WALDHEIM / VRANITZKY UND DIE LINKSLIBERALEN: EINE ALLIANZ GEGEN ÖSTERREICH

Mitte der 1980er hatte in Europa bereits die neoliberale Wende eingesetzt. Auch in Österreich war den hier bislang schwachen Wirtschafts-Eliten die Politik des Beveridge’schen Wohl­stands-Staats im Rahmen eines keynesianischen Steuerstaats lästig geworden. Denn dies hatte zwar in ungeahnter Weise die Bevölkerung ins System integriert. Aber es kostete.

Österreich hatte sein politisch-kulturelles-ideologisches System nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst als Antithese zur deutschen Entwicklung aufgebaut. Das Land und seine Bevölke­rung konstituierten sich seit 1955 als Sonderfall in einer bipolaren Welt. Symbol dafür war die Neutralität. Sie wurde mit der Idee einer selbstbestimmten österreichischen Nation verbunden und aufgeladen. Um die neoliberale Wende durchziehen zu können, musste man die Idee und die Wirklichkeit dieses Sonderwegs auf Basis der österreichischen Nation entsorgen. Das hieß auf Perspektive: die österreichische Nation zerstören.

Die passende Ideologie mit ihrer historischen Nostalgie war vorhanden. Die sozialdemokrati­sierten Intellektuellen waren seit je heimliche Deutschnationale und Großmacht-Fanatiker. Die Mehrzahl der sonstigen österreichischen Intellektuellen war auf eine gar nicht so seltsame Weise stumm. Zwar: Es gab da die prononcierten Katholiken, Typus Friedrich Heer, die in der Tradition des Ernst Karl Winter standen. Und es gab die Linken, für die der in Frankreich verbliebene Felix Kreissler sprach. Die KPÖ bemühte sich, auf ihre Copyright-Ansprüche an der Österreichischen Nation – Ö groß geschrieben – hinzuweisen (KPÖ 1978). Sie wurde aber von den anderen Kräften nicht einmal ignoriert.

War es im Austrofaschismus das Ziel auch der Regierung, die „besseren Deutschen“ zu sein, so war nach dem Nazi-Zusammenbruch die nationale Eigenständigkeit auch im Bereich der Identität die Grundlage. Selten wurde der Projekt-Charakter der nationalen Identität so klar, wie im Falle Österreich nach 1945. So war es nur logisch, dass sich die antiösterreichischen Kräfte mit ihren Wurzeln im Nazi-Faschismus deutschnational festlegten. Sie nahmen dabei u. a. eine strikte Orientierung auf die E(W)G vor, nachdem diese 1950/57 gegründet worden war. Es war die FPÖ, welche deutschnational und pro-europäisch war. Dies Alles ist auch in den stenographischen Protokollen des Nationalrats nachzulesen. Dabei traf sie sich mit den alten Legitimisten. Otto Habsburg war lange Jahre CSU-Abgeordneter im EP.

Dem stand die Österreich-Orientierung gegenüber. Zu ihr hatte schließlich auch die SPÖ nach langem Zögern gefunden. In der Kreisky-Zeit wurde sie zur Österreich-Partei. Die ÖVP tat sich mit diesem sozialdemokratischen Österreich immer schwerer. Die Ironien im Ablauf des Geschehens wirbelten schließlich die Positionen völlig durcheinander. Die letzten Kreisky­aner verschwanden. Erwin Lanc z. B. wurde in einer innerparteilichen Intrige von Fred Sino­watz weggeräumt, bevor dieser selbst im Orkus des Bezirksgerichts verschwand.

