„Die Wirtschaft brummt““: Die soziale und die politische Krise

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Auch das Zentrum ist nicht mehr sicher.

Kommentar zu den Bundestagswahlen von Albert F. Reiterer

Vor wenigen Tagen erschien im Berliner „Tagesspiegel“ folgende Karikatur (siehe nebenstehend). Die Karikatur wurde gestern Realität.

Man kann nicht gerade von einem Zusammenbruch sprechen. Aber wenn beide Regierungs­parteien ein Fünftel ihrer Stimmen verlieren, so ist das auch nicht Nichts. So weit von einer schweren Krise sind nun die Deutschen auch nicht, wie sie es mimen. Bei der SPD hat man das ja erwartet. Auch für die CDU/CSU haben sich in den Umfragen schwere Verluste abge­zeichnet, aber ihre Journalisten haben dies weggeredet und alle Aufmerksamkeit auf die SPD abgelenkt. Deren Schulz hat mitgeholfen. Was soll man von einem Menschen denken, der drei Tage vor dieser Wahl sagt, er biete Merkel den Vizekanzler-Posten in seiner Regierung an?

Aber nun sind es auch für die CDU nicht 37 % geworden, was für sie schon übel genug wären. Sie hat 33 % erhalten. Aber die CDU und ihre Journalisten sprechen noch immer vom Erfolg: „Wir haben unser Wahlziel erreicht!“ GRATULATION!!

Die Krise des Systems wird nun an der Oberfläche zur Krise der Parteien. In der Peripherie hat es bisher vor allem die Sozialdemokratie getroffen. Die PASOK ist nahezu verschwunden. Die Tsipras-Truppe wird ihr in den Orkus nachfolgen, sobald sie wieder Wahlen zulässt.

Doch nun ist die Krise im Zentrum angelangt. Bei Frankreich konnte man sich noch ein wenig unsicher sein. Ist das Land noch Zentrum, oder ist es auch schon Halb-Peripherie? Dort ging zwar auch die Sozialdemokratie, der PS, unter. Aber die Eliten und die europäische Büro­kratie waren soweit ganz zufrieden. Sie haben doch mit Macron dort ihre Marionette sitzen. Der wird versuchen, ihnen alle Wünsche zu erfüllen. Dass dieser Erfolg nur der besonderen Konstellation der französischen Wahlen und der dortigen Parteienlandschaft zuzuschreiben ist; dass er sich der Angst vor Marine Le Pen verdankt, das kümmert sie vorerst nicht. Für sie zählt nicht die Legitimität. Umso mehr pocht dieser neue französische Messias, dessen Lack gewaltig blättert, auf die Legalität. „Ich bin gewählt!!“

Aber nun beginnt es im Zentrum des Zentrums zu bröckeln, und das ist neu.

Und davon müssen die Eliten und ihre Journalisten ablenken. Alle sprechen von der AfD, und zwar in Wendungen, die wie maschinell von allen wiederholt werden, von Schwarz bis Grün. Alle weigern sich, mit gutem Grund, das Geschehen zu begreifen. Sarah Wagenknecht hat ein bisschen versucht, den Staub von der Oberfläche wegzukehren.

Aber die Linke hat ja selbst ein Riesen-Problem. Ihr Gewinn, einige Zehntel-Pünktchen hinter dem Komma, kann dies nicht überdecken, wenn man genauer hinschaut. Überall im Osten hat sie verloren, und zwar teilweise sogar schwer. Ein Wunder? In Berlin, in Potsdam, in Meck­lenburg-Vorpommern, auch in Thüringen tragen ihre Regierungspolitiker das neoliberale Programm der SPD mit. Der rechte, der neusozialdemokratische Flügel dominiert dort.

Im Westen wo die Parteilinken eher eine Stimme haben, hat sie tendenziell gewonnen. Aber ob da die Partei-Mehrheit, die doch schon aus opportunistischen Gründen aufmerksam werden sollten, hinschauen wollen, ist höchst ungewiss. Und dann fürchtet sich die Partei angeblich auch vor einer Spaltung.

Und was ist nun mit der AfD? In der Führungsgruppe sitzen da ohne Zweifel Figuren, die ohne weiteres aus der NPD kommen könnten und teils auch kommen. Aber den Wählern ist dies meist gleichgültig. Sie wählen ja nicht die AfD aus Achtung und aus Liebe. Während die (sinkende Zahl der) Wähler anderer Parteien zu fast 2 Dritte angibt, die jeweilige Partei aus Überzeugung zu wählen, sind das bei der AfD nur 29 %. Sie haben gemerkt, dass sich alle etablierten Kräfte offenbar vor dieser Partei besonders fürchten. Und denen, den Etablierten, wollen sie eine Ohrfeige verpassen. 59 %, etwa doppelt so viel wie bei den anderen Parteien sagt, sie würden sie „aus Enttäuschung über andere Parteien“ wählen.

Aber das gehört auch zum Spiel der Mächtigen. Denn diese Leute werden nichts verändern. Das wollen sie ja auch gar nicht. Damit ist die Enttäuschung für die Wähler programmiert, könnte man meinen. Aber selbst das ist vermutlich ein Irrtum. Denn diese Wähler können von der AfD nicht enttäuscht werden, weil sie von ihr nichts erwarten. Es ist der kennzeichnende Ablauf von Antipolitik im schlechtesten Sinn. Man semmelt den Etablierten Eines rein und ist dann eine Zeitlang damit zufrieden.

Die vorerst noch schleichende Krise der BRD, ihres sozio-ökonomischen und politischen Systems, wird weiter glimmen, solange nicht eine Kraft die allgemeine und diffuse Unzufrie­denheit zu organisieren und zu fokussieren willens und imstande ist. In der Linken, der Partei, gibt es Ansätze, aber sie sind äußerst minoritär. Wiesehr aber die Linke, die politische Richtung, diese Ansätze stützen und stärken kann, ist noch ganz unklar. Gerade in der BRD ist die Hegemonie des liberal-konservativen Hauptstroms so stark, dass selbst fast alle Linken glauben sie müssten sich anpassen: Sie müssten betonen, dass sie „Europäer“ sind; sie dürften von den eigentlichen Zielen nicht reden.

Linke Politik und Zielsetzungen haben noch einen sehr weiten Weg vor sich, bevor sie politik- und geschichtsmächtig werden.

  1. September 2017