Wer dachte, dass mit der Kapitulation des griechischen Premier Tsipras vor den EU-Institutionen die Eliten in Brüssel und Berlin wieder alles im Griff hätten, hat sich geirrt. Die EU erodiert weiter aufgrund tiefer struktureller Wiedersprüche, die wieder und wieder zu politischen Krisen und Instabilität führen. Lange hat es nicht gedauert seit dem griechischen Kniefall vor seinen Gläubigern am 13. Juli, bis sich nun, kaum fünf Monate später, auf der iberischen Halbinsel ein neues griechisches Szenario ankündigt, mit vielen Ähnlichkeiten und einigen neuen Aspekten.
Das Panorama ist überall an der südeuropäischen Peripherie (und nicht nur dort) dasselbe: mit der Wirtschaftskrise 2008 brach das Kartenhaus des kreditfinanzierten Wachstums in sich zusammen. Der Aufschwung nach dem Eurobeitritt war auf Sand gebaut. In Spanien auf einer Immobilienblase, die 2007 mit massiven Privatkonkursen, Banken- und Unternehmenspleiten implodierte. In der Folge schnellte die Arbeitslosigkeit von einem Rekordtief von 8 % auf über 26 %, der Staat rutschte durch versuchte Konjunkturbelebung, Bankenrettung, Steuerausfälle und steigende soziale Kosten ins Minus mit einem maximalen Haushaltsdefizit von -11.2 % des BIP im Jahr 2009. Es folgte ein Austeritätsprogramm dem anderen, zwischen 2012 und 2014 unter Aufsicht der Troika. Das bedeutete wie in anderen Ländern eine Schuldenbremse in der Verfassung (Reform des Artikels 135 der Verfassung: Schuldenrückzahlung prioritär vor allen anderen Staatsausgaben), weitere Prekarisierung des ohnehin erschreckend deregulierten spanischen Arbeitsmarktes, Abbau der sozialen Sicherheit und Einschränkung der Geldflüsse an die Regionen. Das war der Stoff, aus dem das Ende der PSOE-Regierung Zapatero (angetreten als scheinbar linke Sozialdemokratie gegen den erzreaktionäre Bush-Unterstützer Aznar) und der Ausbruch der Massenproteste der Empörten „Indignados“ im Mai 2011 auf die Plätz des Landes gemacht war. Diese soziale Mobilisierung unter der Losung „sie repräsentieren uns nicht“ war der Beginn der neuen Linkspartei Podemos von Pablo Iglesias, die seit den Europawahlen 2014 (8 % der Stimmen) die Altparteien auf dem institutionellen Terrain herausfordert.
Trotz eines leichten Abschwungs von Podemos in den Regionalwahlen und Umfragen 2015 bis knapp vor den Wahlen im Dezember – die Ursachen sind vielfältig, aber sicher spielte der recht schwankende Diskurs hinsichtlich der katalanischen Unabhängigkeit wie auch die Rückendeckung für den Kniefall von Alexis Tsipras eine wichtige Rolle – konnte die Partei bei den Parlamentswahlen am 20. Dezember mit 20.7 % einen großen Erfolg erzielen. Entgegen der Hoffnungen der spanischen und europäischen Eliten war es nicht die bürgerliche Erneuerungspartei Ciudadanos (eine klare Pro-Austeritätspartei und eingefleischte Verfechterin des spanischen Zentralismus gegen die Selbstbestimmungstendenzen der Katalanen und Basken), die der Überraschungssieger wurde, sondern doch die Linke. Stimmenmäßig blieben Pablo Iglesias und seine verbündeten Gruppierungen in den autonomen Provinzen nur knapp hinter der PSOE (22 %), obgleich das spanische Wahlrecht den zwei Regimeparteien PSOE und PP einen etwas größeren Mandats-Vorsprung sichert. Es sei angemerkt, dass im Vorfeld intensiv ein Bündnis mit der Vereinigten Linken (IU, Izquierda Unida) diskutiert wurde, das Iglesias aber ablehnte – unter dem Vorwand sich mit keinerlei „Altpartei“ einlassen zu wollen. Ein solches Bündnis hätte den Mandatsabstand zu den Regimeparteien deutlich minimiert – wenn auch der Hauptleidträger bei den Wahlen die IU war, die 3,25 Prozentpunkte an Stimmen und 9 Mandate (!) verlor. Die zweite Linksformation, die von Podemos überrannt wurde war die baskische Unabhängigkeitsbewegung um die Partei Euskal Herria Bildu (- 5 Mandate). Der gegenüber der Unabhängigkeit offene Diskurs von Igleasias – „das Volk solle entscheiden“ – und seine klare Anti-Austeritätslinie sicherten ihm eine breite Unterstützung in Katalonien (24,7 %; nicht zuletzt dank der populären Podemos-nahen Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau) und im Baskenland (25,97 %).
