KATALONIEN, SCHOTTLAND, QUÉBEC: SOUVERÄNITÄT ODER ABHÄNGIGKEIT? Selbstbestimmung und ihr Ziel

Katalonien hat reale Chancen auf Unabhängigkeit. Der beste Verbündete der katalanischen Separatisten war seit je die Madrider Zentralregierung. Da spielte es wenig Rolle, ob die rabiate PP sie trug oder die PSOE. Podemos, möglicher Partner einer PSOE- (Minderheits-) Regierung der nächsten Zeit, ist antiseparatistisch, aber pro-Selbstbestimmung, zumindest in der Rhetorik. Ausgerechnet in diesem Punkt ist sie also klassisch-leninistisch.

Was passiert, wenn sich Katalonien wirklich von Spanien trennt? In der Absicht der Mehrheit unter den Separatisten bleibt Katalonien einfach das 29. Mitglied der EU. Das setzt allerdings voraus, dass Brüssel-Berlin nicht verrückt spielt. Auf das kann man sich aber nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht verlassen. Den Damen und Herren dort ist ziemlich Alles zuzutrauen. Wenn sie aber rational bleiben, wenn sie ihren eigenen Vorteil bedenken, dann hat die EU ein neues Mitglied, und vielleicht in Kürze noch eines, Schottland.

Was aber hat sich dann für Katalonien und Schottland geändert? Der erste Reflex ist zu sagen: Nichts.

Hier beginnen unsere politischen und auch theoretischen Probleme.

In der Journaille läuft seit Jahren der Spruch um: 80 Prozent aller politischen Entscheidungen fallen heute in Brüssel. Das ist natürlich eine metaphorische Redewendung. Die Grundsatz­entscheidungen, das heißt der Spruch, fallen in Brüssel-Berlin. Die Implementierung im Rahmen des Systems des europäischen Verwaltungs-Föderalismus obliegt aber den National­staaten. Die EU hat nur einen Verwaltungsapparat geringen Umfangs. Das ist eine gewisse Schwäche. Sie arbeitet daher mit der gewohnten bemerkenswerten Zähigkeit daran, sich hier Kompetenzen zu verschaffen. Dazu nützt sie insbesondere Krisen. Die Bankenaufsicht („Bankenunion“) ist ein Beispiel. Ein anderes ist der aktuelle Vorschlag, den Schutz der Außengrenzen direkt zu übernehmen.

Verwaltung ist schließlich nicht einfach eine mechanische, automatische, neutrale Über­setzung der politischen Entscheidungen in den Alltag. Die Juristen, die solches stets behaupten, wissen selbst am besten, dass dies nicht stimmt. Verwaltung ist die direkte Ausübung von Herrschaft. Sie hat viel Entscheidungsspielraum. Sie gestaltet damit das konkrete Ergebnis der Herrschaft. Somit ist der Übertritt in einen Status, der autonome Verwaltung erlaubt, für eine bisherige Region nicht ohne Bedeutung. Es ist der Schritt von der subnationalen Ebene, die stets der Aufsicht der Zentralmacht unterliegt, zur nationalen Ebene, die bei aller Beschränkung mittlerweile wesentlich größere Möglichkeiten besitzt.

Aber gleichzeitig hat diese Gestaltungsmacht doch ihre engen Grenzen. Für die einzelne betroffene Person hat Verwaltungsmacht gewöhnlich wesentliche Auswirkungen, kann Schikane sein oder auch Begünstigung. Doch in einem modernen bürokratischen „Rechtsstaat“ ist einfach die vorgegebene Basisstruktur zu verwirklichen.

Zur Basis-Struktur gehört an herausragender Stelle das €-Regime. Die katalanischen Zentris­ten ebenso wie die linksliberalen Nationalisten wollen es beibehalten. Die schottischen Natio­nalisten streben sogar einen Beitritt dazu an. Damit könnte man fragen: Warum wollen sie die Krot denn eigentlich fressen – die absehbaren Turbulenzen einer Herauslösung aus dem bis­herigen Staat in Kauf nehmen? Denn diese werden wesentlich stärker ausfallen, als etwa ein Austritt aus der Währungsunion. Denn seit Jahrhunderten sind ihre politischen und sozialen Systeme mit denen des bisherigen Hegemonialstaats engst verschränkt.

