von Martin Höpner
Am 9. Februar fand in der Berliner Volksbühne die Auftaktveranstaltung der maßgeblich vom ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis angeschobenen Initiative DiEM25 statt. Das Kürzel „DiEM“ steht hierbei für „Democracy in Europe Movement“ und 2025 für das Jahr der angestrebten europäischen Staatsgründung (ich komme hierauf unten ausführlich zu sprechen). Das Event war hochprofessionell organisiert und fand sowohl in der Presse als auch in den sozialen Netzwerken ein großes Echo. Hierzu kann man den Aktivisten von DiEM25 nur herzliche Glückwünsche aussprechen. In inhaltlicher Hinsicht hinterlässt die Initiative aber leider einen verheerenden Eindruck.
Dabei war der Ausgangspunkt klug gewählt. Es war und ist eine gute Idee, das autoritäre europäische Regieren in das Zentrum der Auftaktveranstaltung und des schriftlichen Manifests (es findet sich hier) zu rücken. Seit Beginn der Eurokrise intervenieren die europäischen Institutionen in vorher nicht gekanntem Maß in die Demokratie sowie in die Tarifautonomie der Sozialpartner. Das kommt in den Vorgaben der Troika, im Fiskalpakt, den neuen Überwachungs- und Korrekturverfahren und wirtschaftspolitisch konditionierten Anleihekäufen der EZB zum Ausdruck. Die Demokratiewirkungen dieser Interventionen malen die Aktivisten von DiEM25 in düsteren Farben. Von nicht rechenschaftspflichtigen Technokraten, dubiosen Institutionen und einem pseudo-technischen Fatalismus, der den Demos aus der Demokratie verschwinden lässt, ist da die Rede – und man kann nur von ganzem Herzen zustimmen.
Leider wird die konsequente und ausdrucksstarke Beschäftigung mit diesen Problemen von einem beredten Schweigen über alles begleitet, was mit dem Euro oder, allgemeiner formuliert, den Konvergenzerfordernissen von Währungsunionen zu tun hat. Mutmaßlich aus strategischen Gründen, denn über diese Dinge können sich progressive Kräfte aus unterschiedlichen Ländern und Zusammenhängen trefflich zerstreiten. Aber der strategische Schachzug, die Problemanalyse durch integrationistische Parolen zu ersetzen, funktioniert nicht. Er führt vielmehr zu einem politökonomisch entleerten, naiven und höchst angreifbaren Ergebnis.
Denn die Interventionen und Korrekturverfahren fallen ja nun nicht zufällig mit der Eurokrise zusammen. Sie sind vielmehr Antworten auf die weit geöffnete Schere zwischen den anspruchsvollen Konvergenzerfordernissen des Euro einerseits und der Unfähigkeit und Unwilligkeit seiner Teilnehmer, den Erfordernissen Rechnung zu tragen, andererseits. Ohne die Fähigkeit und den Willen zur mittelfristigen Synchronisation der Lohn- und Preisauftriebe kann der Verzicht auf Wechselkurskorrekturen nicht funktionieren. Beides ist angesichts der Unterschiedlichkeit der in der Eurozone vertretenen Regime der Lohnaushandlung, der Koexistenz eher binnenorientierter und eher merkantilistischer Orientierungen und des Fehlens transnationaler Lohnkoordination nicht gegeben (eine ausführliche Darstellung findet sich hier). Vor diesem Hintergrund ist es nur höchst konsequent, Verfahren zu errichten, die zum Ziel haben, das Fehlen transnationaler Lohnkoordination zu kompensieren, ja die Tarifautonomie der Sozialpartner in letzter Konsequenz zu brechen. Das ist der Preis des Euro. Wenn man denn, wie DiEM25, am Euro festhalten will, wird man zumindest anzudeuten haben, wie die Synchronisation der Lohn- und Preisauftriebe eigentlich sonst bewerkstelligt werden soll.
Dasselbe ließe sich von den Interventionen in die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken sagen. Diese Politikfelder entfalten erhebliche Wirkungen auf die Lohnpolitik – die Arbeitsmarktpolitik beispielsweise, weil sie die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften beeinflusst, und die Sozialpolitik, weil sie einen faktischen Mindestlohn setzt. In einem festen Wechselkursregime steigen daher auch die Anforderungen an die in diesen Politikbereichen angesiedelten Instrumente. Sie müssen so eingesetzt werden, dass sie die Synchronisation der Lohn- und Preisauftriebe unterstützen, und gegensteuern, wenn es zu Fehlentwicklungen kommt. Soweit die Theorie. In der Praxis aber sind die Teilnehmer des Euro Demokratien, in denen mal eher sozialstaatsfreundliche, mal eher sozialstaatskritische Parteien regieren, mit ganz unterschiedlichen politischen Systemen, Traditionen, Problemperzeptionen und Dynamiken. Wenn der Euro denn verteidigt werden soll, seine Bestandsvoraussetzungen aber eklatant verletzt werden, solange die Euro-Teilnehmer Demokratien sind – dann ist es nur höchst konsequent, die Freiheitsgrade der Demokratien durch technokratische Interventionen immer weiter einzuschränken, bis hin zur faktischen Vollsuspendierung demokratischer Verhältnisse in den Krisenländern. Kurz: Wer das autoritäre Regieren in Europa kritisiert, wird in seiner Argumentation zu der ökonomischen Konstellation vordringen müssen, aus der das autoritäre Europa hervorgeht. Vielleicht haben die Aktivisten von DiEM25 einen Weg gefunden, das Spannungsfeld zwischen den Imperativen des Euro einerseits und Demokratie und Tarifautonomie andererseits schmerzfrei aufzulösen – aber nichts dergleichen findet sich im Manifest.
