Man zuckt zusammen, wenn man heute das Wort Reform hört. Seit einem guten Vierteljahr¬hundert heißt Reform nicht nur in Österreich immer eine politische Maßnahme zu Lasten der großen Mehrheit der Bevölkerung. Das wird mittlerweile von den Eliten auch mit Stolz gesagt: Eine Reform „muss weh tun!“ Aus einem Begriff, der einmal Vorteile für die Menschen versprach, wurde ein neoliberales und neokonservatives Grund-Vokabel. Früher hat sich die Sozialdemokratie mit Stolz als reformistische Partei bezeichnet. Ist sie dies auch heute noch unter nun geändertem Vorzeichen?
Nun also die Steuerreform der Regierung Kurz. Nachdem ich mit einiger Mühe versucht habe, Material zusammen zu tragen, verfestigt sich bei mir der Eindruck: Das Ganze ist ein riesiges und gut aufgezogenes Unternehmen der Regierungs-Propaganda, dessen Inhalt praktisch nicht vorhanden ist. Aber das ist nicht ganz richtig. Da gibt es durchaus eine politische Tendenz, einen Willen der konservativen, der reaktionären Politik, den wir heraus stellen müssen.
Lesen wir die Zeitungen, so sehen wir zuerst, wie gut es der Regierung gelingt, ihre Botschaft an die ihr geneigten Redaktionen zu bringen. Auch an die Leser? Ich würde vermuten: Ja. In allen Zeitungen, vom widerlichen „Österreich“ / Oe24 über die „Krone“ und den „Kurier“ („Und was habe ich davon?“ – 1. Mai 2019) bis zum „Standard“ findet man dieselben Tabellen: Wer in Hinkunft – ab 2021/22 – wie viel mehr bekommt. Die „Kurier“-Schlagzeile ist höchst typisch. Man schaut hin, sucht nach seiner eigenen Stellung. Wenn das nicht wirkt! Zum Vergleichen kommt man schon gar nicht mehr. Denn man hat schon die Haltung ver¬innerlicht: Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Wenigstens irgendwas wird man bekommen, wenn schon Löhne und Pensionen real nicht steigen …
Doch versuchen wir, ein wenig auch die Richtung zu ergründen! Der neue Präsident der Wirtschaftskammer, Harald Mahrer, gibt sich jedenfalls „höchst zufrieden“ (Krone, 1. Mai 2019). Kann er auch sein. Ihm hat die Regierung versprochen, die KöSt, die Gewinnsteuer, von 25 % auf 21 % zu senken. Das ist zwar bei weitem nicht soviel, wie es seinerzeit der Linke – so steht es immer noch in den Zeitungen – Lacina getan hat. Der hat sie von 50 % auf 25 % hal¬biert. Und verteidigt dies heute noch: Die Unternehmen könnten doch sonst 60 km weiter nach dem Osten ziehen und nach Bratislava gehen. Bloß sagt er nicht dazu, wer ihnen dies so leicht möglich gemacht hat. Sei dem wie immer: Die großen Unternehmer sollen 1,5 Mrd. bekommen. In der Agitprop-Abteilung des Finanzministeriums nennt man das „Investitionsanreize“. Dass schon derzeit die hohen Gewinne nicht investiert, sondern in die Spekulation gejagt werden, braucht ja niemand zu wissen. Dass jetzt schon ins Wirtschafts- und Steuer-System eine permanente Tendenz zur Depression durch hohe Gewinne eingebaut ist, darf nicht ins Bewusstsein steigen.-
Was ist nun mit der Einkommenssteuer? Wir müssen zurück zum Punkt 1: eine riesige Propaganda-Aktion. Und alle gehen mit, nicht nur die Zeitungen und der ORF. Auch dem Herrn Drozda, SPÖ, fällt nichts Besseres ein, als zu sagen: Was, nur 6,5 Mrd. Entlastung? Wir wollen mindestens 8 Milliarden! Aber wen wundert’s bei dem? Seine Hauptfunktion ist ja, den Sack zu bilden, weil man den Esel, diese „großartige Frau“, (noch) nicht schlagen darf.
