Interview mit Leonardo Mazzei, Exponent der „Patriotischen Linken“ und langjähriges Führungsmitglied von Rifondazione Comunista in der Toskana
von Wilhelm Langthaler
[Bild: Der Spiegel vom 27.1018, Kampfblatt des EU-Regimes]
Die EU-Kommission hat den italienischen Budgetentwurf als „präzedenzlose Abweichung “ vom „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ zurückgewiesen. Warum diese Härte?
Die “präzedenzlose Abweichung” ist eine offensichtliche Übertreibung. In den vergangenen vierzig Jahren gab es nur vier Jahre, in denen das Verhältnis Defizit/BIP unter 2,4% lag, so wie es die Regierung für 2019 vorgesehen hat. Die Ablehnung durch die EU-Kommission lässt sich nur politisch erklären. Man will gegen eine Regierung hart vorgehen, die zwar keinen entscheidenden Schwenk hin zu einer expansiven Politik verfolgt (wie es notwendig wäre), aber die zumindest die Richtung in Bezug auf die Austerität umdreht.
Die Regierung scheint auch ihrerseits hart zu bleiben. Ist eine Eskalation unvermeidlich?
Die Regierungsmehrheit kann sich keinen Rückzug erlauben. Das wäre ein politisches Desaster. Sie versucht konkrete Maßnahmen zu setzen – Verbesserung der Pensionen, Transfereinkommen für die ärmsten Schichten, Steuersenkungen – und dabei einen Frontalzusammenstoß mit der EU zu vermeiden. Aber diese Suche nach einem Kompromiss wurde in Brüssel nicht aufgenommen, im Gegenteil. Die Eskalation ist daher ein wahrscheinliches Szenario.
Bleibt nicht trotzdem noch Raum für einen Kompromiss? Premier Conte meinte, man könne einige kostspielige Ausgaben auf später verschieben. Ein paar Promille auf oder ab macht doch keinen großen Unterschied.
Theoretisch müsste ein Kompromiss immer möglich sein. Praktisch gesehen halte ich ihn für schwierig. Vor allem wenn das Haushaltsjahr einmal zu laufen beginnt, wird es gänzlich unrealistisch. Wenn das Budget so wie von der Regierung vorgeschlagen (der Text wurde noch nicht ans Parlament weitergeleitet) beschlossen wird, sehe ich nicht, wie die Regeln bezüglich Pensionen und Grundeinkommen nachträglich verändert werden könnten. Sicher, man kann an den Steuereinnahmen immer drehen, zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöhen, aber das ist sowohl für die Fünfsterne und noch mehr für die Lega ein unantastbares Tabu.
Könnte die italienische Position nicht auch ein Bluff sein um Zugeständnisse zu erwirken, so wie es damals Tsipras versuchte?
Es gibt in der Regierung sicher Kräfte, die in diese Richtung arbeiten. Und nicht nur die Leute von Präsident Mattarella, sondern auch Komponenten der zwei Regierungsparteien. Aber gegenwärtig handelt es sich um Minderheiten. Der wahre Einsatz sind nicht die Stellen hinter dem Komma der Defizitzahlen, sondern wer in Italien das Sagen hat: die Regierung, die die Mehrheit der Stimmen und Sitze hinter sich hat, oder die EU-Kommission mittels ihrer Diktate? Das wirkliche Thema ist die Souveränität. Deswegen erachte ich Ende à la Tsipras für wenig wahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte in diesem Kontext nur sehr vorübergehend sein.
Gibt es Anzeichen, dass die Regierung mit der Kündigung des Fiskalvertrags droht?
Formal nicht, aber es ist offensichtlich, dass genau das am Spiel steht. Außerdem weiß jeder, dass der Fiskalpakt, so wie er ist, unanwendbar ist.
Viele meinen, dass das Kabinett Conte auf einen harten Konflikt nicht vorbereitet ist. Was denken Sie?