Den wesentlichen Bruch stellten aber der Präsidentschafts-Wahlkampf 1985 / 86 und sodann die Präsidentschaft Kurt Waldheims dar. Waldheim repräsentierte die alte Politik mit ihren vorgeblichen Sicherheiten. Er war schon einmal Kandidat der ÖVP gewesen, hatte sich aber nicht überaus ruhmvoll geschlagen. Die neu-alten Kräfte waren auf ÖVP-Seite durchaus mit schmutzigen Elementen des alten christlich-demokratischen Antisemitismus gemischt. Alois Mock stand kennzeichnend dafür. Aber auch Sinowatz repräsentierte diese Politik. Er glaubte, er könne die Konservativen auf diese Tour ausmanövrieren. Mit dem Hinweis auf Waldheims Kriegs-Vergangenheit dachte er die Präsidentschafts-Wahl zu gewinnen – und schätzte dabei die Stimmung der Bevölkerung völlig falsch ein. Die Jetzt-erst-recht-Kampagne der ÖVP traf den Nerv, nicht zuletzt, weil sie – wie dann bei den EU-Sanktionen des Jahres 2000 – den berechtigten Ärger über diesen Versuch einer Außenbestimmung aufgriff. Der Burgenländer wurde in diesem Spiel gründlich geschlagen und verließ die Politik. Sein Amt übergab er an Franz Vranitzky, vormals Minister-Sekretär beim Korruptionisten Androsch, dann Bank-Direktor, schließlich wegen seines schönen Gesichts Kurzzeit-Finanzminister und jetzt Erlö­ser aus dem Sinowatz’schen Provinzialismus.

Doch diese Waldheim-Debatte oder -Affäre war nur der Ausfluss eines anderen Haltungs-Komplexes. Er gehört inzwischen grotesker Weise schon zur Dogmatik der österreichischen Regierungs-, Staats- und Intellektuellen-Ideologie. Holen wir ein wenig aus.

 

Presse, 20. / 21. Mai 1995

Menasses Rede in Frankfurt

Roben Menasse hat mit seinem Vorschlag, Österreich müßte sich wieder Deutsch-land anschließen, ein bemerkenswertes Beispiel für postmoderne Mischungen im Kopf progressiver staatsgetragener österreichischer Intellektueller geliefert.

Diese ‚Öffnung‘ nach draußen, zum großen Markt, paßt zu seiner Rolle als Festredner Osterreichs bei der Frankfurter Buchmesse, zur Wiedervereinigung und zur Annäherung an den großen Bruder in der EU, und vor allem paßt sie zu der Rolle, in der Osterreich eine wichtige Entlastungsfunktion für Deutschland zukommt (Textbeispiel: „… die sind ja noch viel schlimmer“ und „laßt uns endlich ‚einen Schlußstrich ziehen“).

Ich wüßte noch gerne, auf welchen Studien die Einschätzung beruht, paß deutsche – im Unterschied zu österreichischen – Institutionen eindeutig antifaschistisch sind.

Deutsche unterschiedliebster politischerCouleur und Staatsangehörigkeit werden sich über den intellektuell-kritischen Anschluß freuen und wenn schon nicht Österreich, so vielleicht Roben Menasse für diese Morgengabe danken.

Dr. Hazlel Rosenstrauch, Wien 1.

 

1965 hatte Simon Wiesenthal ein Memorandum an die Regierung Klaus gerichtet. Er kritisier­te die schleppende juristische Verfolgung von Nazi-Verbrechen nach dem abrupten Ende der Entnazifizierung von 1948 / 49. Damals hatte die Sozialdemokratie ihre antifaschistische Linie einer taktischen Finte geopfert. Mit der Förderung der „Ehemaligen“, der alten Nazis, brach sie die absolute Mehrheit der ÖVP, verlor selbst allerdings noch mehr an Stimmen an den VdU.

Als eines der Argumente zur Unterstützung seines Anliegens stellte Wiesenthal die Behaup­tung auf, dass Österreicher in deutlich überproportionalem Maß an Nazi-Verbrechen beteiligt gewesen wären, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung des Deutschen Reiches entsprochen hätte. Diese Behauptung blieb vorerst im Raum, ohne dass es irgendwelche Auswirkungen gehabt hätte. Wiesenthal selbst relativierte sie sogar und nahm sie halb und halb zurück. Aber sie wirkte im Untergrund weiter und wurde in gewissen Zirkeln ungeprüft weiter benutzt. Wichtig ist hier festzuhalten: Diese Behauptung war eindeutig politisch determiniert und sollte eine Forderung unterstützen. Wiesenthal selbst hat übrigens in Interviews zur selben Zeit ihre beschränkte Aussagekraft unterstrichen (die Darstellung folgt: Perz 2006).

