Von Zeit zu Zeit gibt es im ORF neue Moderatoren. Zumindest im Rundfunk hat man dann den Eindruck: Jetzt wird kurzfristig die Verblödungs-Maschinerie unterbrochen – sehr kurzfristig, denn die älteren Kolleginnen holen den oder die Neue rapid auf ihr Niveau herunter.
So wurde also am 20. August 2016 im „Mittags-Journal“ ein Gespräch mit Karl Aiginger, Leiter des WIFO, der eben in Pension geht, geführt. Der Journalist ließ den Gast ausnahmsweise sprechen, stellte nicht zu hirnverbrannte Fragen, und Aiginger konnte sich produzieren. Dies ist nicht uninteressant. Man müsste die Rolle solcher Institute wie des WIFO einmal genauer ansehen. Interessant wäre auch das IHS, das aus einer sozialdemokratischen Institution von Herrn Felderer zu einer neoliberalen Kampf-Maschine umgewandelt wurde; im Moment sucht es seine neue Rolle. Aber das ist eine Sache für sich, um die es heute nicht geht.
Aiginger kritisierte das österreichische Steuersystem. Es würde die Arbeit zu stark belasten und besteuern. Dann aber richtete er seine Kritik auch gegen den alten sozialdemokratischen Vorschlag einer Wertschöpfungs-Steuer, den der neue Bundeskanzler Kern unlängst wieder aufgegriffen hat. Das würde Investitionen behindern.
In dieser Doppelkritik kommt die Doppelexistenz eines Liberal-Konservativen heraus, der versucht, im Gegensatz zu vielen seiner Fachgenossen, sich ein wenig an der Wirklichkeit im Rahmen des bestehenden Systems zu orientieren. Und die sehr engen Grenzen dieser Realitäts-Orientierung werden auch deutlich, das Fehlen eines Verständnisses, was Realwirtschaft ist oder sein könnte. Da wird wieder verständlich, warum jüngst in einer öffentlichen Veranstaltung ein Genosse ausrufen konnte: „Ich bin kein Ökonom; ich bin ein Marxist!“
Steuern und Abgaben haben im Rahmen dieses bestehenden Systems vor allem eine Hauptaufgabe: Sie sollen die materiellen Mittel bereitstellen, um in einem sonst privatwirtschaftlich organisierten System die öffentlichen Aufgaben zu erledigen. Seit aber der Staat sich bemüht, unter dem Druck allgemeiner, wenn auch beschränkter Partizipation mehr zu sein, als nur eine Rauborganisation der Dynastie und der ihr nahe stehenden Gruppen, mehr als eine Kriegsmaschine zwischen den Dynastien, wachsen diese Aufgaben. Schon vor gut eineinhalb Jahrhunderten hat ein konservativer österreichischer Ökonom vom „Gesetz der wachsenden Staatsausgaben“ gesprochen (Adolph Wagner 1863).
Seither ist dieses „Wagner’sche Gesetz“ eine Konstante in der Entwicklungs-Ökonomie. Es wurde in seiner Geltung auch bestritten, weil man meinte: Es führe schließlich dazu, dass das gesamte Produkt zuerst vom Staat vereinnahmt und dann verausgabt würde. Das ist, wie wir gleich sehen werden, kein besonders gutes und überzeugendes Argument dagegen. Man hat auch darauf hingewiesen: Der Staatsanteil steigt nicht stetig, sondern in großen Sprüngen, vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten. Aber das ist erst recht kein Gegen-Argument. Epochen-Wechsel sind stets Zeiten der Krisen.
Aber das ist nicht das Problem. Fragen müssten wir eher: Was hat dieses „Gesetz“, diese Entwicklungstendenz, dieser Mega-Trend, historisch zu bedeuten?
Bevor wir zu dieser Frage kommen, noch ein wesentlicher Hinweis: Ökonomie als eigenständiges Denk-System entstand aus dem Versuch, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie soll ein gerechtes Steuersystem aussehen? Das war die Grundfrage, die sich Sir William Petty, Großkorruptionist und genialer Analytiker ab der Mitte des 17. Jahrhunderts, stellte. Daraus entwickelte er schließlich sein Wert-Konzept, das Arbeitswert-Konzept; damit begründete er die Politische Ökonomie. Die Ökonomie als Wissenschaft entstand also aus der Frage nach dem richtigen Steuer-System.
