von Wilhelm Langthaler
Am 9. Februar 2016 rief der ehemalige griechische Finanzminister seine neue Bewegung ins Leben – in Berlin, der De-facto-Hauptstadt des Euro-Regimes. Nach der griechischen Kapitulation im Sommer 2015, die die Anhänger des sozialen Europa in ihrem Glauben zutiefst erschütterte, hatte Varoufakis noch mit einem Plan B für Europa geliebäugelt – wenn auch halbherzig und inkonsequent. Doch nach dem Wahlerfolg von Podemos schien die gänzliche Kehrtwende nun opportun. Als hätte es die griechische Niederlage nie gegeben, tischt er uns die alte Illusion der sozialen EU neu auf, nun mittels einer „transnationalen Bewegung“. Bei der Plan-B-Konferenz in Januar in Paris hatte Lafontaine eine solche Haltung zutreffend qualifiziert: Warten auf Godot.
Der „Rückzug in den Kokon unserer Nationalstaaten“ sei genauso bedrohlich wie die „Unterwerfung unter Brüssels demokratiefreie Zone“. Der Zerfall der EU wird direkt und organisch mit Rechtspopulismus und Nationalismus sowie indirekt sogar mit Faschismus und Krieg in Verbindung gebracht – einer EU die an sich als Friedensprojekt eine ungeheure zivilisatorische Errungenschaft sei. Im fantastischen Manifest von Diem25 liest sich das folgendermaßen:
„Die Europäische Union war eine außerordentliche Leistung. [Hervorhebung in Original] Sie hat europäische Völker, die unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Kulturen pflegen, in Frieden zusammengeführt und damit bewiesen, dass es möglich ist, einen gemeinsamen Rahmen der Menschenrechte* auf einem Kontinent zu errichten, auf dem vor noch nicht allzu langer Zeit mörderischer Chauvinismus, Rassismus und Barbarei herrschten. Die Europäische Union hätte der sprichwörtliche Leuchtturm sein können, sie hätte der Welt zeigen können, wie aus jahrhundertelangen Konflikten und Bigotterie Frieden und Solidarität entstehen können.“
Quasi als stilles Eingeständnis der Unredlichkeit dieses Arguments stellen Varoufakis und seine Mitstreiter dem ein unverbundenes zweites an die Seite. Die Globalisierung könne nicht zurückgedreht werden, kein Nationalstaat könnte alleine der Misere entfliehen, denn die internationalen Verflechtungen seien bereits zu groß – also gäbe es kein Zurück.
Varoufakis bedient damit zwei zentrale Ideologeme der herrschenden Eliten, die damit ihre behauptete Alternativlosigkeit verteidigen. Ähnlich wie Kautsky vor hundert Jahren will er dem Superimperialismus einst in einer wundersamen Verwandlung einen sozialen Charakter aufprägen. Doch in der Logik der supranationalen Institutionen gibt es tatsächlich keine Alternative zum ungebremsten Neoliberalismus. Da muss man es schon wagen den Bruch und die Unter-Kontrolle-Nahme der Staaten als Gestaltungsinstrument der Mehrheit zu denken.
So unhaltbar und aussichtslos sich ein transnationales Reformprojekt auf EU-Ebene für uns auch darstellen mag, uns ist bewusst, dass diese Argumente unter den linksliberalen Mittelschichten sich nach wie vor einer gewissen Glaubwürdigkeit erfreuen. Ihre Lehre aus der Geschichte ist, dass es einer europäischen Kooperation bedarf. Dass diese exklusiv unter der Kontrolle der gleichen sozialen Eliten durchgeführt wird, die letztlich in Kontinuität der Serie an europäischen Katastrophen steht, wollen sie nicht sehen, weil sie sich keine Alternative vorstellen können. Viel größer ist ihre Angst vor dem Rechtspopulismus, der von der alten Rechten geführten sozialen Rebellion der Unterschichten. Gegen diese ziehen sie die liberalen Eliten vor.
Es ist notwendig sich mit diesen Argumenten zu befassen, denn jedes emanzipatorische Projekt gegen die kapitalistische Oligarchie braucht neben der Unterstützung der Unterschichten auch einen demokratisch gesinnten Teil des Mittelstandes auf seiner Seite.