Nun, im Kontext der Waldheim-Geschichte, kochte dies wieder hoch. Nun wurden diese Zah­len von einem zum anderen Aufsatz und Buch ungeprüft abgeschrieben und übernommen. Bleiben wir einem Augenblick bei diesem Aspekt. 2005 erscheinen solche Zahlen in einem offiziösen Ausstellungs-Katalog, wiederholt von einer ORF-Journalistin, Helene Maimann. Sie stießen nun allerdings auf ziemlich harschen Widerspruch. Aufgrund dessen prüfte ein Wiener Historiker (Perz) die Belege nach und kam zu folgendem Ergebnis: Maimann schrieb ungeprüft von Hanisch (Historiker in Salzburg) ab; Hanisch schrieb ungeprüft von Burkey (US-Historiker) ab; Burkey schrieb ungeprüft und verzerrend von Weiss (ebenfalls US-Histo­riker) ab; und Weiss hat zum Einen etwas Anderes geschrieben; zum Anderen aber seien seine Zahlen laut Perz „nicht nachvollziehbar“. Es gibt kaum etwas Kennzeichnenderes als den „Stammbaum“ solcher Historiker-Thesen.


Intellektuelle weisen unterschiedliche Parteilichkeiten auf. Der Großteil unter ihnen ist konservativ bis reaktio­när. Gramsci (1971) hat mit seiner Kategorisierung in traditionelle und organische Intellektuelle darauf auf­merksam gemacht. Dies prägt auch die unterschiedlichen akademischen Fachkulturen. In den 1970ern und 1980ern lief in Kärnten ein Spruch der Deutschnationalen um: „Polito- und Soziologen / haben viele schon betrogen…“ Sie wollten damit die für sie positive Rolle hervorheben, welche Historiker als traditionelle Intellek­tuelle spielten. Sie waren die Ideologen des Bestehenden und der Macht. Letzteres hat sich nicht geändert. Allerdings hat sich die Macht inzwischen globalistisch orientiert, und die meisten der Historiker haben diesen Schwenk mitgemacht.

Das soll nicht heißen, dass die stärker „organischen Intellektuellen“, die analytischen Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaftler, sich nicht bemühten, diesen „Vorsprung“ der Historiker aufzuholen und sich auch möglichst nahe an die Macht heranzuwerfen…


Waldheim wurde seinerzeit angreifbar, nicht sosehr, weil er in der Nazi-Zeit Teil der Vernich­tungs-Maschine Wehrmacht war. Das waren im angeschlossenen Österreich so viele andere auch, dass sie es ihm nicht zum Vorwurf machten. Er hat dies auch noch als „Pflichterfül­lung“ gerechtfertigt – Pflichterfüllung nicht gegenüber Österreich, sondern Nazi-Deutschland. Auf diesen Punkt wurde in der damaligen Debatte nur ganz am Rand verwiesen. Der Grund für die ersten Angriffe war dies nicht. Es war seine Rolle als UN-Generalsekretär, welche dem Staat Israel und seinen Hilfstruppen, vor allem in den USA, ein Dorn im Auge war. Kennzeichnend dafür war die erste wütende Reaktion Kreiskys auf die Angriffe von Außen. Laut Presse vom 25. März 1986 sprach er von einer „üblen Einmischung“ und einer „unge­heuren Niedertracht“ des Jüdischen Weltkongresses. Das klingt gar nicht so anders wie die Wortwahl des ÖVP-Graf damals:

Der bauernschlaue, doch intellektuell beschränkte Parteifunktionär Graf ging in die Gegen-Offensive und gebrauchte dabei Ausdrücke, welche Erinnerungen an den alten Antisemitis­mus der Christlich-Sozialen wach rief. Diese Bemerkung ist nicht unfair. War doch Graf Sekretär bei Klaus gewesen, zusammen mit Mock. Der hatte diskret etwas Antisemitismus in den Wahlkampf von 1970 gegen Kreisky eingebracht. Und jetzt war er bei Mock General­sekretär. Der bald neue Kanzler Vranitzky war da entschieden geschickter. Er wollte zusam­men mit seinem Vizekanzler und Außenminister Mock Österreich in die EG führen. Dazu eignete sich seine Reaktion auf die Waldheim-Affaire hervorragend. Damit konnte er belegen, dass er und die österreichische Regierung sich den hegemonialen Vorgaben auch im rein ideologischen Bereich beugen würden.