Natürlich hat diese Regierung unzählige Schwächen, objektive und subjektive. Die subjektiven sind Ausdruck der Natur der populistischen Kräfte und ihrer inneren Widersprüche. Die objektiven leiten sich vom Faktum ab, dass die systemischen Kräfte, die der EU dienen, die entscheidenden Schalthebeln der Macht noch in der Hand halten: das Präsidentenamt, die Nationalbank, das Wirtschaftsministerium, praktisch die Gesamtheit des technokratischen Apparates (die Ministerien und nicht nur die), die Presse und die Medien in der überwiegenden Mehrzahl. Ein Problem der gegenwärtigen Regierungsmannschaft ist, dass sie zu viele Illusionen hat, sei es zum möglichen Wirtschaftswachstum oder zum Ausgang der kommenden EU-Wahlen. Illusionen, die zu einer gewissen Unterschätzung der konkreten Effekte der Brüsseler Kriegserklärung verleiten. Es scheint in diesem Rahmen unmöglich den Zusammenstoß durchzustehen. Aber sie hätten eine Waffe, auf die sie bisher noch nicht zurückgegriffen haben, nämlich die Mobilisierung des Volkes. Wenn der Konflikt eskaliert, kann er sich nicht nur auf die Paläste der Macht beschränken – und wenn doch, wäre die Niederlage ausgemachte Sache.
Die entscheidende Waffe der EU ist die EZB und die Kontrolle über das Geld. Weiß die Regierung sich zu verteidigen?
Wir sind nicht an der Regierung und man kann dazu keine sichere Aussage machen. Es ist klar, wenn wir wirklich zu diesen Punkt kommen würden, wäre die erste Antwort die Ausgabe einer Parallelwährung für den internen Zahlungsverkehr – eine ihrer Natur nach vorübergehende, aber trotzdem unausweichliche Maßnahme. Es zirkulieren einige Vorschläge in diese Richtung, unter anderen die Mini-Bot, die den Volkswirten der Lega sehr wichtig sind. Nachdem sie bei der Regierungsbildung so ausschweifend darüber schwadroniert haben, herrscht nun irreale Stille: der Terror des Spreads hat die Münder zugenäht. Aber alle wissen, wie die Dinge stehen und in der Regierung gibt es diesbezüglich sicher gewisse Kompetenzen. Die Frage ist nur, ob sie den politischen Mut aufbringen werden, jene Phase einzuleiten, die das Ende des Euros einläuten wird, zumindest in Italien.
Wie unabhängig ist die Banca d‘Italia von der Regierung? Wer ernennt die Zentralbank-Führung?
Wie immer wieder erklärt, ist das Prinzip der sogenannten Unabhängigkeit der Nationalbank ein zentraler Bestandteil der Ideologie und Politik des Neoliberalismus. In Italien wird dieses Prinzip seit 1981 angewandt, als es zur Scheidung zwischen Banca d’Italia und Finanzministerium kam. Hier begann der Boom des Staatsdefizits, das so in die Hände der globalen Finanzmärkte gelegt wurde. Heute schreibt das Statut der EZB den nationalen Zentralbanken vor, dass sie keinen politischen Anweisungen von staatlichen Organen Folge leisten dürfen. Der Vorstand der Nationalbank aus 13 Mitgliedern wird von den Anteilseignern gewählt, also Banken und Versicherungen mit Sitz in Italien. Dieser Vorstand kann seine Meinung zur Nominierung des Gouverneurs ausdrücken, der vom Präsidenten des Ministerrats [Regierungschef] vorgeschlagen und vom Staatspräsidenten bestimmt wird.
Gefährdet der drohende “Terror des Spreads” die breite Unterstützung der Regierung im Volk?
Die Gewalt der Waffe des Spreads ist sehr groß, vor allem entfaltet sich seine Wirkung durch die exzessive Verwendung in den Medien. Das zu unterschätzen wäre ein schwerer Fehler. Tatsächlich handelt es sich um das einzige Werkzeug in der Hand der Eliten, das geeignet ist, die Unterstützung der Regierung durch das Volk zu untergraben. Dennoch, wenn man täglich die Katastrophe herbeischreibt und diese nicht eintritt – wie es beispielsweise 2011 der Fall war –, verbreitet sich die Wahrheit über die politische Nutzung des Spreads. Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Wenn in Brüssel und Frankfurt entschieden wird den Spread einzusetzen, dann bedarf es schneller und entschiedener Maßnahmen, um den sozialen Block, der die Regierung trägt, zusammenzuhalten.
Welche legal-technische Form könnte ein Euro-Austritt annehmen? Welche Schritte wären formal notwendig? Kann Mattarella das verhindern?
