[Bild: Die Tories konnten vor allem dort Labour schlagen, wo es eine Brexit-Mehrheit gab (rechts der Linie).]
Zumindest kurzfristig hat es der EU für einmal die Sprache verschlagen. Das Ergebnis der britischen Wahlen ist für sie wesentlich schlimmer als sie es erwartete, zumindest, schlimmer, als sie ihre Medien, den ORF z.B., senden und verbreiten lies. Doch zu klar ist diesmal der Brexit-, der Anti-EU-Charakter der Wahl. Zu schwierig ist es für die EU-Propaganda, dies sofort umzudeuten in einen Erfolg. In Österreich hat der „Standard“ versucht, vorzubeugen: Immer wieder hat er Meinungsumfragen publiziert, welche eine Anti-Brexit-Mehrheit belegen sollen. Das ist nun schwieriger geworden. Nach dieser Wahl kann man das Ergebnis der britischen Volksabstimmung kaum mehr als augenblickliche Geistes-Verwirrung der spinnerten Briten hinstellen. Aber der gibt nicht auf: In der letzten Ausgabe (vom Samstag Sonntag, 14. / 15. Dezember 2019) haben wir das Spiel wieder. Denn es gilt, dem österreichischen Publikum jede Idee einer Unabhängigkeit auszureden.
Boris Johnson und die Führungsgruppe der britischen Konservativen haben die Stimmung für diesmal richtig eingeschätzt: „Wir wollen endlich die EU verlassen!“ Eine Mehrheit hat die Intrigen der Parlamentarier gründlich satt. Zugegeben: Diese Mehrheit ist nicht überwältigend, aber sie besteht. Und Johnsons Slogan: Volk gegen Parlamentarier war von den Fakten gestützt und daher überzeugend.
Wenn die EU-Ultras immer wieder die Volksabstimmung wiederholen wollen, so könnte man dazu sagen. Bei knappen Mehrheiten ist das eine Überlegung wert, warum nicht? Aber das müsste dann für alle knappen Mehrheiten gelten! Da hätte man nicht nur seinerzeit die Volksabstimmungen in Irland mehrmals wiederholen müssen. Warum hat man nicht die EU-Abstimmung in Schweden 1994 wiederholt, die auch 52 : 48 % ausging? Warum hat man nicht die französische Abstimmung für den Maastricht-Vertrag wiederholt, die 1992 im gleichen Verhältnis für die EU ausfiel? Das zeigt, worum es geht: Die Europäer, die EU-Ultras, wollen schlicht und einfach Entscheidungen nach den üblichen demokratischen Regeln nicht zur Kenntnis nehmen, wenn sie gegen ihre Absichten ausfallen. Und das kommt immer öfter vor. Wie es ja der gewesene Kommissions-Präsident gesagt hat: Gegen die EU gibt es keine Demokratie, darf es keine geben.
Verloren ging in diesem Wahl- und Abstimmungskampf vorerst Eines: Das May-Johnson-Abkommen mit der EU ist fast das schlechteste denkbare Austritts-Abkommen, das man sich vorstellen kann. Wir haben darüber schon gesprochen. Aber dazu oder dagegen muss man jetzt sagen: Das Wichtigste ist, dass der Brexit endlich vollzogen wird, dass das Vereinigte Königreich endlich den Willen seiner Mehrheit entspricht und austritt. Ist es erst einmal draußen, kann die politische Auseinandersetzung wieder einsetzen und vielleicht sogar aus diesem Abkommen etwas machen. Bisher war dies nicht möglich. Insofern muss man als Linker dieses Wahlergebnis begrüßen.
Ebenso klar, wie die Konservativen gewonnen haben, hat Labour verloren. Verwundern kann dies niemanden. Die Konservativen – ob Altkonservative oder „Linksliberale“ – versuchen dies, auf das Konto des Corbyn’schen „Linksradikalismus“ zu schreiben. Sie wissen selbst natürlich sehr gut, dass sie lügen. Corbyn hat mit seinem gemäßigten Linkskurs die vergangenen Wahlen fast gewonnen. Dann aber kam die rechts dominierte Fraktion des Unterhauses und versuchte ihn und damit die Partei kaputt zu machen. Sie wählten ihn kurzfristig sogar ab, Das schlug fehl. Dann versuchten sie es anders herum, und damit hatten sie Erfolg: Sie drängten der Partei einen pro-EU-Kurs auf.