Petty tat allerdings das, was zu seiner Zeit und im Rahmen der individualistischen britischen Tradition unvermeidlich war, was alle seine Nachfolger auch taten, inklusive Marx, und was Ökonomen heute praktisch ohne Ausnahme noch immer tun: Er ging vom einzelnen Produzenten, vom Einzelmitglied der Gesellschaft aus. Der methodische Individualismus ist so sehr zur Grundlage nicht nur der Ökonomie, sondern auch der Soziologie geworden, dass sich kaum jemand einen anderen Zugang überhaupt vorstellen kann. Für den Strukturalisten – der Strukturalismus ist, zugegeben, außer Mode gekommen – ist dieser Zugang schlichtweg verkehrt, heißt das Pferd beim Schwanz aufzäumen. Denn Gesellschaft spielt sich zwar tatsächlich im Bewusstsein des Menschen, in der Kultur ab. Aber wie kommen die Ideen in den Kopf des Menschen? Der Kultur als Steuersystem entspricht die Ökonomie als Produktionssystem, dessen Ergebnisse auf Gesellschafts-Ebene gepoolt sind. Das allerdings hat Marx in aller Deutlichkeit in der so genannten Transformations-Problematik heraus gestellt. Leider hat er sie, aus einer Reihe von Gründen, nicht mehr zur Gänze ausgearbeitet.
Und damit kommen wir zur Steuer und den Abgaben als Finanzierung der öffentlichen Ausgaben zurück.
Das Produkt einer („Volks-„) Wirtschaft muss als das einheitliche Ergebnis eines abgegrenzten Produktions-Apparats gesehen werden. Aber dieses Produkt wird nach unterschiedlichen Mechanismen verteilt. Da die einzelnen Produktionseinheiten in privater Hand sind, sind auch die jeweiligen Teile des Endprodukts zuerst einmal in privater Hand, ob dies sinnvoll ist oder nicht. Der kollektive Akteur, der Staat, zieht einen Teil dieses Produkts ein, um es für allgemeine Zwecke zu verwenden. Dazu entwickelte sich eine Fülle von Mechanismen, die alle ihre historischen Wurzeln haben, kontingent sind und gewöhnlich auf wenig intrinsische Rationalität verweisen können. In ihnen haben sich nicht zuletzt die Interessen ganz spezieller Gruppen zu ganz konkreten Zeitpunkten abgebildet. Warum ist die Bier-Steuer so und die Weinsteuer anders? Warum gibt es einen Steuersatz für die üblichen Monatslöhne und einen anderen für die sogenannten Sonderzahlungen, die doch nichts Anderes sind als verschobene Lohn-Auszahlungen? Usw.
Selbst in einem privatwirtschaftlichen System wäre die Einheits-Steuer das rationalste Instrument – „l’impôt unique“ nannte man dies in der Debatte vor zwei-drei Jahrhunderten. Und eine solche Steuer könnte natürlich sinnvoll nur auf die gesamte Wertschöpfung aufsetzen, eine „Wertschöpfungsabgabe“ sein. Daraus wären dann alle öffentlichen Leistungen zu bezahlen, aber auch alle zeitlich verschobenen Auszahlungen des Lebenseinkommens, die Pension z. B.
Das sollte im Grunde nicht so schwer zu begreifen sein. Wieso kommt dann ein Ökonom daher, der für sich in Anspruch nimmt, „volkswirtschaftlich“ zu denken, und stellt sich quer?
Da ist zum Einen das mangelnde Verständnis fast aller Ökonomen für die Wirtschaft als realwirtschaftliches Phänomen. Es geht den Damen und Herren Ökonomen schlicht nicht in den Kopf: Wirtschaft und Gesellschaft ist ein gesamtheitlich aufgebauter Produktions-Apparat. „wert“ ist nichts als zuerst ein Allokations- und dann ein Verteilungs-Mechanismus.
Aber da steckt noch etwas dahinter. Das Argument lautet stets: Es gibt einen Standort-Wettbewerb. Wenn wir so was machen, dann wandern die großen, wichtigen Konzerne ab.
In diesem Argument gibt es eine gewisse Realität. Denn genau dazu wurde die EU aufgebaut und wurde die Globalisierung zur dominanten Politik. Die einzelne Wirtschaft – die durchaus noch ihre erkennbaren Grenzen hat und keineswegs ein ununterscheidbarer Teil einer Weltwirtschaft ist – sollte und wurde auch weitgehend außerstande gesetzt, eine eigenständige Wirtschaftspolitik zu betreiben, die möglicherweise irgend einem Weltkonzern ein paar Anteile seines Profits kostet.
In diesem Sinn stimmen wir voll und ganz mit den französischen Genossen von PARDEM (Parti de la Demondialisation) überein. Wir müssen eine Politik der Deglobalisierung betreiben. Unsere Anti-EU-Haltung ist Teil davon. Wenn wir mit dem PARDEM gewisse Probleme haben, dann betrifft dies ihre altgaulistische Fetischisierung der Nation.
Albert F. Reiterer, 20. August 2016