Was kostet uns der Euro an BIP-Wachstum?
„Potential Output“ ist eine etwas zweifelhafte Größe. Sie bezeichnet das, was vielleicht hätte passieren können, wären die Umstände für ein Wirtschaftsgebiet so gewesen, wie im Schnitt der ökonomischen Umwelt und in der Erfahrung der letzten Jahre. Wenn also nach der realen Entwicklung und ihrem Unterschied zum Potenzial-Produkt als Folge der Finanzkrise gefragt wird, müssen wir diesen höchst hypothetischen Charakter des Referenz-Begriffs stets mit bedenken. Dazu kommt: Das Konzept vernachlässigt – bis auf die Durchschnitts-Bildung – , dass Konjunkturen und damit auch „normale“ Abschwünge eine absolut unvermeidliche Charakteristik von nicht geplanten Wirtschaften sind. Denn erst durch sie findet die reale Steuerung von Marktwirtschaften und die Anpassung der einzelwirtschaftlichen Pläne an die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen statt.
Trotzdem hat dieser Begriff einen gewissen Nutzen in Zeiten von Krisen und tiefen Einbrüchen. Man darf seine Größe nur nicht gar so wortwörtlich nehmen, sondern als groben Hinweis. Doch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind hoch interessant, wenn man nach den Wirkungen der Finanzkrise fragt (Ball 2014). Man könnte interpretierten: Die Abweichung vom Potenzial-Wachstum zeigt an, in welchem Maß einzelne Wirtschaften die Gegebenheiten nach 2008 genützt haben, und wieweit sie sein könnten, wäre diese Krise und ihre politische „Bewältigung“ nicht aufgetreten.
Sehen wir uns auf diese Frage hin die Tabelle der eben genannten Publikation an!
Sie enthält neben den westlichen Ländern (plus Ungarn und Tschechien) der EU die Schweiz sowie einige andere OECD-Staaten (USA, Australien, NZL, Canada). Auffällt als erstes, dass die Nicht-EU-Wirtschaften durch die Bank besser dastehen, auch die USA, wo die Finanzkrise schließlich ihren Ausgang nahm. Besonders auffällig ist die Schweiz. Dieses Bankenland, das doch besonders schwer getroffen sein müsste, wäre die Finanzkrise „nur“ eine Finanzkrise, weicht in die Gegenrichtung ab: Das reale Wachstum überschreitet das Potenzial-Wachstum, so merkwürdig dies klingt. (Es sei nochmals an den Zweifel am Begriff selbst erinnert!)
Doch damit ist das Interesse an dieser Tabelle keineswegs erschöpft. Deutschland weicht von seinem Potenzial auch nicht ab, ja würde, nach dieser Rechnung, 2015 tendenziell sogar einen „negativen output-gap“ haben, also mehr produzieren, als man es nach langjähriger Performanz erwarten könnte. Die Satelliten des seinerzeitigen DM-Blocks hingegen hätten leichte Verluste zu verzeichnen: Österreich, die BeNeLux-Länder, auch Schweden. Wieder ist zu erinnern: Der Effekt einer gewöhnlichen Rezession ist hier nicht berücksichtigt. Man kann also sagen: Wir können es nicht auf das Komma sagen, was uns diese Währungsunion wirklich kostet. Nach dieser Kennzahl hätten diese Länder des Zentrums wirtschaftlich nicht viel verloren, jedenfalls aber nichts gewonnen. Dasselbe gilt übrigens auch für Frankreich, und das ist wichtig und interessant.
Die eindeutigen Verlierer aber sind der Olivengürtel sowie Ungarn und Tschechien. Die anderen Länder der Osterweiterung scheinen mit Ausnahme Polens nicht auf. Über Polen später noch ein Satz. – Griechenland, mit geringem Abstand Irland, Ungarn und Spanien, aber auch Portugal und Italien, doch auch Finnland und Großbritannien, also zwei Länder des „Nordens“, haben schwer gelitten und leiden weiter.
Polen scheint es gelungen zu sein, nach dem überlangen Abstieg nach der „Wende“ sich den letzten Turbulenzen etwas zu entziehen. Woran dies liegt, außer daran, dass irgendwann selbst nach der tiefsten Krise eine gewisse Erholung kommen kann, die im Übrigen noch nichts über den Vergleich des Niveaus von seinerzeit und heute sagt, ist hier nicht völlig klar.
Das Bild ist klar genug, auch wenn man sich nicht völlig auf die schein-genauen Zahlen verlassen kann. „Deutschland“ – wer immer dies ist, ist eine andere Sache – hat durch die Finanzkrise gewonnen. Zur gesteigerten politischen Macht mit dem Anschluss der DDR kam eine Restrukturierung der europäischen Wirtschaft, die dieses Land so unbestritten an der Spitze sieht, wie es seit wilhelminischen Zeiten nicht mehr der Fall war. Auch Frankreich ist relativ nun eindeutig zweite Klasse. Über die anderen Probleme, den Abbau der Demokratie, die langsame aber zielstrebige Zerstörung des bisherigen Sozialstaats durch den Fiskalpakt, die zunehmend aggressive Außenpolitik, sprechen wir hier nicht. Das deutsche Mitteleuropa, das Kriegsziel des Ersten Weltkriegs, ist nun Wirklichkeit.
- Dezember 2015
Ball, Laurence (2014), Long-term damage from the Great Recession in OECD countries. In: European Journal of Economics and Economic Policies 11, 149 – 160.