Was also will DiEM25? Die Katze wird im Abschnitt „Was ist zu tun? Unser Horizont“ aus dem Sack gelassen: Varoufakis und seine Mitstreiter fordern die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung innerhalb der nächsten zwei Jahre und das Inkrafttreten einer europäischen Verfassung bis spätestens 2025. DiEM25 reiht sich damit in die Initiativen ein, die die Lösung der Probleme in radikaler Zentralisierung erkennen. Man mag das Ziel teilen oder nicht. Aber was tragen die Vereinigten Staaten von Europa zur Auflösung der Eurokrise bei? Sollen die Sozialpartner im europäischen Bundesstaat gänzlich entmachtet werden und Vorgaben aus Brüssel folgen? Sollen die heterogenen europäischen Wohlfahrtsstaaten einem EU-weiten Sozialstaat weichen, der auf Rumänien ebenso passt wie auf Schweden? Und wie kommen die Aktivisten auf die Idee, die eklatanten Demokratiedefizite der Europäischen Union würden sich nicht in die Vereinigten Staaten von Europa fortpflanzen? Erwarten sie die zeitnahe Entstehung eines europäischen Parteiensystems mit transnationalen Parteien? Und erwarten sie, dass die ein Maß an interner Kohärenz aufweisen könnten, das es ihnen erlauben würde, den Bürgerinnen und Bürgern unterscheidbare politische Programme zur Auswahl vorzulegen? Das ist mehr als unwahrscheinlich, so lange die Eurokrise die EU politisch nicht in links und rechts spaltet, sondern in Nord und Süd.
Aber vielleicht geht es um all das ja gar nicht und man wollte vor allem ein Manifest schreiben, das irgendwie für „mehr Europa“ plädiert und daher eingefleischte Integrationisten anspricht. Denn wirklich ernst gemeint kann das alles nicht sein. Der letzte Konvent, der eine europäische Verfassung erarbeitete, flog den Eliten mit den verlorenen Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 um die Ohren. 2005 – das waren bessere Zeiten für die europäische Integration, auch wenn es sich damals nicht so anfühlte. Die Vorstellung, ein Vertrag zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa könne unter heutigen Bedingungen nicht nur 28 Parlamente, sondern auch alle notwendigen Volksabstimmungen erfolgreich durchlaufen, ist angesichts des Niedergangs der öffentlichen Zustimmung zur EU – man beachte nur die jüngsten Daten des Eurobarometers (hier, vgl. zum Eurobarometer auch hier) – abwegig.
Wissen die Aktivisten das alles nicht? Doch, sie wissen es – und tragen der offensichtlichen Kluft zwischen ihren Vorstellungen und den Haltungen der Bürgerinnen und Bürger Rechnung. Die verfassungsgebende Versammlung, so schreiben sie explizit, „wird die Befugnis haben, über eine künftige demokratische Verfassung zu entscheiden, die innerhalb eines Jahrzehnts die bestehenden europäischen Verträge ersetzen wird“. Die europäische Verfassung soll sich also irgendwie an den nationalen Parlamenten und Volksabstimmungen vorbeimogeln, der Konvent soll keinen Entwurf vorlegen, sondern selbst entscheiden. Man liest das, schließt die Augen, atmet durch, wünscht sich, das alles möge verschwinden, öffnet die Augen wieder, aber es ist alles noch da. Was soll man damit anfangen? Den Aktivsten erklären, dass die von ihnen angestrebte Staatsgründung durch die Hintertür von den Verfassungsgerichten der EU-Mitglieder gestoppt würde? Das Ganze, das wäre mein Vorschlag zur Güte, als nicht so genau zu nehmenden, über das Ziel hinausgeschossenen Provokationsversuch verbuchen?
Was von DiEM25 vor allem bleibt, ist der Eindruck linksliberal-radikaler Integrationisten, die sich gegenüber den Problemen des Euro gleichgültig verhalten und stattdessen nach Wegen suchen, die Vereinigten Staaten von Europa am Demos vorbei durchzusetzen. Nun denn. Sie sind nicht die ersten mit diesem Programm und werden nicht die letzten sein. Auf eines sollten sich die Aktivisten dabei freilich nicht berufen: die Demokratie.
Der Beitrag erschien erstmalig auf www.flassbeck-economics.de/diem25-was-helfen-uns-jetzt-die-vereinigten-staaten-von-europa/ und wir reproduzieren ihn hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.