Die Position Varoufakis’ fällt zusammen mit einer Verteidigungsoperation des linken Flügels des herrschenden Euro-Regimes. Verstaubte Gewerkschaftsbürokraten, abgehalfterte Sozialdemokraten und verbrauchte Altermondisten bedürfen des frischen Windes der modernen Medien-Inszenierung. Oder größer betrachtet: wer ist der bessere Exekutor des Eliten-Programms – Pasok oder Syriza? Die Antwort liegt auf der Hand. Und in Spanien wird sich das griechische Problem bald erneut stellen. Eine Große Koalition in Madrid mag in Berlin und Brüssel die bevorzugte Lösung sein, aber jeder weiß, dass dies nur temporären Aufschub brächte. Irgendwann wird man Podemos domestizieren müssen. Und es sieht nicht danach aus, dass Iglesias sich auf den Bruch vorbereiten würde. Im Gegenteil, die Umarmung mit Varoufakis deutet in eine andere Richtung. Doch glücklicherweise ist die Geschichte offen.
Gegenwärtig geht es wohl darum, die Geburt einer ernsthaften Plan-B-Bewegung, die das Euro-Regime tatsächlich von links attackieren könnte, zu verhindern oder zumindest zu verzögern. (So lange bleibt das politische Feld dem Rechtspopulismus überlassen). Man sieht, dass Varoufakis’ Plan C=A nicht nur einer Mittelstandsillusion entspringt, sondern auch einem akuten Bedarf der Eliten entspricht. Darum ist es so entscheidend, dass die Plan-B-Initiative sich von den Halbheiten abgrenzt und mit einer klaren Position des Bruchs endlich startet – denn es ist ohnehin bereits reichlich spät.
Aus all den Gründen steht zu befürchten, dass uns die Chimäre der sozialen und demokratischen EU noch länger begleiten wird, während Varoufakis selbst wie jedes Spektakel sich als flüchtig erweisen könnte. Als geläuterte (nicht erratische) Marxisten haben wir gelernt, dass sich der Unterbau mitunter sehr viel schneller bewegt als der Überbau. So könnte das Ende des Euro schneller als erwartet kommen (was nicht notwendigerweise deckungsgleich mit dem Zusammenbruch des dazugehörigen diktatorisch-ultraliberalen Regimes ist), die Realität also jene überholen, die sich hinter der Initiative Varoufakis’ versammeln und sich als Realpolitiker wähnen. Varoufakis selbst gibt jedoch lieber den Visionär: er fordert sogar einen europäischen Bundesstaat – welch Alptraum!
Zum Kern: Soziales und Demokratisches versus supranationaler Parastaat
Die EU- und Euro-Institutionen – von uns Euro-Regime genannt – sind gemeinsames Projekt der europäischen Eliten zur Durchsetzung des neoliberalen Programms. Die supranationalen Institutionen wurden nicht gegen die (National)staaten als solche aufgebaut, im Gegenteil sie stützen sich auf deren Spitzen. Aber sie sind direkt gegen den sozialen Kompromiss der 1970er Jahre gerichtet, kraft dessen der Staat eine gewisse soziale Umverteilung vornahm. Die EU hat den Gesellschaftsvertrag der Sozialreform aufgekündigt, um die (mit europäistischer Ideologie gedeckte) Diktatur der kapitalistischen Oligarchie durchzusetzen.
Dabei kann ein qualitativer Bruch in den 1970er Jahren festgestellt werden. Die alte EG war ein Staatenbündnis unter US-Vorherrschaft. Gegen die UdSSR war man im Sinne der Gewinnung von Hegemonie bereit soziale und demokratische Zugeständnisse zu machen und bei den schwächeren Staaten eine noch nie gekannte nationale Selbständigkeit zuzulassen. Mit dem Einbruch der ersten Nachkriegskrise kam es dann zum Zusammenstoß, der mit der Niederlage der Sozialreform endete. Die 80er Jahre sind vom ununterbrochenen und bis heute andauernden neoliberalen Rollback geprägt. Die supranationale Zentralisierung der EU organisiert und dient diesem permanenten Angriff auf die Subalternen – radikale Verschärfung der sozialen Ungleichheit, Binnenmarkt zur Durchsetzung der stärksten Kapitalien, gemeinsame Währung zur Disziplinierung der ehemaligen Weichwährungsländer. Letztlich führte dies entgegen den Versprechungen mit dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise 2007/8 zum Wiederaufleben der deutschen Herrschaft über Europa – statt mit Panzern nun eben mit Bankern.
