnis „Junts pel Sí“ (Zusammen für das Ja) die politischen Konkurrenten in einer breiten Koalition für das Unabhängigkeitsreferendum einzukaufen und die alte CDC-Eliten darin zu sanieren geht aber sichtlich nicht auf. Die CDC (bzw. PDeCAT) liegt nach einer Umfrage vom Juni 2017 mit nur mehr 9 % der Wahlintention klar hinter der ERC (30 %) an sechster Stelle nur wenig vor der CUP (derzeit bei 6 %).
Zuletzt sei jedoch noch einmal betont: ein gewichtiger Grund für die Dynamik in Richtung Unabhängigkeit ist die Unnachgiebigkeit der PP in Madrid. 2010 wurden über das Verfassungsgericht 14 Artikel des 2006 reformierten Autonomiestatus als verfassungswidrig erklärt. Das heizte zusammen mit der ausbrechenden sozialen Krise die Rebellion in Katalonien an und brachte den Unabhängigkeitsbefürwortern 2011 erstmals eine Umfragen-Mehrheit. Der Sieg in dem bindenden Referendum am 1. Oktober ist dennoch zweifelhalt: von einem Höhepunkt der Ja-Stimmung mit einer Mehrheit von 47,7% zu 42,2% im Juni 2016 liegt das Nein nun seit Monaten voran, derzeit mit etwa 8 Prozentpunkten.
Die Unabhängigkeitsfrage Kataloniens ist heute keine abstrakte Idee einer radikalen Minderheit, sie muss sich am 1. Oktober konkret beweisen. Welche Szenarien sind denkbar? Eine Prognose ist nicht ganz einfach. Klar ist, dass die Polarisierung äußerst groß ist und keine der beiden Seiten, weder Barcelona noch Madrid, einen Rückzieher machen kann. Das Säbelrasseln der Madrider Gerichte und der Guardia Civil wird bis zum Referendum weitergehen (siehe Nachtrag am Ende des Artikels). Klar ist auch, dass sich die lächerliche Hoffnung der katalanischen Eliten, dass ihnen die EU entgegenkomme, nicht erfüllt. Puigdemont ist bei allen seinen Versuchen vor EU-Institutionen und Regierungen abgeblitzt. Die jüngste Argumentation spricht neuerlich Bände über die katalanischen Unabhängigkeits“kämpfer“: die Entscheidungskompetenzen in territorialen Fragen liege nicht beim spanischen Verfassungsgericht sondern beim Europäischen Gerichtshof und dieser habe daher in der Referendumsfrage zu entscheiden! Dementsprechend sind weniger als zwei Wochen vor der Abstimmung die Kräfteverhältnisse eindeutig zugunsten Madrids, das wiederum ganz im Sinne der PP-Tradition alles daran setzt, das Bild des „Völkergefängnisses Spanien“ unter den Katalanen zu festigen. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als notwendig, das demokratische Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes zu betonen und das Recht der Katalanen auf eine freie und ungehinderte Abstimmung im Referendum, deren Resultat zu akzeptieren ist, zu verteidigen.
Aber es stellt sich unweigerlich auch die Frage des „danach“, wie auch immer das Referendum enden wird. Denn nach dem 1. Oktober muss es zu einer Normalisierung kommen, wenn diese auch angesichts der Polarisierung noch so schwierig wird. Gewinnen die Unabhängigkeitsbefürworter, was derzeit weniger wahrscheinlich scheint, fällt wohl die Madrider Regierung. Die PP wird keine militärische Lösung durchsetzen und die gesamte katalanische Regierung verhaften können. Dementsprechend würde die tiefe territoriale Krise ihr mit aller Wahrscheinlichkeit den Kopf kosten und das nächste Misstrauensvotum im spanischen Parlament dann zugunsten der Opposition ausgehen. Wahrscheinlicher ist freilich, dass das Nein gewinnt und damit die katalanische Regierung fällt. Tendenziell ist daraus eine Neuwahlkonstellation zu erwarten, in der trotzdem das Lager der linken pro-katalanischen Kräfte gewinnt (ERC, Catalunya Sí que es Pot) und auch die PSC (Sozialisten) zulegen, während die PDeCAT (ex-CDC) vernichtet wird und wohl auch die CUP an Konsens verliert (und sich intern der bündnisfeindliche sozialradikale gegen den bündnisbereiteren Unabhängigkeitsflügel durchsetzt).
