Krise der Weltwirtschaft, erneute Eurokrise: Ein Plan B für Europa?

Von Klaus Dräger

Die ‚Weltwirtschaft’ steht vor düsteren Zeiten – so das Fazit vieler Auguren auf dem Eliten-Forum von Davos 2016. Der sinkende Ölpreis, der Verfall anderer Rohstoffpreise, das abfla­chende Wachstum in China – das ist (vordergründig) der Stoff, den der Kapitalismus der ‚globalen Turbulenz’[1] zu verdauen hat. Dies drückt auf die Einnahmen der sich industrialisie­renden Schwellenländer inklusive Russland. Es lässt dort sowohl private wie staatliche Schul­den explodieren, und dämpft künftig u.a. wohl auch die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen des ‚Exportvizeweltmeisters Deutschland’. Nervöse Börsen, Absturz der Kurse auf Raten – das erinnert viele ‚Analysten’ an das Vorspiel zur ‚Großen Rezession’ 2007/2009.

7 Jahre Stagnation und die Folgen

Wie steht es um die stets von IWF, EU-Kommission etc. beschworene ‚wirtschaftliche Erho­lung’ seither? Ende 2015 laut IWF: das inflationsbereinigte Pro-Kopf-Einkommen in nationa­ler Währung war in 11 von 20 der untersuchten ‚westlichen’ Länder niedriger als zu besseren Zeiten vor Einbruch der Krise in 2008.[2] Sogar in Deutschland als dem Land mit dem höchsten Wachstum des Pro-Kopf-Einkommens wuchs es 2008 – Ende 2015 nur noch um 0,8 Prozent jährlich. Japan schaffte während seiner zwei ‚verlorenen Jahrzehnte’ von Deflation/Stagnation 1990 bis 2010 immerhin diesbezüglich noch ein jährliches Wachstum von 1 Prozent. Kurzum – es gab seit 2008 keine reale wirtschaftliche Erholung in den Ländern des ‚Westens’. Son­dern im Durchschnitt Stagnation, und sogar vertiefte Krise in den wirtschaftlich schwächeren Ländern.[3]

„Die heutige Lage ist schlimmer als 2007“, verkündete der frühere Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ, die ‚Zentralbank der Zentralbanken’) William White in Davos.[4] Nach der Pleite von Lehman Brothers seien die Schwellenländer (emerging markets) stabil geblieben und damit Teil der Lösung der Krise gewesen. Nun seien auch sie Teil des Problems eines immer instabiler werdenden globalen Finanzsystems.

Nullzinspolitik und geldpolitische Lockerung (QE, quantitative easing) der Zentralbanken der reichen Industrieländer hätten in einer Welt des freien Kapitalverkehrs zu massiver Kreditauf­nahme in Dollar in Ostasien und weiteren Schwellenländern geführt. Und damit abermals Spekulationsblasen angetrieben. Nun seien öffentliche und private Schulden zusammen genommen in den Schwellenländern auf 185 Prozent des BIP und im OECD-Raum auf 265 Prozent des BIP angestiegen. Wenn die Blasen abermals platzten, stehe eine harte Landung mit neuen Bankenkrisen bevor.

EU-Banken hätten bereits 1 Billion Dollar notleidender Kredite zugegeben, seien durch ihren Kapitalexport in die Schwellenländer nochmals krisenanfälliger geworden, und hätten verdeckte faule Kredite von vorher wohl vertuscht. Das europäische Bankensystem müsse im Fall einer abermaligen globalen Rezession in einem bislang unvorstellbaren Ausmaß re-kapitalisiert werden.

Dies ergibt ein insgesamt düsteres Szenario: Weltwirtschaftskrise, Finanzkrise, Banken­kollaps, Eurokrise – alles kommt erneut zusammen. Die ‚makroökonomische Munition’ zum Gegensteuern ist durch vormalige Bankenrettung, lockere Geldpolitik etc. aber bereits weitgehend verpulvert worden.

