Die Schwedische Reichsbank lenkt den Blick wieder auf das globale Kasino: Sie prämiiert einen mainstream-Analytiker der Finanz-Spekulation. Das tut sie nicht zum ersten Mal. Bisher aber hat sie die harten Ideologen bevorzugt. 2013 gab sie den Nobelpreis an Eugene Fama (und einige andere). Der behauptete sein Leben lang: Finanzmärkte seien „rational“ und „effizient“. Was immer dies bedeutet, die Aussage sollte sein: Wir leben in der besten aller Welten – Fama als ein neuer Candide. Das Verhalten der Spekulanten führt zu einem „Optimum“, zum Wohlstand, vielleicht nicht gerade für alle, aber immerhin für das System, ob national oder global.
Heuer geht sie einen dialektischen Schritt weiter. „Behavioral Finance“, im Deutschen meist schief mit Verhaltens-Ökonomie wiedergegeben, anerkennt immerhin: Akteure auf den spekulativen Märkten gehen nicht ganz rational („less than fully rational“) vor. Das könnte als ein Angriff auf die Grundlagen der Neoklassik gesehen werden. Eilends fügt man also hinzu: Man kann aber Regeln heraus finden, wie die Prozesse ablaufen: Es gibt Über- und Unter-Reaktionen an präzisen Punkten des Ablaufs; über lange Frist kann man auf dem Aktien-Markt jedenfalls voraussagbar Gewinne machen; das Risiko-Bewusstsein der Spekulanten, pardon: der „Investoren“, nimmt stark ab, wenn sie sich „dem Markt voraus“ glauben; man kann auch primitive Aussagen aus dem Labor auf die große Welt übertragen; usf.
So konnte man Richard H. Thaler für solche Erkenntnisse den „Nobelpreis“ geben, ohne die Ökonomie ganz zu desavouieren. Denn einerseits sind inzwischen alle Beobachter an den realen Wahnsinn der Finanzmärkte gewöhnt – auch an ihre Irrationalismen. Andererseits aber wird die Behauptung der Rationalität der Märkte nicht wirklich aufgegeben. Und das ist der Punkt, wo auch wir genauer hinschauen sollten.
Denn, nach der Aussage des Preisträgers hängt die Bedeutung des irrationalen Verhaltens davon ab, in welchem Ausmaß Rationalverhalten davon profitieren kann. Das ist ein ganz geschickter Kniff. Ökonomie als Disziplin wurde seinerzeit definiert als Rationalverhalten, als das Erreichen von Zielen mit geringst möglichen Mitteln, oder anders herum, als das Erreichen von maximalen Zielen bei gegebenem Einsatz (Robbins 1949). Und das steht heute noch in (fast) allen Lehrbüchern. Gäbe man das Rationalverhalten auf, zöge man der Ökonomie den Teppich unter den Füßen weg und den Boden gleich mit.
Damit stellt sich für uns die Frage: Was hat dies für einen theoretischen und für einen politischen Sinn? Hier müssen wir einmal festhalten: Es ist durch die Bank üblich, auf der Linken sowieso, aber bis weit in den liberalen mainstream hinein, den homo oeconomicus als reine Ideologie abzulehnen. Der h. oeconomicus ist aber das konstitutive Element der Neoklassik. Nur der Neoklassik?
Keineswegs. Auch die Klassik baut auf dem Konzept des „Rationalverhaltens“ auf. Bei Adam Smith heißt dies Eigennutz: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest“ (Smith 1991, 119). Er steht damit voll in der britischen Tradition des Utilitarismus. Ricardo übernimmt dies und abstrahiert es stärker. Von Ricardo aber übernimmt es Marx. Der wichtige Unterschied ist: Smith und Ricardo und sodann die Neoklassik bis in die Gegenwart – eine Ausnahme ist interessanter Weise Hayek – ist dieser Eigennutz und der daraus resultierende Rationalismus eine anthropologische Konstante. Bei Marx aber ist es das Resultat einer langen historischen Entwicklung: „In dieser [bürgerlichen] Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats machten… Den Propheten des 18. Jahrhunderts schwebte dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert neuentwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangene sei. Nicht als Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das Naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich bestehendes, sondern von der Natur gesetztes“ (Marx o. J. [1857], 5 f.).
