„Verrat“ ist keine politische Kategorie. Verrat scheint heute ein unpassendes Wort, wenig geeignet für die Analyse moderner Politik. Es richt nach Feudalismus, nach persönlichen Verpflichtungen. Die Analyse erleichtert es für gewöhnlich nicht.
Alexis Tsipras hat in einer schwierigen Situation eine Volksabstimmung angesetzt. Er scheute zurück vor der persönlichen Verantwortung für eine weitreichende Entscheidung. Er verpflichtete sich, das Ergebnis dieser Abstimmung zu achten. Er würde persönliche Konsequenzen ziehen, falls die Abstimmung gegen seine Empfehlung ausgehe, ließ er wissen. Die griechische Bevölkerung hat ihm geglaubt. Mit unerwartet deutlicher Mehrheit rief sie ihm zu: Sag NEIN! NEIN zur Austerität! NEIN zur nationalen Demütigung! NEIN zur Politik der EU!
Und Tsipras und die SYRIZA sagen nun vorbehaltslos JA. JA zur Austerität! JA zur völligen Unterwerfung! JA zu einer EU, die sie gar nicht mehr haben will.Mit Hilfe der Kompradoren aus der Nea Demokratia und aus To Potami überstimmen sie dafür die eigenen linken Genossen.
Wenn irgend einmal das Vokabel Verrat angebracht war, dann hier und heute. Es ist der schäbigste Wortbruch, persönlich gegeben, den man sich nur vorstellen kann. Fassungslos sucht man nach Parallelen in der näheren Vergangenheit. Man findet sie nicht. Man muss ein Jahrhundert zurück gehen. Mir fällt dazu nur die Politik der deutschen, österreichischen, europäischen Sozialdemokratie am Beginn des Ersten Weltkriegs ein. Vielleicht ist die Junius-Broschüre von Rosa Luxemburg 1916 kein hoch analytischer Text. Aber er sagt uns viel über die Stimmung der Linken damals. Wir sollten lesen, was sie aus dem Gefängnis heraus ihren ehemaligen Genossen zu sagen Hatte: „Die Szene hat gründlich gewechselt. … Der Rausch ist vorbei. …. Die Regie ist aus. … Was erlebten wir, als die große historische Probe kam? Den tiefsten Fall, den gewaltigsten Zusammenbruch!“
Aber das hilft uns nicht weiter.
Versuchen wir, die Trümmer der SYRIZA-Politik seit einem knappen halben Jahr abzuschätzen; eine realistische Sicht auf diese Partei und auf Griechenland zu gewinnen!
SYRIZA erhielt im Jänner eine relative Mehrheit der Wählerstimmen (36 %). Die reaktionären Parteien hatten sich das Wahlrecht so zurecht geschneidert, dass jedenfalls eine von ihnen eine Mehrheit erlangen würde. So dachten sie. Auf Grund dieses betrügerischen Wahlrechts – in Italien ist es noch viel schlimmer – erhielt SYRIZA praktisch eine Mehrheit im Parlament. Die ersten Schritte der neuen Regierung sahen nach Widerstand und Selbstbestimmung aus. Hätte man 3 Monate später gewählt, hätte SYRIZA vermutlich eine echte Mehrheit bekommen.
Spätestens nach den Wahlen und nach den ersten Wortmeldungen der neuen Regierung beschlossen die europäischen politischen Klassen und die Bürokratie, die neue Regierung zu stürzen oder zu brechen. Die Naivlinge von SYRIZA, die noch immer von „Europa“ schwärmten, waren völlig überrascht. Die Gestalt des neuen Finanzministers, Varoufakis, war symptomatisch und symbolisch. Als Person wurde er schnell zum roten Tuch für die Oligarchie.
Aber er war ein hundsmiserabler Minister. Er hätte in seiner Position Politik machen und organisieren müssen. Aber er beschränkte sich auf seine Rolle als politischer Pop-Star.
Kapitalverkehrskontrollen? Sie wären am 26. Jänner fällig gewesen. Aber erst, als sie nichts mehr nützten und der Regierung und der Bevölkerung nur mehr schadeten, kamen sie, und noch dazu in der dümmsten Weise, durch das Schließen der Banken.
Aufbau eines effektiven Apparates? Soweit ich weiß, ist gar nichts geschehen.