„Plan B“ für Europa

Bereits seit 2011 sah Oskar Lafontaine „das Ende des Euro kommen“[5]. Seine und ähnliche Kritiken von Heiner Flassbeck und anderen sind bekannt. Stichworte: verfehlte Banken­rettung, dadurch steigende öffentliche Verschuldung, Austeritätspolitik, die alles schlimmer macht; eine ohnehin falsch konstruierte Währungsunion mit dem Ergebnis, dass Löhne, real­wirtschaftliche Entwicklung, Leistungsbilanzen etc. im Euroraum immer weiter auseinander driften. Das durch den Europluspakt und den Fiskalvertrag nochmals verschärfte Euroregime zwingt vor allem Länder mit Leistungsbilanzdefiziten zu einer Politik der ‚inneren Abwer­tung’ (Lohnkürzungen, Sozialabbau usw.), um angeblich ‚internationale Wettbewerbsfähig­keit’ zurück zu gewinnen. Dass dies so nicht funktioniert, haben die letzten Jahre gezeigt: Verarmung großer Teile der Bevölkerung, weitere De-Industrialisierung und Anstieg der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte vor allem in den Ländern Südeuropas, aber nicht nur dort. Nun kommen die Risiken einer erneuten Wirtschafts-, Finanz- und Eurokrise hinzu.

Als Reaktion auf die Diktatpolitik der EU gegenüber der von Syriza geführten Regierung in Griechenland lancierten Oskar Lafontaine, Jean Luc Mélenchon und andere eine „Plan B“-Initiative, die in Paris am 23./24.1.2016 stattfand. Diese Tagung diskutierte vor allem, ob der Euro durch ein reformiertes Europäisches Währungssystem (EWS) abgelöst werden solle.[6] Die Währungsunion werde über kurz oder lang zerbrechen, weil die durch das Euroregime verursachten wirtschaftlichen und sozialen Spannungen auf Dauer nicht von den vom deutschen Kapital und seiner Regierung dominierten Ländern des europäischen Südens und anderen ertragen werden könnten – so die Analyse.

Um eine chaotische Auflösung der Eurozone zu verhindern, wird ein EWS als ‚europäische Auffanglösung’ vorgeschlagen. Dabei könne man auf die Erfahrungen des von 1979 bis zum Start des Euro 1999 bestehenden EWS zurückgreifen. Also auf währungspolitische Instru­mente, die in der Vergangenheit einigermaßen funktioniert haben. Das EWS wäre ein System, in dem Auf- und Abwertungen der ihm angeschlossenen Währungen politisch zwischen den Regierungen verhandelt würden, und je nach Bedarf angepasst werden könnten.

Für den öffentlichen Diskurs ist das m. E. erstmal vernünftig. So kann sich die EU- und euro­kritische Linke als Kraft darstellen, die in scharfer Abgrenzung zu den Rechtspopulisten eine europäische Lösung will, die Probleme vielleicht besser anpackt und demokratische Volks­souveränität schützt, als das derzeitige autoritäre Euroregime mit Deutschland als Zucht­meister Europas.

Der linke italienische Ökonom Emiliano Brancaccio schlug in Paris vor, ein EWS u.a. durch Kapitalverkehrskontrollen abzusichern, sowie zusätzlich selektive protektionistische Maß­nahmen zuzulassen (um z.B. Re-Industrialisierungs-Strategien in den europäischen Südlän­dern zu unterstützen). Auch dies erscheint mir vernünftig, und steht dann im Konflikt mit den EU-Binnenmarktregeln.

Interessanterweise war es der Rat der Eurogruppe, der 2013 die Einführung von Kapitalver­kehrskontrollen in Zypern durchsetzte – nachdem der neue konservative Präsident Anastasi­adis dort die Auflagen der Troika für ein ‚Rettungsprogramm’ akzeptiert hatte. In diesem Fall ging es ja nicht um ‚unser’ Geld – d.h. von Banken der EU-Kernländer – sondern von Anle­gern aus Russland, Großbritannien und dem Nahen Osten. Sie sollten es nicht abziehen können und wurden voll dem Schuldenschnitt unterworfen. Die EU-Eliten sind somit durchaus in der Lage, ‚linke’ Instrumente wie Kapitalverkehrskontrollen anzuwenden – sofern dies nicht die Interessen ‚ihrer’ Finanzkapitale berührt. Wie ist es umgekehrt, wenn eine ‚linke Regierung’ die Finanz­industrie der EU-Kernländer zur Verantwortung zwingen wollte?

Ein neues EWS – und alles wird gut?

So einfach liegen die Dinge wohl auch nicht.[7] Erinnern wir uns an Frankreich 1981: Mitterand hatte die Präsidentschaftswahl gewonnen mit einem Programm für Vollbeschäftigung, Ver­staatlichung der Banken und einiger großer Unternehmen, für Re-Industrialisierung, Absen­kung des Renteneintrittsalters und einer Einkommenspolitik für die unteren Schichten zur Belebung der Binnenwirtschaft.