Das, was sich bei Labour abspielt, ist die Krise der europäischen Sozialdemokratie auf Britisch. Es zeigt auch, dass eine Rückwende zur klassischen Sozialdemokratie – nichts anderes war ja der Corbyn’sche „Links-Kurs“ – unmöglich ist. Labour hatte für diesmal noch Glück. Zu stark ist offenbar die Erinnerung an die Thatcher- und Major-Politik. Mit den 32 % ist die Partei noch lange nicht dort angekommen, wo inzwischen die SPD oder die SPÖ sind, ganz zu schweigen von den französischen Sozialisten. Aber es wird schon werden. Denn noch immer ist die Fraktion oder sind die jungen „Linken“ der Parteiführung bereit, die Partei selbst zu ruinieren, wenn sie ihnen nicht auf dem EU-Weg folgt. Dass Labour noch nicht soweit ist wie SPD und SPÖ, dürfte es vor allem dem linken Ruf Corbyns zu verdanken haben. Den beschleunigten Weg nach Unten kann man aber für Labour nach dem Rücktritt Corbyns ohne große Angst vor fehlgehenden Prophezeiungen voraussagen. Da wird es auch darauf ankommen, ob die Konservativen ihre für britische Verhältnisse großzügigen Versprechungen halten werden oder wieder auf Erzreaktionär schalten.
Die extremen pro-EU-Parteien haben etwas gewonnen. Die Liberalen haben zwar wegen des britischen Systems eine schwere Niederlage eingefahren, auch einen wirklichen Prestige-Verlust, da ihre Vorsitzende ihr Mandat verloren hat. Aber da sollten wir auch auf die Stimmen, nicht nur die Mandate sehen. Die SNP hat dagegen gewonnen, ohne dass dies wegzudiskutieren wäre. Aber es mag paradox klingen: Auch dieser Gewinn beider EU-Unterwürfigen ist eher ein Zeichen der Schwäche. Denn das kommt aus der Polarisierung der britischen Gesellschaft. Die hat die Konservativen zur eindeutigen Brexit- und damit Anti-EU-Partei gemacht, was sie vorher ja keineswegs waren.
Konservative 43,6 % +1,2 Punkte 365 Mandate
Labour 32,1
% -7,9 203 Mandate
SNP 3,9 +0,8 48 Mandate
Liberale 11,5 +4,2 11 Mandate
Grüne 2,7 +1,1 1 Mandat
Brexit 2,0
DUP 0,8 -0,2 8 Mandate
Sinn Féin 0,6 -0,1 7
Plaid Cymru (Wales) 0,5 4
Alliance (Nordirland) 0,4 1
Die offenen EU-Opportunisten allerdings haben eine vernichtende Niederlage erlitten. Es reicht denn doch nicht aus, sich im Äußeren und wegen der Hautfarbe als Obama-Imitat zu gebärden.
Eine Garantie für eine bessere Entwicklung ist das britische Wahl-Ergebnis natürlich keineswegs. Eine solche Garantie gibt es auch mit einem EU-Austritt nicht. Jetzt müsste der politische Kampf erst einsetzen. Aber wer soll ihn führen? Immerhin ist eines zu sagen: Jetzt wäre ein solcher Kampf wieder möglich. Bisher hat ihn die EU-Mitgliedschaft und die EU-Politik verhindert. Zwar war das Vereinigte Königreich nicht Teil der Eurozone und damit nicht den schlimmsten Zwängen unterworfen. Aber die EU-Politik war auch so hinreichend. Gerade Johnsons Versprechungen während des Wahlkamps schaffen eine gute Ausgangslage für eine neue politische Auseinandersetzung. In diesem Sinn können wir als Linke den Wahlausgang durchaus begrüßen.
Albert F. Reiterer, 5. Dezember 2019