Rationalverhalten konstituiert also das ökonomische System und treibt die Entwicklung weiter. Aber Rationalverhalten ist eine Klassenfrage. Der Kapitalist und sein Geschäftsführer streben nach dem höchst möglichen Profit und müssen dies tun. Anderwärtig können sie das Unternehmen auf die Dauer nicht erhalten. Und der gewöhnliche Mensch im Alltag?
Hier setzt die Ideologie, die moderne wie die postmoderne ein. Denn aus diesem unternehmerischen Verhalten wird, erstens, ein allgemeines menschliches Verhalten; und, zweitens, eine Norm, die besagt, wie man sich verhalten soll. Den Kindern von Coca Cola und Maggie Thatcher braucht man dies gar nicht mehr zu sagen. Der erste Teil kommt bei Thaler, wenn er darauf hinweist: In vielen ökonomischen Entscheidungen spielt der Markt nicht – und dann nennt er die Paarbildung. Wenn ich die falsche Partnerin gewählt habe, gibt es niemanden, der meinen Ehekontrakt short verkaufen könnte. Der „Heiratsmarkt“ aus der Soziologie ist also ein Metapher, kein Markt. Wenn man über Homogamie schreibt, dann stößt man permanent auf diesen Begriff. Auch der Ausdruck Human-Kapital, kulturelles Kapital, ist ganz naiv aus der Markt-Ideologie übernommen. Damit ist Thaler mit seiner Anmerkung analytisch weiter als viele Soziologen. Und hier setzt der zweite Teil ein, die normative Aussage.
Denn Thaler scheint dies, das Fehlen des Markts zu bedauern, wenn vielleicht nicht den des „Heiratsmarkts“, so doch in vielen anderen Bereichen. Je mehr Markt, umso besser. Und das ist tatsächlich eine Tendenz der „Wissenschaft“ – mir läuft es oft kalt über den Rücken, wenn ich höre, wie unreflektiert die „Wissenschaft“ gerade in dogmatisch-marxistischen Kreisen immer wieder angerufen wird. Andererseits wird dies direkt in die Politik übersetzt und dient dort zur Rechtfertigung des Markt-Fundamentalismus – bzw. aus der „Wissenschaft“ her der Expertokratie, der Technokratie, also der Bürokratie. Der Markt ist die einzige Institution, die in dieser Sicht überhaupt legitim ist. Die Bürokratie aber beansprucht, den idealen Markt aufzubauen und „die Wissenschaft“ im Sachzwang zu aktualisieren.
Bei Thaler allerdings kommt noch etwas Anderes heraus, das für die globale Struktur der Gegenwart viel wichtiger ist. Es kann hier nur angetippt werden: Die Ökonomie der Finanzmärkte wird mit aller Selbstverständlichkeit zur Ökonomie des Weltsystems generell ausgerufen. Dies ist es wert, ein anderes Mal eigens behandelt zu werden. Denn auch hier haben wir die fundamentale Dialektik: Einerseits kümmern sich die Spekulanten überhaupt nicht um die Realwirtschaft; und die Realwirtschaft ist in der Einzelentscheidung auch völlig getrennt von den Finanzmärkten. Andererseits hantieren die Spekulanten mit Geld. Und Geld ist nun einmal das Steuer-Medium der Gesamtwirtschaft. Damit beeinflussen sie die Entwicklung massiv, wie die Finanzkrise seit 2007/08 drastisch gezeigt hat.
Der „Nobelpreis“ an Richard Thaler ist eine Ermunterung an alle Spekulanten, ihr Unwesen weiter zu treiben. Allerdings sollten sie bitte dabei ein wenig aufpassen, auf die „Irrationalismen“. In diesem Sinn hat dieser Nobelpreis voll und ganz das erfüllt, was man von Nobelpreisen verlangt: Sie legitimieren das System und versuchen, es zu stabilisieren.
Albert F. Reiterer, 12. Oktober 2017
Thaler, Richard H. (2005), ed., Advances in Behavioral Finance. Vol. II. Princeton, N.J.: Univ. Press. Thaler als Hg. hat in diesem dicken Band auch eine Reihe von umfangreichen eigenen Beiträgen aufgenommen. – Weiters hier erwähnt:
Marx, Karl (1857/58 [1939 bzw. 1941]), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.
Ricardo, David (1971 [1817]), Principles of Political Economy and Taxation. Harmondsworth: Penguin:
Robbins, Lionel (1949 [1932]), An Essay about the Nature and the Significance of Economic Science. London: Macmillan.
Smith, Adam (1971), An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations. (1776) With an Introduction by A. Skinner. Harmondsworth: Pinguin.