von Boris Lechthaler
oder ernsthaft und gelassen bei der Sache bleiben!
Die EU-Integration Österreichs funktioniert nur in der scheinbaren Polarität von EU-affinem Establishment und rechtsextrem kanalisierter EU-Opposition. Würde dieses Schauspiel nicht die Bühne beherrschen, würde offenkundig wie sehr die EU-Integration rechtsextremen Vorstellungen folgt und wie hohl die EU-Opposition der Rechtsextremen ist. Der EU-Austritt Österreichs wird aus einer emanzipativen Perspektive immer dringlicher. Der Brexit kann dafür den Spielraum erweitern, aber auch einengen. Der Rest hängt von uns ab.
Das wohl bemerkenswerteste am britischen Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU ist die Heftigkeit, mit der die FPÖ-Spitze unmittelbar darauf in Hinblick auf einen EU-Austritt Österreichs zurückruderte. Mantraartig wurden sie befragt, ob sie nun eine Volksabstimmung über den EU-Austritt Österreichs auf die Tagesordnung setzen würden. Mantraartig kam die Antwort: Nein, auf keine Fall! Der freiheitliche Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer liegt mit Kanzler Christian Kern auf einer Linie: eine Volksabstimmung gebe es nur bei einem Beitritt der Türkei zur EU.
Solche Rosstäuscherei ist schon lang nicht mehr elegant, sondern plump in vollendeter Form. Dennoch werden die Zuschreibungen – pro- und contraeuropäisch – fortgeschrieben. Bei der kommenden Wiederholung der Stichwahl zum Bundespräsidenten, werden sie wiederum jegliches genauere Nachfragen, für was die Kandidaten nun wirklich stehen, über den Rand der Wahrnehmung hinaus drängen. Die FPÖ ist in der komfortablen Lage, dass ihr so von ihren scheinbaren Gegnern die relevante Minderheit der EU-Austrittsbefürworter regelrecht zugetrieben wird. Rechte Leimrutenfänger wie die Betreiber des EU-Austrittsvolksbegehren leisten das Übrige, damit EU-Opposition im taktischen Irrgarten der FPÖ verkommt. Sie braucht nur noch jene Teile des wirtschaftsliberalen Establishment, das für einen rechtsliberalen Kurs optiert ohne mit der EU brechen zu wollen, davon überzeugen, dass sie das mit dem EU-Austritt ohnehin nicht ernst meint. Damit kommen Mehrheiten für die FPÖ in greifbare Nähe. HC Strache meint, es gehe nicht um EU-Austritt, sondern eine Reform der EU. Auch wenn die FPÖ dabei vage bleibt, der Brexit droht die weitere Entwicklung der europäischen Integration genau im Sinne der Rechtsextremen zu beschleunigen.
Der Brexit und Großbritannien
Folgt man den Mainstreamberichten über das britische Referendum, so waren es ausschließlich nationalistische, ja sogar rassistische, Motive, die die Briten dazu bewogen, mehrheitlich für einen Austritt zu votieren. Dabei wird zunächst außer Acht gelassen, dass sich auch die Remainkampagne rassistischer Stereotype bediente, in dem sie eine europaweite Flüchtlingsabwehr als geeigneteres Abschottungsinstrument favorisierte. Und so sprechen manche Umfragen davon, dass nur für ca. 36% die Migrationsfrage entscheidungsrelevant gewesen sei. Wie auch immer, Motive fluktuieren. Fest steht, dass die Abstimmung entlang sozialer Zugehörigkeit entschieden wurde. Es waren die proletarischen Milieus, die den Ausschlag für den Brexit gaben. Welche Auswirkungen der Brexit unmittelbar und langfristig für die Menschen in Großbritannien hat, kann heute nicht beantwortet werden. Wir können getrost die Woge düsterer Prognosen als Gräuelpropaganda verebben lassen. Großbritannien ist weder – wie in manchen klug gemeinten Karikaturen – im Atlantik versunken, noch wurde es ein paar tausend Kilometer Richtung Grönland katapultiert. Die Folgen des Brexit für die Menschen in Großbritannien sind auch deshalb so wenig prognostizierbar, weil sie sowohl die sozialen Kämpfe in Großbritannien intensivieren werden, als auch selbst Ergebnis dieser Kämpfe sein werden. Es ist ja auch umgekehrt nicht so, dass ein Verbleib GB in der EU, für alle Menschen die gleichen Wirkungen gehabt hätte. Ein häufiges Argument, der Finanzplatz London könne nur in der EU seine besondere Bedeutung verteidigen, ist nicht nur nicht schlüssig, es beantwortet auch nicht die Frage, ob dieser Finanzplatz mit seiner relevanten Bedeutung für das britische BIP überhaupt im Interesse der arbeitenden Menschen ist. Seine Folgen sind ein überbewertetes britisches Pfund und überbewertete Immobilien. Beides ist im Interesse der Eliten, aber nicht im Interesse der arbeitenden Menschen. Der Finanzplatz London könnte im Ergebnis der Austrittsverhandlungen sogar an Bedeutung gewinnen. Auch Singapur, Hongkong oder Panama liegen nicht in der EU und haben dennoch eine herausragende Bedeutung für die transnationalen Kapitalbewegungen.