Das spanische Establishment ist erschüttert. Etwa ein Drittel der Stimmen gingen den alten Systemparteien PP und PSOE verloren. Das Land steht vor einem ungelöstem Konflikt mit der katalanischen Regionalregierung, den die PP-Regierung unter Mariano Rajoy bis zu dem Punkt eskalieren ließ, an dem es selbst für die alten bürgerlichen Autonomisten der CiU (Convergència i Unió) um Artur Mas nur mehr den Ruf nach Unabhängigkeit gab – wovon vor allem die Linke (die sozialdemokratische Katalanische Republikanische Linke, ERC, und die linksradikale Kandidatur der Volkseinheit, CUP) profitierten. Erstere wurde bei den Parlamentswahlen viertstärkste Partei mit 9 Mandaten und potentielles Rädchen am Wagen einer Linkskoalition, zweitere reif zum Wahlboykott auf. Im Baskenland ist die Situation ohnedies seit Jahren verfahren. Und die Jubelrufe über Spaniens Überwindung der Krise (2014 verließ das Land den Rettungsschirm und konnte sein Haushaltsdefizit deutlich verbessern) sind auf dünnem Eis: weiterhin liegt die Arbeitslosigkeit bei 22 %, die der Jugend bei 47 %. Und der schwache Aufschwung hat 2015 sofort wieder das Leistungsbilanzdefizit ansteigen lassen.
Spanien ist in einer tiefen strukturellen Krise, seit Ende der 1980er Jahre hat das Land seine industrielle Basis verloren und ist zu einer peripheren Dienstleistungsökonomie (Tourismus) mit chronischem Leistungsbilanzdefizit, nicht wettbewerbsfähiger Industrie und hoher struktureller Arbeitslosigkeit geworden. Daran ändern die wenigen international tätigen spanischen Vorzeige-Multis (z.B. Telefónica, Repsol) und der Immobilienboom 2000-2007 nichts. Das Land hat kein tragfähiges ökonomisches Modell. Die Globalisierung und seine europäische Form, die EU von Maastricht bis zum Fiskalpakt, haben es zu einem Peripherieland degradiert, in dem die sozioökonomische Erosion nun endlich zu einer ernsten politischen Krise geführt hat.
Wie diese Krise enden wird ist offen. Irgendjemand wird politisch sterben. Verkauft sich die PSOE der PP im Sinne der Regierbarkeit (wie es Ciudadanos-Chef Albert Rivera forderte, aber von der PSOE vorerst ausgeschlossen wurde) so droht ihr das Schicksal der griechischen PASOK. Verkauft sich Podemos zu billig der PSOE ist ihr Aufstieg schnell beendet – ein Szenario, das nach dem Erfolg vom Sonntag wenig wahrscheinlich ist. Doch selbst die Minimalforderungen von Pablo Iglesias für eine Koalitionsbildung – vor allem die Sicherung sozialer Rechte und eine Lösung der nationalen Frage im Sinne des Selbstbestimmungsrechts – sind kaum mit dem herrschenden politischen und ökonomischen Rahmen vereinbar. Und dieser ist europäisches Recht und in die spanische Verfassung gemeißelt. Ob sich die PSOE der Podemos-Idee eines verfassungsgebenden Übergangsprozesses anschließen wir ist eher unwahrscheinlich. Daher haben die bürgerlichen Kommentatoren wohl nicht ganz Unrecht, wenn sie das Gespenst der Unregierbarkeit an die Wand malen.
Trotzdem sollte man realistisch bleiben: Podemos wird wohl kaum die totalen Umwälzung anführen. Das hat Syriza nicht leisten können und von Beppe Grillo in Italien ist es auch nicht zu erwarten. All diese neuen Formationen sind teils politische Krisenprodukte mit unzureichender programmatischer Substanz, teils sind sie in den ideologischen Fesseln des traditionellen linken Diskurses eines sozialen Europas gefangen. (Es ist schwer zu sage, was schlimmer ist.) Und Griechenland hat nun einmal den steinharten Beweis der Unreformierbarkeit des Euro-Regimes erbracht. Nicht nur wegen der Unnachgiebigkeit der Deutschen, sondern aufgrund der Untragbarkeit der ökonomischen Struktur, die die EU und die Währungsunion hervorgebracht haben. Daran wird auch das größere Gewicht Spaniens nichts ändern. Selbst die elementare Forderung nach dem Ende der Austerität ist daher radikal und konfrontativ.
Wir hoffen, dass Pablo Iglesias‘ Podemos möglichst hart bleiben wird bei ihrem Anti-Austeritätskurs und bei ihrem Versprechen an die unterdrückten Nationen im spanischen Staat, dass sie über ihre Zukunft selbst entscheiden sollen. Wenn das so ist, dann wird Podemos sich früher oder später mit der Frage eines „neuen produktiven Modells“, wie sie es in ihrem Programm nennen, konfrontiert sehen und damit mit der Tragbarkeit der spanischen Mitgliedschaft im Euroraum. Auch Podemos wird sich mit dem Plan B auseinandersetzen müssen, den Alexis Tsipras für Griechenland verweigert hat.
Spanien – wie auch Portugal und in leider rechter Form Frankreich – sind in jedem Fall der nächste Weckruf an die europäische Linke, sich kollektiv dieser Frage des Plan B zu widmen. Hier liegen die Zukunft eines neuen politischen Projekts und auch die einer neuen sozialistischen Alternative.
Gernot Bodner