Nehme irgendjemand das Wort „Steuerreform“ ernst, so sollte es klar sein: Es muss eine Struktur geändert werden. Die aber wird im bestehenden Sinn leicht verschärft. Das Alles läuft unter dem durchsichtigen Vorzeichen: Die „Abgabenquote“ muss gesenkt werden. Das ist eines der neokonservativen Hauptanliegen schlechthin. Und da sind wir beim ersten Punkt. Denn eine sinkende Abgabenquote bedeutet weniger Leistung. Die angeblichen so hohen Rationalisierungs-Reserven in der Verwaltung sind ein schlechter Witz. Was nicht heißt, dass nicht viele sinnvolle Organisations-Änderungen dringlich und überfällig werden, in dieser kopflastigen Bürokratie.
Die unteren Einkommen bekommen einige Brosamen, indem man die Sozialbversicherungs¬beiträge senkt. Lassen wir kurz die Fundamental-Tatsache beiseite, die Boris Lechthaler bei unserer Tagung in Linz so klar ausgedrückt hat: Die „Lohnnebenkosten“, und das sind erstrangig die Sozialversicherungs-Beiträge, sind Lohnbestandteile – es werden also die Brutto-Löhne gesenkt. Praktisch heißt das: Im Moment, in einer halbwegs laufenden Konjunktur, geht dies noch irgendwie an. Kommt die nächste Rezession, wird man schlicht erklären: Die Sozialversicherungen haben nicht genug Geld, und der Staat auch nicht. Wir müssen die Leistungen einschränken und die Pensionen senken. Aus der heute theoretisch klingenden Senkung der (Brutto-) Löhne wird dann ganz schnell ein sehr praktischer Abbau von Lebensstandard, eine Senkung der umfassenden Lebens-Verdienste. Aber auch hier arbeitet man mit dem Prinzip, wie ich es oben schon nannte: Zuerst verspricht man etwas, und setzt mit diesem Versprechen auf den Spatz in der Hand: Besser etwas heute als gar nichts.
Das aber, worauf es wirklich ankäme, die sogenannte „kalte Progression“, die bleibt. Und die trifft die Unterschichten und die Unteren Mittelschichten. Wer rutscht schon durch die Infla¬tion aus der Klasse von 89.000 € Jahres-Einkommen in jene von 90.000 bis 1 Million, also vom Grenzsteuersatz 48 % in jenen von 50%? Oder in jene über 1 Million (Grenzsteuersatz 55 %)? In dieser Kategorie findet man insgesamt ja nur 110 Ts. Leute. Aber von der Klasse 10.000 € in jene über 11.000 €, letztere bisher 25 % und ab 2022 20 % Grenzsteuer, wechseln potenziell sehr viele; oder von 17.500 in 18.000 (bisher 35 % und in drei Jahren 30 % Grenz¬steuer). In der Klasse bis 11.000, viele Pensionist/inn/en und Teilzeitbeschäftigte, findet man immerhin jetzt 2,6 Millionen Personen, in der nächsten Klasse bis 18.000 sind es 1,4 Millio¬nen, und in der nächsten 2 Millionen. In den Klassen, die tatsächlich betroffen sind vom Problem der Steuererhöhung durch Geldentwertung, stehen 6 Millionen Menschen, und damit 81 % jener, die überhaupt ein Einkommen beziehen.
Die Propaganda-Aktion läuft unter dem Titel: WIR werden entlastet. Wie ja auch die Pensions-Debatte heißt: Wir gehen zu früh in Pension. Obwohl es kaum durchsichtiger sein kann, geht das bei den Medien und bei den Parteien durch wie ein heißes Messer durch Butter. Dass von den 7,4 Mill. Einkommens-Beziehern 5 Millionen weniger als 31.000 € brutto bekommen, das wird mit keiner Silbe erwähnt. Klassen oder Schichten gibt es nicht. Wir bekommen von der Regierung 6 ½ Milliarden Euro.