Dies geschah in einem internationalen Umfeld, wo Ronald Reagan US-Präsident wurde, US-Zentralbankchef Paul Volcker den Leitzins drastisch erhöhte (‚Volcker-Schock’), die Bundes­bank nachzog und der Rest der EWG auf Bekämpfung der Inflation gepolt war. Frankreich hätte eine deutliche Abwertung des Franc um 20 Prozent benötigt, um diese Strategie der Sozialisten wirksam werden zu lassen. Der damalige Industrieminister Jean Pierre Chevène­ment verlangte den Austritt Frankreichs aus dem EWS und selektive protektionistische Maß­nahmen, um die Re-Industrialisierungsmaßnahmen und das Vollbeschäftigungsprogramm abzusichern.

Mitterand versuchte vergeblich, den damaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) davon zu überzeugen, mit Frankreich zusammen eine halbwegs keynesianische Strate­gie für Vollbeschäftigung in Europa zu vereinbaren. Nach einigen mickrigen Abwertungen des Franc und ebensolchen Aufwertungen der DM 1981 – 1983 entschied sich die französi­sche Linksregierung zu einem radikalen Umsteuern. Der Franc sollte nach dem Vorbild der DM zur ‚Hartwährung’ ertüchtigt werden, unter Jacques Delors wurde der ‚tournant de la rigeur’ (Austeritätspolitik) proklamiert, und damit das ursprüngliche Programm der Sozia­listen aufgegeben. Dies alles, um der ‚europäischen Integration’ zu dienen. Die Sozialisten wurden dann bis 1993 in mehreren Stufen von ihren WählerInnen hart abgestraft.[8]

Ähnlich die Fragen aus der ersten ‚Griechenlandkrise’ 2010/2011: ein von vielen Ökonomen geschätzter Abwertungsbedarf von 30 – 50 Prozent. Das könnte von einem neuen EWS nicht aufgefangen werden. Insofern: ein erneuertes EWS propagieren – ja. Aber reale und absehbare weitere Krisenentwicklungen (siehe oben) könnten auch dazu führen, dass vor allem von ‚Linksbündnissen’ geführte EU-Länder daraus ausscheren müssten. Sofern sie ihr Programm umsetzen wollten, mit dem sie demokratische Wahlen gewannen.

Nostalgie gegenüber dem ‚alten EWS’ halte ich für unbegründet. Es war hierarchisch struk­turiert (im wirklichen Leben, nicht in der ‚Modell-Theorie’). Die DM als harte Währung diente als ‚Anker’. D.h. alle Teilnehmerländer sollten versuchen, ihre Währung in Richtung der DM ‚härter’ zu machen, um von den weiteren in die engeren ‚Schwankungs-Bandbreiten’ vorzudringen. Im politischen Klima der 1980er und 1990er, wo ‚Inflationsbekämpfung’ das oberste Ziel war, ist es m.E. nicht verwunderlich, dass im alten EWS Abwertungen einzelner EG-Länder dort nicht zu einem heimischen Inflationsschub führten.

Das alte EWS war in dieser Hinsicht in der Praxis ‚asymmetrisch’ angelegt: ‚Anpassungslas­ten’ hatten vor allem die ‚Schwachwährungsländer’ (z.B. Italien, Spanien, Portugal usw.) zu tragen, die sich immer wieder an den ‚DM-Standard heranrobben’ (Tietmeyer, damals Bundesbankchef) mussten.[9] Sie wurden von der deutschen ordo-liberalen Orthodoxie im Vorlauf zur Währungsunion als lasziver ‚Club Med’ gebrandmarkt, den man auf keinen Fall in die WWU hereinlassen dürfe.[10]

Als dann mit dem Vertrag von Maastricht Kurs auf die Währungsunion genommen und des­halb weitgehend auf Auf- und Abwertungen verzichtet wurde, konnte ein gewisser George Soros 1992/93 mit spekulativen Attacken die Bank of England in die Knie zwingen. Groß­britannien und Italien schieden aus dem EWS aus, die ‚Bandbreiten’ wurden für alle auf 15 Prozent festgesetzt (was schon eher ‚flexiblen Wechselkursen’ entspricht). Das alte EWS – eine ‚Erfolgsgeschichte’? Seine historische Bilanz ist eher ‚durchwachsen’.