Dazu gebe es viel zu sagen, doch ist klar, dass, wenn die EZB die Liquiditätsversorgung zudreht, wenn die Banken durch die Entwertung der Staatspapiere und die Regularien der Bankenunion an den Rand des Abgrunds gedrängt werden, ein Ausnahmezustand eintritt. Theoretisch könnte der Austritt mit der Eurozone abgesprochen werden, doch praktisch ist das kaum möglich. In einer solchen Ausnahmesituation kann niemand Italien daran hindern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um seine Wirtschaft zu sichern, unter diesen die Einführung einer Parallelwährung und die Verstaatlichung des Bankensystems. Alles Dinge, die für die EU inakzeptabel sind. An diesem Punkt wird nichts anderes bleiben, als den Austritt aus dem Euro zu formalisieren. Und was Mattarella betrifft, so kann er tatsächlich die Unterschrift unter diese Rechtsakte verweigern. Doch das würde einen fast unlösbaren Machtkampf mit dem Parlament hervorrufen. Im entscheidenden Moment – wie man auch bei der Krise im Zuge der Regierungsbildung Ende Mai gesehen hat – muss eine Seite nachgeben, diesmal jedoch ohne die Möglichkeit eines Kompromisses.
Wie läuft in Italien die Auktion von Staatsanleihen ab?
Für die Auktionen gibt es diverse Modalitäten. Für die wichtigsten Titel, also Langläufer von mehr als einem Jahr (vor allem BTPs), gilt ein absurdes System, das die Käufer bevorzugt. Der Preis (d.h. der Zinssatz) wird durch das tiefste, also für den Staat ungünstigste Angebot bestimmt. Dieser Modus erlaubt den Banken Absprachen und unterscheidet sich von den anderen europäischen Ländern und auch von Deutschland. Es ist die Konsequenz der europäischen und nationalen Normen, die der Banca d’Italia verbieten, die Schulden zu monetisieren und als Käufer letzter Instanz zu fungieren.
Ist es denkbar, dass Italien aus dem Euro austritt aber in der EU bleibt?
Juristisch gesehen wäre das möglich, politisch hat das aber keinen Sinn. Das umso mehr, als ein solcher Bruch alle Sicherheiten über die Zukunft der Union zerstören würde. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten suchen muss. Aber alles zu seiner Zeit.
Sie haben immer von einer Drei-Parteien-Koalition gesprochen. Welche politische Form könnte ein Austritt annehmen, wenn man bedenkt, dass diese dritte Partei auch in den Koalitionsparteien selbst vertreten ist?
Hier stoßen wir ins Reich des Unbekannten vor. Allgemein gesprochen haben wir für einen solchen Bruch nicht die geeignetste Regierung. Es ist klar, dass die philo-europäische Mattarella-Gruppe nicht an ihrem Platz bleiben kann, wenn der Moment der Entscheidung da ist. Auf der anderen Seite sieht man am Brexit, wie historische Prozesse widersprüchlich verlaufen können, manchmal sogar den Fähigkeiten und Wünschen der Handelnden zum Trotz, die sogar die Rolle der Protagonisten spielen. Wir halten eine Art neues CLN (Komitee der Nationalen Befreiung), das die politische Führung des Widerstands gegen den Nazi-Faschismus innehatte, für notwendig. Ein Bündnis, sei es auch nur temporär, das alle demokratischen Kräfte, die von der Notwendigkeit der Befreiung unseres Landes vom Euro-Regime überzeugt sind, vereinigt.
Sie sind von der „Patriotischen Linken“. Welche Rolle könnte diese spielen?
Leider hat der Großteil der linken Kräfte die Frage der nationalen Souveränität aufgegeben. So wurde das Feld einem Rechtspopulismus (der Lega) sowie einem im Kern linken aber oft konfusen Populismus (Fünfsterne) überlassen. Glücklicherweise beginnt sich in gewissen linken Milieus endlich ein linker Patriotismus, der dem nationalistischen Chauvinismus entgegengesetzt ist, Bahn zu brechen. Aber das reicht noch nicht und die Zeit drängt. Die Stärkung der Patriotischen Linken und seine Positionierung auf Seiten der Populisten ist der einzige Weg, dass der Prozess des Bruchs mit der EU unter demokratischen Vorzeichen und zugunsten der Mehrheit und insbesondere der unteren Schichten der Bevölkerung verläuft. Das populistische Regierungsbündnis ist nicht ehern, sondern muss auf den Druck von unten reagieren. Der soziale Block, der es unterstützt, ist der Unsere: vereinfacht gesagt, jene, die von der Krise am meisten betroffen sind. Es gibt unzählige Schwierigkeiten aber es gibt keinen anderen Weg für eine Linke, die sich des historischen Einsatzes bewusst ist.
Das Interview erschien zuerst in leicht gekürzter Form auf makroskop.eu