Und da spielen ganz prominent natürlich die sogenannten „Experten“ mit. Wir wollen darauf hinweisen, wie sehr das Propaganda-Institut der Industriellen-Vereinigung, die „wirtschaftsliberale Denkfabrik Agenda Austria“ mit ihrem Herrn Schellhorn, früher „Presse“-Journalist, vom ORF gepusht wird. Überhaupt der ORF: Der geriert sich eher als Verblödungs-Fabrik. Da will ein Journalist unbedingt Schulnoten für die Regierung von einigen Ökonomen erfragen. Als Frau Schratzenstaller – ein Punkt für sie – auf diesen kindischen Unsinn nicht einsteigt, legt er ihr partout am Ende des Interviews eine Note in den Mund. Aber diese Ablehnung ist auch das einzig positive, dass man zu ihren Gunsten sagen kann. Ansonsten wieder¬holt auch sie die Phrasen von „positiven Akzenten und Ansätzen“. Sie will eben noch Direktorin werden…
Diese Damen und Herren nützen die seit vielen Jahren aufgebaute Ehrfurcht vor der Expertokratie, um ihre persönlichen politischen Vorurteile als der Weisheit letzten Schluss anzubrin¬gen. Und die sind bei Ökonomen fast durchwegs auf eine primitive Weise neoliberal und neo¬konservativ. Sie hätten ja ihre Positionen sonst nicht erreicht; hängen sie doch von der Beur¬teilung ihrer Kollegen ab, die in ihrer übergroßen Mehrheit neoliberal und neokonservativ sind und sich entsprechend selbst ergänzen.
Diese Regierung scheint sich sicher zu sein, dass sie bleibt und daher Zeit hat. Denn das Unternehmen „Steuerreform“, wenn sie nicht nur als Propaganda-Strohfeuer zum 1. Mai 2019 gedacht ist (und das glaube ich eher nicht), ist in seiner politischen Zielsetzung auf längere Frist angelegt. Das zeigt keineswegs nur die Verschiebung der praktischen Durchführung um drei Jahre. Die politische Zielsetzung ist klar: Es ist hauptsächlich die Schwächung und der Abbau des SV-Systems auf ein mögliches Minimum. Das fügt sich nahtlos in die bisherige Kurz-Politik ein. Tatsächlich ist das SV-System der Kern der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit, ja des ganzen „sozialdemokratischen Jahrhunderts“. Dieses zu Ende gehende sozialdemokratische Jahrhundert war wesentlich eine Zeit der Integration der Unterschichten in dieses System auf dem Weg über einige materielle Zugeständnisse und des Wirtschaftswachstums. Diese Zeit ist nun vorbei, oder vielmehr: Sie soll vorbei sein. Die Eliten und die Oberen Mittelschichten haben beschlossen, der großen Mehrheit der Menschen zu zeigen, wo’s lang geht.
Die FPÖ ist eigentlich nicht einmal einer Bemerkung wert. Sie spielt auf plebeische Partei. Aber in diesem so grundentscheidenden Kontext gibt sogar der Staatssekretär Fuchs (Tiroler Tageszeitung, 4. Mai 2019) zu: „Bei Steuern sind FPÖ und ÖVP deckungsgleich.“ Diese „Volkspartei“ zeigt ausnahmsweise ihr Gesicht. Sie will dasselbe wie die offenen Konservativen. Das ist ja weiter nichts Neues. Es zeigt die Funktion der FPÖ in dieser Regierung: „Soziales“ Feigenblatt für die Zerstörung des Wohlstandsstaats durch die Neoliberalen.
Dazu haben sie den supranationalen Kontext der EU hergestellt. Doch es hat sich gezeigt: Dies allein reicht noch nicht aus. Noch ist es auf nationaler Ebene möglich, diese Politik in bescheidenem Maß zu konterkarrieren. Das empfinden sie als Sabotage. Die Politik der Kurz-Regierung hat zum Ziel, die Grundsätze der EU-Politik auf nationaler Ebene in aller Härte durchzuziehen und dazu die Strukturen hier umzubauen. Die angekündigte „Steuerreform“ ist also ein gelungener Propaganda-Coup; sie ist aber auch ein Schritt in diesem Prozess des nationalen Umbaus zur neoliberalen, globalen EU-Reife.
AFR, 3. Mai 2019