Zu Nutzen und Grenzen von ‚Modell-Debatten’

Glauben die auf der Pariser Plan B Konferenz versammelten Kräfte daran, es ließe sich eine europäische oder nationale Massenbewegung für ein ‚neues EWS’ erzeugen? Vermutlich nicht. Für Erwerbslose, Arme, ArbeitnehmerInnen und selbst die ‚Mittelschichten’ sind Fragen nach einem anderen Währungsregime in Europa allein zu komplex und von ihrer Lebenswirklichkeit soweit entfernt, dass sie solche ‚Alternativen’ bestenfalls in den Grundzügen (und eher auf einer ‚sozialen Werteebene’) nachvollziehen und bewerten würden.

Antworten zu geben auf Fragen, die den ‚90-Prozent’ auf den Nägeln brennen: soziale Sicher­heit, ökologischer und sozialer Umbau/nachhaltige Entwicklung, Demokratie, Geopolitik des Westens/Flüchtlingskrise etc., Erhaltung des Friedens usw. – auch diese Themen wurden in Paris durchaus diskutiert. Alternative Vorschläge zum existierenden währungspolitischen Regime in der EU sind m.E. ein notwendiger Mosaikstein in diesem Rahmen. Aber das reicht bei weitem nicht hin, um linke gesellschaftspolitische Veränderungsphantasie (und erst recht ‚Bewegungen’) zu beflügeln.

 

Klaus Dräger ist freier Autor in Köln und Mitglied des Beirats der Zeitschrift ‚Z‘ – Marxistische Erneuerung.

 

[1] Siehe Robert Brenner: The Economics of Global Turbulence: The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945-2005, London, Verso, 2006. Seine zusammenfassende Einführung dazu von 2009 hier: http://www.sscnet.ucla.edu/issr/cstch/papers/BrennerCrisisTodayOctober2009.pdf

[2] In weiteren fünf Ländern – Österreich, Schweiz, Island, Irland und Großbritannien), war es nur marginal höher (0,05 % in Österreich bis 0,3 % in Irland).

[3] Siehe Ha.-Joon Chang: Don´t blame China for these global economic jitters; The Guardian, 21.01.2016

[4] World faces wave of epic debt defaults, fears central bank veteran; The Telegraph UK, 19.01.2016

[5] Lafontaine-Interview auf Spiegel-online vom 13.12.2011; http://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-spitzenpolitiker-lafontaine-sieht-ende-des-euro-kommen-a-803229.html

[6] Siehe Martin Höpner: Voran in ein erneuertes Europäisches Währungssystem – und alles wird gut? http:/­/www.flassbeck-economics.de/voran-in-ein-erneuertes-europaeisches-waehrungssystem-und-alles-wird-gut/

[7] Martin Höppner, der dieses Modell propagiert und zum alten EWS eine faktenreiche empirische Studie vorgelegt hat, behauptet dies auch nicht.

[8] Eine m.E. profunde Analyse dieser Epoche bieten Serge Halimi, Jonathan Michie und Seumas Milne: The Mitterand Experience; in: J. Michie and J. Grieve-Smith (eds): Unemployment in Europe, London, Academic Press, 1994. Siehe auch den Beitrag von Jonah Birch hier: https://www.jacobinmag.com/2015/08/francois-mitterrand-socialist-party-common-program-communist-pcf-1981-elections-austerity/

[9] Vgl. z.B. Heinz-Peter Spahn: Die Krise des EWS und die brüchigen Grundlagen der Leitwährungsordnung; in: Claus Thomasberger (Hg.): Europäische Geldpolitik zwischen Marktzwängen und neuen institutionellen Regelungen, Marburg 1995; S. 171 – 199

[10] Das war damals schon der Vorlauf zur jüngeren Propaganda von den ‚faulen Griechen’, den ‚Müßiggängern’ der EU-Südländer, und den korrupten, vom Staatssozialismus verdorbenen Osteuropäern. Deutschland und die ‚Nordeuropäer’ sind demgegenüber ‚rechtschaffen’ und ‚arbeiten hart’ – was jede vergleichende Statistik widerlegt. Die Manipulationen der Deutschen Bank- sie ist deshalb mit Milliardenbeträgen vor diversen Gerichten konfrontiert – sie zählen nicht. Die Zeche sollen ihre Beschäftigten durch Personalabbau begleichen – wie immer. Das verschärfte Euroregime produziert seinen eigenen Ausgrenzungsmechanismus. Es hetzt Nationen und Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf, und de-legitimiert somit selbst die von ihm propagierte ‚Europa-Idee’ von ‚Einheit in der Vielheit’ und einer immer enger zusammenwachsenden ‚Union’. Vielleicht ist diese ‚kulturelle’ Komponente der Eurokrise noch wichtiger als die eigentlich ökonomische.