Nach dem 1. Oktober gilt es in jedem Fall die Frage der „Souveränität Kataloniens“ neu aufzurollen. Die Idee der katalanischen Bourgeoise und politischen Elite, in Europa als ein neuer unabhängiger Staat aufgenommen zu werden, wird vernichtet sein wie eine kurze historische Anomalie in der katalanischen Geschichte: Im europäischen Establishment sind die Kräfte dafür zu schwach, zu groß die Angst vor den absehbaren Erschütterungen (Baskenland, Schottland, etc.). Und das katalanische Establishment wird sehr schnell seinen Übermut ablegen und von der Straße heim in die vertrauten Verhandlungssäle kommen. Hinter verschlossenen Türen einigt man sich schon, wenn der Pöbel einmal demobilisiert ist. Die unteren und Mittelschichten werden dann hoffentlich vom schädlichen Fiebertraum geheilt sein, dass denn nationale Selbstbestimmung und soziale Emanzipation durch das neoliberale Fiskalpakt-Gefängnis Europa erreicht werden könne.
Als konkrete Option bleibt die Neukonstitution Spaniens als plurinationaler Staat übrig. Diese Idee war über Jahrzehnte eine abstrakte Phrase der „españolistischen“ Linken gegen die baskische und katalanische Unabhängigkeitsbewegung. Die wirtschaftlich-soziale Krise hat in Spanien jedoch eine ungelöste Regimekrise des traditionellen Herrschaftsmodells (Bipartidismus mit PP und PSOE als Trägern) ausgelöst, deren Kernelementen der Aufstieg von Podemos als dritte Kraft und der Ausbruch der territorialen Konflikte sind. In diesem Kontext ist die Idee der Neukonstituierung des Staates real und potentiell mehrheitsfähig geworden. Eine soziale und demokratische Neukonstituierung, die das Selbstbestimmungsrecht anerkennt und im Dialog ein neues föderales Modell definiert, das den Konsens der Katalanen, Basken und anderen Völker Spaniens finden kann. Und zur Mehrheitsfähigkeit braucht es neben den nationalen Rechten in jedem Fall auch die ökonomischen Souveränitätsrechte, um die Sicherheit sozialer Zukunftsaussichten für die große Masse an Krisenopfern garantieren zu können. Das wäre ja dann durchaus eine Kontinuität der linken Unabhängigkeitstradition der Völker im spanischen Staat: nationale und soziale Befreiung gehören zusammen.
Gernot Bodner, Wien 19. September 2017
Nachtrag vom 20.9. 2017: Die Guardia Civil ließ heute 16 Regierungsmitarbeiter verhaften und durchsuchte Büros der Regionalregierung nach Stimmzettel für das Referendum. Madrid setzt offenbar darauf, das Referendum mit Gewalt zu verhindern. Die anti-demokratische Eskalation durch Rajoy ist ein durchaus mögliches Szenario, das aber den territorialen Aspekt der Krise des spanischen Regimes nur prolongiert und zeigt, dass das spanische Establishment keine konsistente Antwort hat, wie es eine Stabilisierung/Restauration schaffen kann. Eine Verhinderung des Referendums und der logische Trend zum Straßenprotest würde in Katalonien die radikaleren Kräfte (ERC, CUP; aber auch Podemos) stärken, die aber ohnedies die CDC schon überholt haben. Es würde wohl auch verstärkt auf das Baskenland ausstrahlen und damit die territoriale Auseinandersetzung in die nächste Runde tragen.