Es heißt, die Briten hätten keinen Plan, wie mit dem Brexit umgegangen werden soll. Das ist Unsinn. Es gibt Pläne. Sie sind allerdings entlang der sozialen Interessen gespalten. Die Eliten werden um einen Austrittsvertrag kämpfen, der so weit irgend möglich ihren Interessen entspricht. Dabei wird die Frage, ob jemand für oder gegen den Brexit gewesen sei, rasch zweitrangig. Freilich gilt es auch relevante Teile der Bevölkerung mitzunehmen. Das ergibt einen klaren Raster für die Verhandlungen: weitgehende Teilnahme am Binnenmarkt ohne Arbeitnehmerfreizügigkeit und politische Unterordnung, keine automatische Übernahme von EU-Rechtsnormen – das konnte man nicht einmal den Schweizern aufzwingen. Wenn einmal der Brüsseler Theaterdonner verhallt ist, wird rasch deutlich werden, dass sie damit bei den EU-Eliten offene Türen einrennen. Warum sollte man mit Verschlagenheit und Vehemenz Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP) aushandeln und durchsetzen und dann GB den Sessel vor die Tür stellen. „Am Aufbau von Handelshemmnissen kann keine Seite ein Interesse haben“ sagte Bundesbankpräsident Jens Weidmann in München (EurActic, 4.7.2016) Deutschland hat kein Interesse daran, pikanterweise aber auch nicht dessen Gegner.
Die wirklich relevante Frage ist, ob es den arbeitenden Menschen in Großbritannien gelingt, zu einem relevanten Akteur in diesem Prozess zu werden. Trotz mancher Euphorie darüber, dass sie qua Referendum die Pläne der Eliten ordentlich durchkreuzt haben: mit einem Referendum wird man noch nicht zum politischen Subjekt. Die Eliten werden versuchen unter dem Titel „Kosten des Brexit“ Sozialkürzungen und Belastungen durchzusetzen. Mit dem Brexit eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Durchsetzung einer anderen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sie können dann relevant werden, wenn es den arbeitenden Menschen in GB gelingt, eine oppositionelle Austrittsagenda auf die Tagesordnung zu setzen. Bei Labour versuchen jene Kräfte den derzeitigen Vorsitzenden wegzuputschen, die genau das verhindern wollen.