Fazit: die EU ist ultraliberal oder sie ist nicht. Sie kann nicht sozial gewendet werden. Die sozialen wie politischen Reste des sozialen Kompromisses sind verkörpert im (National)staat. Es ist nur logisch, konsequent und politisch vernünftig, wenn sich die Subalternen in sozialer Selbstverteidigung der Wiedereroberung des (National)staates zuwenden. Die 70er Jahre waren kein Paradies, aber für die Unter- und Teile der Mittelschichten sicher besser als alles was danach kam. Der Ausgangspunkt für den Widerstand heute ist die Forderung nach der Wiederherstellung des Sozialen und des Demokratischen, und das geht nur im (Nationl)staat, denn dort gibt es zumindest noch die formalen Reste der Volkssouveränität, da gibt es Reste von alten Errungenschaften und da gibt es günstigere Kräfteverhältnisse als auf EU-Ebene, der fast blanken Diktatur des Kapitals.
Denn in der EU gibt es trotz aller Versprechungen auf Konvergenz extreme Unterschiede. Die Herrschaft der Eliten bedeutet die Herrschaft Deutschlands, des stärksten Staates. Die Eliten der anderen wollten sich an Berlin anhängen, ja bettelten förmlich unter den Euro-Schirm zu kommen, um mit dessen Unterstützung das ultraliberale Programm durchzuziehen. Die Hegemonie der Oligarchie ist in Deutschland und den Zentrumsländern noch weitgehend und durchdringend, während sie an der Peripherie sehr brüchig geworden sind. Es kommt einem Aufruf zum politischen Selbstmord gleich vom griechischen oder portugiesischen Widerstand zu verlangen, auf den sozialen Aufstand im Zentrum zu warten – so wie es Varoufakis’ transnationale Bewegung suggeriert. Im Gegenteil, die politisch fortgeschrittenen Bewegungen des Südens sollen und müssen vorwärts schreiten, den Bruch wagen, denn nur so kann Deutschland aufgerüttelt werden. Solange man der deutschen Exportmaschine keinen Sand ins Getriebe wirft, wird Berlin die breiten Massen (ungeachtet Hartz-IV) passiv halten können. Der Bruch mit dem Neoliberalismus muss quer durch die EU gehen, muss das Euro-Regime zerbrechen. Es ist dabei unvermeidlich, dass der Kampf den Gegensatz Zentrum-Peripherie aufgreift, so wie er das gesamte 20. Jahrhundert prägte. Das nicht sehen zu wollen oder gar verhindern zu wollen, heißt nichts anderes als die Position des Stärkeren, des Zentrums, zu beziehen.
Die neue Geschichte kennt keine soziale Revolution, keinen Bruch mit den kapitalistischen Eliten, die sich nicht auch des Nationalen bediente. Der Kern eines antikapitalistischen Projekts kann nur Hegemonie erlangen, wenn er den kapitalistischen Eliten die Herrschaft über die Nation streitig macht, sich als besseren Vertreter der Nation positioniert und die Eliten so isoliert – man erinnere sich an Gramsci. Das rein Soziale hat dazu noch nie ausgereicht und wird es auch in Zukunft nicht. Eine Alternative muss umfassend sein, den gesamten Demos erfassen und der ist zumindest in Europa national gefasst. Das gilt natürlich in erster Linie für die Peripherie. Aber es ist kein Zufall, dass der höchste je von der KPD erreichte Punkt der Widerstand gegen die französische Besetzung der Ruhr war. Durch die Sozialfaschismuslinie überlies man dann das Feld den Nazis…
Der Rechtspopulismus ist ein unvermeidlicher Bestandteil der Krise insbesondere in den Zentrumsländern, die historisch eine chauvinistische Kultur als Komponente mit sich führen. Doch das darf kein Vorwand sein, die Herrschaft der ultraliberalen Eliten als kleineres Übel hinzunehmen. Ein soziales und demokratisches, ja ein sozialdemokratisches Programm ist heute nur über den (National)staat möglich. Brandt, Kreisky oder Palme mögen die Referenzpunkte sein. Sie standen für gegenwärtig undenkbare Zugeständnisse der Eliten. Die heutige Problemstellung ist jedoch viel näher an Mitterrand, dem die Eliten die Reform bereits verweigerten und der in der Folge einknickte.