Eine Unabhängigkeit hat unterschiedliche Aspekte. Der symbolische ist nicht die geringste Seite. Aber wesentlicher dürfte denn doch der (Ver-) Teilungsaspekt sein.

Katalonien ist nach dem Baskenland die höchst entwickelte territorial ausgelegte Region – d. h. ohne Madrid – in Spanien. Vielleicht ist das Schlagwort der oberitalienischen Regionalisten „Roma ladrone“ in Spanien nicht so ausgeprägt. Weit dürfte es den Katalanen doch nicht ab­liegen. Es geht also auch um die innere Umverteilung in Spanien. Das ist natürlich eine zwie­spältige Angelegenheit. Einerseits kann es den Katalanen niemand verargen, wenn sie sich nicht zugunsten eines Zentrums aussäcken lassen wollen, das sie immer diskriminiert und schlecht behandelt hat. Andererseits ist die Frage des Teilens miteinander ein Kern jeder politischen Gesellschaft. Um nicht missverstanden zu werden: Ich spreche jetzt auf einer ziemlich hohen Abstraktionsstufe. Denn die Frage des Teilens ist hauptsächlich eine der Struktur. Ob man für ein Teilen mit Strukturen, die man ablehnt, Sympathie aufbringen kann oder soll, ist eine ganz andere Frage.

Eine zweite Frage ist schließlich viel stärker politischer Art. Mit 7 1/2 Millionen Einwohner (Schottland 5,3 Mill.) und dem vergleichsweise hohen BIP (2013: 200 Mrd. €, also etwa 2 Drittel von Österreich) hätte Katalonien etwa ein Gewicht vergleichbar jenem von Österreich oder Dänemark oder Schweden. Das ist ein Kleinstaat, aber kein Mikrostaat, wie Zypern oder Luxemburg, auch nicht mehr eine solche Zwischenkategorie wie Slowenien oder die Balti­schen Staaten. Es wäre also, nennen wir das – politisch lebensfähig. Aber es wäre doch ver­hältnismäßig stark abhängig von einem Gebilde wie die EU. Denn diese würde weiterhin die Grundlinien vorschreiben. Sie würde es auch versuchen, wenn Katalonien nicht Mitglied der EU wäre. Diese Art der Abhängigkeit macht mir persönlich großes Unbehagen, wenn ich an einen anderen Kandidaten für die nationale Unabhängigkeit denke: Québec. Dort wäre die Abhängigkeit von den USA möglicher Weise schlimmer, als es jetzt die Abhängigkeit der Provinz von Kanada ist.

Mit der Selbständigkeit allein ist noch nicht allzuviel getan. Wir haben ein Muster-Beispiel in Europa, dass dies an sich völlig unzureichend ist. Irland wurde nach seiner Unabhängigkeit schnell zum katholischen Nord-Korea auf unserem Kontinent, und zwar bis gegen die Jahr­tausendwende hin. Heute hängt das Land am Gängelband der US-Konzerne und am Nasen­ring der EU. Die zwischenzeitlich hohen BIP-Kennzahlen des „keltischen Tigers“ haben verborgen, dass ein enorm hoher Teil als Gewinn-Transfers, ob direkt oder über irgendwelche Manöver verborgen, abfließt. Die Finanz- und Eurokrise hat überdies die Instabilität der Situation aufgedeckt.

Sosehr unsere Sympathie den katalanischen Souveränisten gilt, sosehr eine solche Unabhän­gigkeit die Politik aufmischen würde und damit auch neuen Überlegungen und Projekten eine Denkmöglichkeit böte, so ist doch unter uns diese Sympathie verhältnismäßig wenig disku­tiert und reflektiert. Sie hat Voraussetzungen und Folgen, die es anzusprechen gilt.