Der Bildungsbürger als glühender EU-Claqueur
„73 der 751 Abgeordneten zum Europaparlament stammen aus Großbritannien….diese Abgeordneten können eigentlich nicht anders als sofort zurückzutreten.“, meint Reinhard Göweil am 28.6.2016 in der Wiener Zeitung. Mitunter kommen ihm selbst Bedenken: „Die Abgeordneten sind ja für diese Periode gewählt und manche sogar guten Willens, ihr Amt auszufüllen. Doch das hilft alles nichts, sie müssen gehen – und zwar gleich.“ Man lässt ja auch die Ehefrau nicht mehr mit dem gemeinsamen Auto fahren, wenn diese einem die Scheidung in Aussicht stellt, ist man versucht zu ergänzen, wenn man weiter in den juristischen Wirrgarten des Herrn Göweil eindringt. In Brüssel haben sich Juncker und Schulz zu einem ordentlichen Mit-dem-Fuße-Stampfen- entschieden, und die Chefredakteure der EU-affinen Medien stampften nicht nur mit, sondern wetteiferten um eine vermeintliche Hinein- und Hinterhertreterei. Freilich übersahen sie dabei geflissentlich, dass der Delinquent, auf den man jetzt keine Rücksicht mehr nehmen könne, „das hilft alles nichts“, noch gar nicht am Boden lag. Selbst als die deutsche Kanzlerin schon unmissverständlich zu erkennen gab, dass der Brexit wesentlich auch zwischen London und Berlin verhandelt wird, beratschlagt uns ein Florian Hartlieb noch in der Wiener Zeitung (28.6.2016) mit vorgeschobenem Kinn: „Die Scheidung ist schnell zu vollziehen!“ Überhaupt wo sich herausstellt, dass die zu Scheidende eine ziemliche Schlampe gewesen sei. So habe sie „immer wieder Sonderregelungen verlangt und Entscheidungen blockiert. Bis heute gehört (sie) nicht zur Eurozone. Die Trittbrettfahrerei könnte nach einem Brexit aufhören.“ Auf der anderen Seite des Kanals steht „das ganze Konstrukt des Vereinten Königreichs … auf dem Spiel.“ „Die EU ist in einer weitaus besseren Situation. Wenn sich Angela Merkel & Co allerdings erneut wie einst vom griechischen Linkspopulisten Alexis Tripras vorführen und vertrösten lassen, ist das Projekt ‚Europa‘ gescheitert.“ Haben wir da was übersehen oder bringt Hr. Hartlieb einiges durcheinander. Egal. Die Belastbarkeit der im Text benannten Fakten ist hier nur von zweitrangiger Bedeutung. Uns interessiert hier vor allem die Aggressivität und Schadenfreude mit der das EU-affine Bildungsbürgertum seine Entrüstung über das „Leave“ der Briten kundtut. Rücksichtslosigkeit wird unüberhörbar wieder zur empfohlenen Methode bei der anstehenden Finalisierung des Reichs. Schwülstig distanziert man sich vom seinerzeitigen Nationalismus und bedient sich seiner Methoden, wenn es darum geht, chauvinistische Haltungen euronationalistisch zu reincarnieren. Die alten Kastrationsängste – im Vergleich zu Peking und Washington werde man den Kürzeren haben – erleben Wiederauferstehung, bis sich Hr. Hartlieb endgültig verschwurbelt: „Der Mangel an Nicht-Europa … muss beseitigt werden.“
Ist das ein Vorgeschmack auf das, was uns blüht, wenn EU-affine Bildungsbürger und rechtsextreme EU-Reform zusammenfinden?