Heute bedarf es für ein simples sozialdemokratisches Programm einer wahren politischen Revolution, auch gegen die heutigen Sozialdemokraten die Teil der Konterreform sind. Es bedarf des Bruchs, den sich Tsipras nicht getraute und gegen den Varoufakis transnational wirbt – Iglesias kommt das gerade zupass.
Wir brauchen einen echten Plan B gegen das Euro-Regime. Er muss sehr breit sein und kann dem Inhalt nach als Ausgangsplattform moderat-sozialdemokratisch bleiben. Aber er muss von Anfang an und dezidiert zum Bruch mit der Oligarchie und zur Rückkehr zum (National)staat bereit sein, um in Richtung Volkssouveränität vorstoßen zu können.
Der einzige Weg den Rechtspopulismus zu bekämpfen ist, dem europäischen Supranationalismus, diesem Internationalismus der Eliten, entgegenzutreten. Wir sind gegen die Realverfassung der EU und ihre Zivilreligion – die drei Freiheiten der Elite: jene auf Bewegung von Kapital, Waren und Arbeitskraft im Dienste des größten Profits. Die Produktionsfaktoren müssen unter die politische Kontrolle der Mehrheit gestellt werden, die durch den (National)staat ausgeübt wird.
Der Einwand, dass die Globalisierung (national)staatliche Steuerung obsolet mache oder gar verunmögliche, vermischt zwei Ebenen. Das ist einerseits die Ebene der internationalen Arbeitsteilung und damit Verflechtung, die man auch als Ausdruck hoher Produktivität fassen kann. Aber dann ist da die politische Ebene, wo die starken Staaten des Zentrums den Freihandel und den Rückzug des Staates als Protektor der Schwächeren predigen, während sie selbst unentwegt ihrem Kapital dienen, sie Bankenrettung oder den VW-Diesel-Imperialismus. Ein verstärktes staatliches Eingreifen zugunsten der Unteren, bedeutet nicht notwendigerweise eine Rücknahme der internationalen Arbeitsteilung (obwohl in einigen Bereichen sicher sinnvoll), sondern zuerst eine Verringerung der Ungleichheit.
Der Bruch mit der Globalisierung der Eliten und der stärksten Staaten wie USA, Deutschland (und damit mitten durch die EU) oder Japan eröffnet erst den Weg für eine tendenziell gleichberechtigte internationale Kooperation und damit auch der schrittweisen Überwindung des epochalen Zentrum-Peripherie-Gegensatzes.
Ein demokratischer Internationalismus geht über die Etablierung der Volksouveränität mittels Staaten, die sich als Nationen oder möglicherweise auch als größere politische Einheit definieren, so wie seinerzeit Jugoslawien. Die EU kann das jedoch nicht sein. Sie muss im Verteidigungskampf der Subalternen als Instrument der Eliten zerbrechen.
Wilhelm Langthaler
* Anmerkung von Albert F. Reiterer: Das ist einer jener verlogenen Darstellungen, wie sie im Zentrum der Euro-Enthusiasten stehen. Was haben Menschenrechte mit der EU zu tun? Menschenrechte wurden vom Europarat, lange vor der Gründung der EWG und natürlich umso länger vor der der EU, zu einer einklagbaren Realität westeuropäischer Länder. Die EU aber betrachtet seit je den Europarat als feindlichen Konkurrenten, den es zugrundezurichten gilt. Weiß Varoufakis nicht, dass die EU sich seit Jahrzehnten weigert, dem Europarat und damit der Menschenrechtskonvention beizutreten? Weiß Vaorufakis nicht, dass der EuGH dem Rat vor einem Jahr ausdrücklich einen solchen Beitritt verboten hat, als sich dieser dazu entschloss? Man fasst es nicht: Die Bürokratie hat es dem angeblich entscheidenden politischen Gremium verboten! Das also ist die „außerordentliche Leistung“ der EU bei den Menschenrechten!