Trotzdem hat sich dies noch keineswegs zu allen dieser professionellen Historiker herumge­sprochen. Vor allem, wenn sie sich im herrschenden akademischen und Kulturbetrieb noch etablieren wollen, müssen sie diese Thesen lautstark wiederholen. So gab es im November 2017 eine typische Auseinandersetzung im Standard. Ein Historiker (Bauer 2017) hatte ein Buch veröffentlicht, welches eine leichte Kritik an der dominanten These von „Österreich“ als mitschuldig wagte. Das sahen zwei Assistenten am historischen Institut der Univ. Wien als Herausforderung an. Mit einer, sagen wir es vorsichtig, etwas einfältigen Kritik versuchen sie ihre These, die „Täter-These“ zu retten.

Und mit diesem Begriff, „Täter-These“, kommen wir endlich zum eigentlichen Punkt.

In den 1990ern traten die alt-neuen politischen und intellektuellen Kräfte unter dem Sigel EG und EU auf. Die ÖVP ging voran. In diesem Punkt waren die Altkonservativen wie Mock mit den ÖVP-Liberalen wie Neißer und Busek geeint. Die neokonservative Politik der Sozialde­mokratie konnte sich ihrer bedienen. Nach den Sinowatz-Jahren und der Waldheim-Nieder­lage kam endgültig die Wende. Die vorherigen intellektuellen Auseinandersetzungen zeigten sich nun als dünner Schleier einer politischen Agenda. Umso willkommener waren sie den Eliten.

Es ist mittlerweile unter Linksliberalen absolut kanonisch, „Österreich“ als in besonderem Maß mitschuldig am Nazismus zu sprechen. Bauer führt dies in seiner Auseinandersetzung mit den zwei Assistenten auf einen Generationen-Konflikt zurück: „Eine zornige Generation von jungen linksgerichteten Zeithistorikern – frustriert von der Verlogenheit der Nachkriegs- und Aufbaujahre, in denen sie aufgewachsen waren – griff Wiesenthals Behauptungen dank­bar auf. Motto: ‚Wenn ihr in eurer Verlogenheit euch zu Opfern des Nationalsozialismus macht, dann sagen wir euch, dass ihr nicht Opfer, sondern vielmehr die schlimmsten Täter von allen wart!’“ (kurt-bauer-geschichte.at – derstandard.at/2000068369207/Taeter-Opfer-Thesen-Mythen, 23. Nov. 2017). Da ist Einiges dran. Aber es geht an der politischen Einord­nung vorbei und verfehlt auch die theoretische Dimension. Der Globalismus stößt sich an „Sonderfällen“. Für die meisten Intellektuellen, heimlich deutschnational und offen pro-EU, bedarf es dazu aber der historischen Weihen.

Das lässt sich besser noch am erwähnten Aufsatz von Perz demonstrieren. Nachdem er näm­lich die seltsamen Zahlenangaben zur „österreichischen“ Beteiligung zurecht gerückt hat, kommt er auf die politische Bedeutung dessen zu sprechen. Und dort verfehlt er sein Thema vollkommen. Er wischt, mit einem gewissen Recht, den Streit um die Zahlen vom Tisch und fragt nach dem Sinn des Ganzen (Perz 2006, 228). Und dabei steigt er in unreflektierter Weise auf nationalistisches Gedankengut ein, spezifischer: auf deutschnationales. Denn er akzeptiert implizit die Vorrangigkeit, ja die Primordealität der nationalen Identität. Denn er sagt: Öster­reich könne man im Deutschen Reich „nicht mit anderen besetzten Gebieten Europas verglei­chen“. Warum? Österreich sei nur „eine unter vielen Regionen des Deutschen Reiches gewe­sen, … aber viel mehr auch nicht“. Also offenbar Teil der deutschen Nation. Und dabei beruft er sich auf die Anschlussbewegung der politischen Klasse nach 1918. Das liegt ganz nahe an der deutschnationalen Ideologie, wie sie offen und camoufliert von 1918 bis in die Gegenwart immer wieder verbreitet wird.

