Theresa May wird für die Herrschenden langsam untragbar. Sie war im Abstimmungskampf gegen den Austritt Großbritanniens aus der EU gewesen. Sie ist ganz offenkundig nicht ausgesprochen smart. Also bot sie sich nach Camerons Rücktritt als ideale Kandidatin der alten Eliten für den Job der Ersten Ministerin an. In dieser Partei, den britischen Konservativen, sind es diese Eliten, die ziemlich unverhüllt entscheiden. Ein wenig verkompliziert wird dies, weil inzwischen auch die Konservativen, nach dem Muster von Labour, Urabstimmungen eingeführt haben. Aber das konservative Fußvolk war stets sehr reaktionär. Da brauchen sich die Eliten wenig Sorgen zu machen. Aber danach erwies sie sich in einer Art als unfähig, die sie zunehmend zu einer Belastung für ihre Auftraggeber machen.
Sie hat offenbar das britische Wahlrecht nicht verstanden. Sie brach eine Wahl vom Zaun, wo sie zwar Stimmen gewann, aber ihre Mehrheit verlor. Sie versucht zwar, den Brexit zu sabotieren, aber sie macht dies in einer himmelschreiend patscherten Manier. Die EU-Bürokratie tat das Ihre dazu, indem sie die Unfähigkeit der May bis ins Letzte ausnutzten. Für Feinheiten wie eine Rücksichtnahme auf die Stimmungen von Wählern oder gar des Parteivolks haben die Herrschaften in Brüssel, aber auch in Berlin kein Sensorium. Ergebnis war ein Vertrag, der für das Vereinigte Königreich und seine Bevölkerung noch schlimmer ist als eine weitere Mitgliedschaft in der EU. Das Tüpferl auf dem i ist der backstop. Damit würde Großbritannien endgültig zur Kolonie. Das Land hätte nur mehr die Wahl, in völliger Abhängigkeit in der Zollunion zu bleiben oder aber jede Bedingung der EU zu akzeptieren – eine Art unconditional surrender, wie nach einem katastrophal verlorenen Krieg. Damit aber hatten May und die Brüsseler-Berliner Herrschaften den Bogen überspannt.
Aber May fuhr fort in ihren unsäglichen Manövern und fuhr eine Niederlage nach der anderen ein. Innerhalb der EU verspricht man solchen Leuten wie May gewöhnlich einen Job als Kommissarin in Brüssel. Das geht ja mit May nicht. Was hat man ihr eigentlich versprochen? Aber nun scheint es allen rundum zu reichen.
Das sagt noch nicht, dass das Spiel für die Brüsseler-Berliner und die britischen Finanz-Eliten schon endgültig verloren ist. Zum Zeitpunkt der Niederschrift gibt es May noch. Und das gibt uns noch eine Hoffnung. Denn May ist so unfähig, dass wir uns auf sie fast verlassen können. Sehen wir uns einige wenige Punkte an!
Man könnte fragen: Warum sollte Großbritannien nicht in der Zollunion bleiben? Der Freihandel zwischen hochentwickelten Wirtschaften ist ohnehin eine Selbstverständlichkeit, und Zölle spielen selbst an den Außengrenzen der EU keine große Rolle mehr. Aber die sogenannte Zollunion ist nichts Anderes, als die EU in ihrer vollen wirtschaftspolitischen Ausgestaltung. Hier wird entschieden, wie Produktion und Austausch vor sich gehen. Hier greift das gesamte Regelwerk, welches Brüssel-Berlin bisher aufgebaut hat. Die Zollunion ist die EU. Wenn das UK in der Zollunion bleibt, aber nicht in der EU, hat das Land nicht einmal mehr die Möglichkeit, besonders grausliche Regeln durch Veto zu verhindern. Aber das wollen die britischen Eliten sowieso nicht. Daher wollen sie um jeden Preis in der Zollunion bleiben.
Zu diesem Preis gehört eben auch der Verzicht auf Nordirland, das sonst so ein hoch symbolischer Einsatz für die Konservativen ist. Und dafür ist es schon wert, nicht nur die Legitimität, sondern sogar die Legalität über Bord gehen zu lassen.