Vorbereitung auf die Attacke der EZB? Keine Spur davon. Dabei war es ganz klar, dass dies der gefährlichste Angriff sein würde, da die EZB das Bargeld kontrolliert, und Bargeld in einer tiefen Krise immer ein absolut vitales Instrument ist.
In den Verhandlungen gab man Schritt Alles preis, was man der Bevölkerung versprochen hatte. Die wenigen Druckmittel, die man hatte, setzte man nicht ein: die Blockierung der Räte etwa. Dafür stimmte man pflichtschuldigst mehrfach der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland zu, scheute sich aber andererseits nicht, dort um Kredite anzuklopfen.
Der Scherbenhaufen wird jetzt in Griechenland und international Folgen haben:
*) Eine realistische Linke wird in Griechenland in Zukunft völlig diskreditiert sein. Im Nachhinein kann sich die KKE mit ihrer Politikverweigerung noch einmal auf die Schulter klopfen. Diese Richtung wird vielleicht ein wenig zugewinnen. Eine realistische Alternative ist sie nicht.
*) Die SYRIZA-Linke schreckt offenbar noch immer vor dem dringlich notwendigen Bruch zurück. Damit ist auch sie keine Alternative. Was mit ihr weiter passiert, ist völlig offen. Als Rosstäuscher ist Alexis Tsipras diesen Leuten noch allemal haushoch überlegen. Noch immer weigern sich diese Genossen verzweifelt, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Wann, wenn nicht jetzt, müsste der Bruch mit der Mehrheit erfolgen?
*) Außerhalb Griechenlands ist der Schade vielleicht noch größer. Die europäische Linke hat sich in hohem Maß mit SYRIZA identifiziert. Welche besseren Argumente könnte man Typen wie Renzi, Perez Rubalcaba von der PSOE oder Hollande liefern? Wie soll die linke Opposition dort noch glaubwürdig auftreten?
Eine grundsätzlichere Bemerkung ist angebracht:
Die konsequente Linke schwankt seit langer Zeit zwischen Elektoralismus und einem voluntaristischen und ohnmächtigen Blanquismus. Beide Stichworte sind höchst fragwürdig. Seine ganze Hoffnung auf Wahlen zu setzen, ist illusionär; aber eine leichtfertige Verachtung von Wahlen führt unweigerlich in den Autoritarismus. Das Beispiel der Bolschewiki hat uns dies nur zu deutlich gezeigt. Und das führte in die historische Niederlage. Ich muss zugeben: Ich sehe aus diese Mühle keinen Ausweg. Am ehesten könnte er noch darin liegen, ein neu konzipiertes und ständig aufs Neue erprobtes Rätesystem anzustreben.
Blanquistischer Putschismus ist aber gegenwärtig auch völlig unrealistisch. Und das ist leicht zu begründen. Auch in der Oktober-Revolution gelang der bewaffnete Aufstand nur, weil die Armee im Weltkrieg bereits völlig zerrüttet war und nicht mehr gegen die Bolschewiki einsetzbar war. Der Aufstand gegen die Dikatatur in Portugal hatte 1975 Erfolg, weil er im Wesentlichen von Teilen der Armee durchgeführt wurde. Der größere Rest der Armee aber sah zu und wartete ab. Und als man einige Jahre später, schon nach der sozialdemokratischen Restauration, Otelo Saraiva de Carvalho ausschalten wollte, brauchte man nur eine Verbindung zu einer putschistischen Gruppe zu konstruieren und steckte ihn dann ohne weiteres ins Gefängnis.
In Griechenland hört man nicht das Geringste von linken Strömungen innerhalb der Armee. Vielmehr wird vereinzelt die Sorge vor einem Militärputsch der Rechten geäußert. Aber auch dafür wird nicht vorgesorgt seitens der Linken. Dabei wird immer wieder von besten Kontakten der Chyssi Avgi zu Offizieren erzählt.
Dass SYRIZA scheitern würde, war leider leicht vorher zu sehen. Dass es auf eine so schäbige und schmutzige Tour gehen würde, ist eine Tragödie. Wir haben uns von den taktischen Wendungen des Tsipras täuschen lassen und glaubten tatsächlich an eine bisweilen zwar sehr ungeschickte, aber ehrliche Politik.
Einmal mehr zeigt sich: Unabdingbar notwendig und höchst dringlich ist eine seriöse Strategie-Debatte. Die ersetzt nicht die Politik, bereitet aber darauf vor.
Albert F. Reiterer – 12. Juli 2015