Nationale Selbständigkeit mit ihrer politischen Entscheidungsbefugnis und -fähigkeit (natio­nale „Souveränität“) ist in einer globalen Struktur, welche die Menschheit erschöpfend in unabhängige Staaten aufteilt, noch immer die Grundvoraussetzung für ein eigenständiges politisches Projekt. Dies gilt umso stärker, wenn dieses politische Projekt die bisherige Herr­schaft in Frage stellen will, eine Grundsatzentscheidung treffen möchte, einen Bruch mit dem derzeitigen System anstrebt. So ist es richtig, wenn gerade in den lateinischen Ländern, inklusive Südamerika, die Nation selbst als politisches Projekt definiert wird. Auch wir streben eine Renationalisierung an. Wir haben keinerlei Nostalgie nach einer identitären Illusion der allgemeinen sozialen Harmonie und schon erst recht nicht Sympathien für expansionistischen Chauvinismus. Wir wollen aus der Sackgasse des Imperiums heraus. Dazu brauchen wir einen radikalen Neuanfang. Wir streben die Offenheit des Systems an, um überhaupt wieder ein zukunftsorientiertes Projekt entwerfen zu können.

Das hat politische Folgen für unsere Einstellung nicht nur zu Katalonien und Schottland. Eine nationale und auch eine ethnistische Politik hat nur dann Sinn, wenn das Ziel eine solche Neuorientierung ist. Alles andere ist rückwärtsgewandte Nostalgie und belanglose Folklore. Mit der Qualifikation „ethnistisch“ will ich ausdrücken: Das gilt nicht nur für die Selbstbe­stimmung nationaler Einheiten. Dies gilt auch für Minderheiten-Bewegungen überall in Europa, auch in Österreich. Wie groß oder klein deren Umfang ist, steht unter dieser Perspektive nicht zur Debatte.

Das sind auch keine abstrakten, folgenlosen Deklarationen. Ein Großteil der europäischen Ethno- und Sprach-Minderheiten hat sich auf die EU orientiert. Diese EU unterstützt sie, solange sie brav und folkloristisch bleiben, züchtete sogar einen eigenen Verein namens EBLUL heran. Kann es seitens der Minderheiten ein größeres Missverständnis geben? In ihrem Eifer, sich gegen den eigenen Zentralstaat und deren hegemonialen Machthaber mit den Antinationalen zu alliieren, übersahen sie, dass diese „eigenen“, „nationalen“ politischen Eliten längst die Speerspitze des antidemokratischen Supranationalismus darstellen. Anstelle von Selbstbestimmung, Demokratie, Emanzipation unterstützen europäische Minderheiten in ihrer großen Mehrzahl heute Zentralismus, Bürokratie und Unterordnung.

Ein selbständiges Katalonien gibt die eigene Selbständigkeit sofort wieder auf, wenn es in der EU bleibt. Ein selbständiges Schottland wird weniger selbständig als heute sein, wenn es sich in den Euro-Raum drängt.

Aber das würde nicht nur Katalonien und Schottland, demnächst dann vielleicht Korsika und das Baskenland, betreffen. Eine solche Politik der neuen Abhängigkeit hätte Folgen für alle anderen Bewegungen, welche sich auf die eigene Identität berufen, um mehr Autonomie und Selbstbestimmung zu erlangen. Eine solche Politik der Reduzierung des eigenen Anspruchs auf Sprachfragen und ohnehin kaum gegebene kulturelle Differenz oder Diversität würde jeden subnationalen Anspruch auf Bestimmung über sich selbst auf Dauer und irreparable beschädigen. Der emanzipativ-demokratische Anspruch der nationalen und ethnischen Bewegung wäre nach einem solchen Beispiel verloren. Wer weiß: Vielleicht wäre eine solche Desillusionierung auch heilsam für manche souveränistischen Flausen. Dann allerdings brächte ein solches Paradigma Katalonien tatsächlich eine noch viel radikalere Neuorientie­rung als wir es uns vorstellen.

  1. Dezember 2015