Das EU-affine Establishment inszeniert inzwischen einen Beschwörungsreigen nach dem anderen. Der unförmige Europapathos zeigt immer deutlichere clowneske Züge. So etwa wenn Ex-Kanzler Schüssel in der „Presse am Sonntag“ (26. Juni 2016) dazu aufruft „kühlen Kopf (und ein heißes Herz) (zu) bewahren“, um im nächsten Absatz die „Spannungen im südchinesischen Meer“ neben der „Demografie“ und vielem anderen (mit der EU?) lösen zu wollen. „Trauen wir uns einen Beitrag zum Frieden in unruhiger Zeit zu, dann ist es Zeit für einen Vorstoß zu einer Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik:…“. Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments spricht auf der selben Seite (erstmals?) von „den EU-Gegnerinnen und -Feinden, egal, wo in den Mitgliedsstaaten.“ Lunacek plädiert für einen „Europäischen Konvent“ und eine „Koalition der Willigen“. Ersteres wird es nicht geben. Zweiteres existiert bereits, aber mit ständig wechselnder Architektur, die nur ein Faktum, dass Deutschland sich immer in der Mitte befindet, verbindet. „Und jetzt? Europa wird sich nicht provinzialisieren, es wird sich wieder etwas überlegen, den Funken zum Bürger überspringen lassen.“, verkündet uns „Zukunftszuversicht“ (Lunacek), Fr. Lydia Mischkulnig, wenige Zeilen später. Um dann doch „erschöpft auf(zu)klatschen“, und zu resümieren: „Da bleibt nicht viel über. Eigentlich gar nichts. Dagegen wird nicht viel helfen. Außer meine Europa-Gedanken nicht von zynischen Referendums-Strategen versauen zu lassen.“
Es ist diese Mixtur aus inszeniertem europapolitischen Pathos und praktischer Tollpatschigkeit, die das EU-affine Establishment einem großen Teil der arbeitenden Menschen als fremd erscheinen lässt. Im EU-Integrationsprozess erhitzen sich nicht die Herzen. Das EU-affine Establishment wird aggressiv. Die EU-Integration Österreichs funktioniert nur in der scheinbaren Polarität von EU-affinem Establishment und rechtsextrem kanalisierter EU-Opposition. Würde dieses Schauspiel nicht die Bühne beherrschen, würde offenkundig wie sehr die EU-Integration rechtsextremen Vorstellungen folgt und wie hohl die EU-Opposition der Rechtsextremen ist. Und wir können sicher sein, solange die FPÖ nicht in der Regierung ist, wird die Aufführung weitergehen. Dass sie in die Regierung kommt, wird immer wahrscheinlicher. Dann werden auch die Rollen im Schauspiel neu verteilt. Gut denkbar, dass sich dann die Rücksichtslosigkeit des Wertekostüms entledigt, um endlich Europapolitik als „Wir zuerst-Politik“ darzustellen.
Eine EU der Exekutive – mit Sitz in Berlin
Welche Reform der EU auf der Tagesordnung steht, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, warum Großbritannien bei der EU ist oder gewesen sein wird. Dabei ging es vorwiegend um Geo- nicht um Wirtschaftspolitik. Aufgabe der Briten war zu verhindern, dass sich aus dem gemeinsamen Markt mit gemeinsamen Institutionen ein Reich wird, das mit einer Stimme spricht und mit einer Faust zuschlägt. Diese Aufgabe war schon einmal blockiert. In den 60’ern war es jedoch für den französischen Präsidenten De Gaulle vermeintlich möglich, Faust und Stimme in Paris zu dislozieren. Der Brexit führt jedoch unzweideutig zu einem stärkeren Gewicht Deutschlands. Dieses wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und bei den Austrittsverhandlungen in den wirtschaftspolitischen Fragen London weitgehend entgegen kommen, wenn dieses die neue Stellung Deutschlands respektiert und Unruhe bei mittleren und kleinen Verbündeten in Europa im Rahmen hält. Deutschland war bereits 2015 an dritter Stelle in der Rangliste der Rüstungsexporteure und Angela Merkel kündigte als Richtwert für den deutschen Verteidigungsetat 3,4% des BIP wie in den USA an. „Während die Vereinigten Staaten und die EU gestrauchelt sind, hat Deutschland sich behauptet und ist zu einer bedeutenden Macht geworden“, resümiert der deutsche Außenminister Steinmeier in „Foreign Affairs“.
Die EU der FPÖ im Entstehen.
Die von der FPÖ geforderte EU-Reform läuft bereits. Es ist eine EU, die ihre industriellen Kapazitäten für Aufrüstung nutzt und dieses militärische Drohpotential zunehmend eigenständig als geopolitisches Machtmittel einsetzt. Es ist eine EU der Austärität mit einer restriktiven und selektiven Sozial- und Menchenrechtspolitik. Es ist eine EU der entmachteten Parlamente, in der Berlin immer deutlicher als das eigentliche Machtzentrum erkennbar wird.
Der EU-Austritt Österreichs wird aus einer emanzipativen Perspektive immer dringlicher. Der Brexit kann dafür den Spielraum erweitern, aber auch einengen. Der Rest hängt von uns ab.
(7.7.2016)
Quelle: http://www.solidarwerkstatt.at/index.php?option=com_content&task=view&id=1531&Itemid=1