Großbritannien hat bekanntlich keine geschriebene Verfassung. Aber es hat eine Reihe von Verfassungs-Grundsätzen, die ziemlich strikt eingehalten werden. Dazu gehört, dass nicht ewig über exakt denselben Antrag abgestimmt werden darf. Schon die zweite Abstimmung über den Austrittsvertrag war ein Verfassungsbruch. Aber gerade das ist ja das erprobte Verfahren der EU, das man schon öfters mit Erfolg angewandt hat. In unseren Medien, insbesondere im ORF wurde dieser Eingriff des Speakers daher als eine britische Marotte dargestellt, wo man ins 17. Jahrhundert ging, um eine vergessene Regel auszugraben. Es war ein Verfassungsbruch, welcher das parlamentarische britische System in Frage stellt.
Ich versuche gerade, den Machtantritt des italienischen Faschismus zu verstehen, nicht zuletzt an Hand von Texten von Palmiro Togliatti. Ich bin betroffen, wie sehr ich immer wieder an die Situation in Großbritannien heute erinnert werde. Die Manöver des rechtsliberalen Giolitti 1921/22, mit denen er dem Faschismus den Weg bereitete, und zwar absichtlich, erinnern akut an die Politik der Theresa May und ihrer Gefolgschaft.
Es ist natürlich verständlich, wenn die Eliten der EU und Großbritanniens alle Hebel in Bewegung setzen, dass der Brexit scheitern möge. Und sie haben ziemlich viel in der Hand. Wenn der Brexit ein Erfolg würde, ist das Imperium existenziell gefährdet. Immerhin gibt es in einer Reihe anderer Länder Exit-Bewegungen, sogar in solchen, wo Eliten und obere Mittelschichten Nutznießer einer EU-Mitgliedschaft sind.
Es gibt keinen sachlichen Grund, warum der „harte“ Brexit – welch unsägliches Wort – im Chaos ablaufen soll und nicht ziemlich reibungslos implementiert werden könnte. Wir haben eine Reihe von Beispielen, wo sogar in Nationalstaaten, die denn doch noch enger integriert sind als die EU, eine Trennung ganz manierlich vor sich ging und die Bevölkerung oft fast nicht mitbekam, dass da ein neuer Staat entstanden war – man denke etwa an die Trennung der Slowakei von Tschechien. Auch die Auflösung der Sowjetunion war solange nicht ein administratives Problem, solange nicht Kompradoren-Eliten verrückt zu spielen begannen. Das soll nicht heißen, dass man aus der Sicht der Bevölkerung diese Auflösung nicht als Riesenfehler sehen muss. Es geht hier nur darum, dass es ein rational durchgeführter Vorgang war.
Nun aber muss der Brexit in Chaos enden – sonst erweisen sich alle Propaganda-Lügen der EU und ihrer Anhänger in Großbritannien als Bumerang.
Eine Bemerkung noch zur Rolle von Labour. Corbyn hatte seinerzeit begriffen, dass eine Mehrheit der britischen Arbeiter den EU-Austritt will, und er selbst dürfte diese Haltung geteilt haben. Aber wie soll er das in dieser Partei durchsetzen, die von Blair und seinen Leuten gestaltet wurde, die sowieso seit je ein Muster von Opportunismus und von rechter Sozialdemokratie war? Labour war noch bis vor Kurzem eine Arbeiter-Partei, wenn auch der Arbeiter, wie sie Lenin seinerzeit als Arbeiter-Aristokratie beschrieben hat: Arbeiter also, die vom britischen Imperialismus einige Brosamen erhielten. Nun: 71 % der manuellen Arbeiter stimmten für den Brexit, 58 % der gering Verdienenden (unter 20.000 Pfund im Jahr), 75 % der schlecht Qualifizierten, Für die EU waren die Gutverdienenden (65 % der mit über 60.000 Pfund Jahreseinkommen), der Hochschul-Absolventen (73 %), aber auch 72 % derer, die gerade unter dem Einfluss der Regierungs-Propaganda im Erziehungssystem stehen (72 % der 18 – 25jährigen).
Mit der Haltung von Labour müsste also die Partei in Kürze zusammenbrechen, wie auch die sozialdemokratischen Parteien auf dem Kontinent. Für Corbyn als Person bleibt eigentlich nur die Hoffnung, dass der Brexit letztlich gut funktioniert. Denn sollte er das Unglück haben, jetzt an die Regierung zu kommen und das UK zurück in die EU zu führen, wäre das bald sein Ende und das Ende seiner Partei
AFR, 26. März 2019