Und damit belässt er es und hört auf. Dabei müsste hier der politisch-theoretische Diskurs erst einsetzen. Warum soll die nationale Zugehörigkeit unter der Reihe von Möglichkeiten sozia­ler Identität so vorrangig sein? Das Pathos der Nation, der nationalen Zugehörigkeit (um mit Max Weber 1976 zu sprechen) erhält seinen Unterschied zur Region – die ansonsten völlig mit der Nation vergleichbar ist – im 19. und 20. Jahrhundert durch seinen Einsatz zur politi­schen Legitimierung eines abgegrenzten Herrschafts-Systems. Es entwickelte durch die ver­stärkte Identifizierung mit dem Staat, folgend einer wachsenden Partizipation, und sodann der Staatsbevölkerung eine moralische Kraft, der sich infolge der Indoktrination und ihres ständi­gen Einsatzes viele Menschen nicht mehr entziehen konnten. Über die politische Bedeutung heute und ihre Potenzen werden wir noch sprechen. Doch ist es schon auffällig: Selbst heute in der hegemonialen intellektuellen Atmosphäre des zugespitzten Anti-Nationalismus können sich gerade viele Historiker diesem politisch-moralischen Impetus nicht entziehen. Sie sind nicht in der Lage, diesen Ideen- und Emotionen-Komplex zu dekonstruieren.

Selbstbestimmung heißt Demokratie. Die nationale Ebene gewinnt dafür neue Relevanz. Das aktuellste Beispiel bieten gegenwärtig (2018) Spanien und Katalonien.

Österreich hat zu wählen zwischen Großmannsucht und selbstbewusster Selbstbestimmung. Bestes Beispiel ist doch unser neuer Grußaugust Van der Bellen. Er versucht, sich immer wieder den imperialen Kräfte anzubiedern. Sein Geschimpfe auf die „Verzwergung“ schon im Wahlkampf und dann wieder bei der zeremoniellen Unterwerfung vor dem EP stellt die unbe­darfte Formulierung des Globalismus heraus, wie er eben bei den Eliten und ihren Sprechern gang und gäbe ist.

Der reaktionäre Provinzialismus des Herrn Strache ist nur eine Schein-Alternative. Es ist die Reaktion im plebeischen Gewande. Wenn die Nagelprobe der praktischen Politik kommt, dann ist alles Andere außer den Regierungs-Posten drittrangig. Wie formulierte die NZZ vom 27. Dezember ironisch und so treffend schon in der Überschrift: „Österreichs Freiheitliche setzen sich dort durch, wo sie sich mit dem Koalitionspartner sowieso einig sind“.

Kurz aber spricht heute in der Diktion des Austrofaschismus wieder davon, dass wir Österrei­cher „die besseren Deutschen wären“ – nicht im small talk, wohlgemerkt, sondern in seiner Regierungserklärung im Parlament.

Wir Internationalisten sind wieder, und vielleicht zu ersten Mal, vital an der Nation interes­siert. Nun könnte man mit Hegel darüber spotten: Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Abenddämmerung. Ist also die Nation eine untergehende politische Formation?

Wir von der konsequenten Linken haben inzwischen begriffen: Emanzipative Kräfte und Be­wegungen brauchen eine politische Arena mittlerer Reichweite. Wir sind dem Finanzkapita­lismus auf globaler Ebene mit seiner geballten Macht hoffnungslos unterlegen. Dazu kommt aber ein weiterer Aspekt, der bisher von der Linken ganz und gar vernachlässigt wurde. Zwar kam bei einigen wenigen linken Kommunitaristen vor wenigen Jahrzehnten zum ersten Mal eine Ahnung auf: Der Rationalismus des Interesses allein genügt nicht für den Aufbau einer politischen Körperschaft, welche zum Emanzipations-Instrument der subalternen Schichten werden kann. Identität ist eine conditio sine qua non einer Bevölkerung, die „Volk“ i. S. des alten Mao werden soll.

Selbstbestimmung, Demokratie spielen sich kaum auf globaler Ebene ab. Selbstbestimmung läuft auf niedrigerer Ebene. Der Weltstaat und sein realistischer Ersatz, das Super-Imperium, ob es USA, China oder EU heißt, ist die Organisation der Despotie. Wir sollten Hegels Welt­geist endlich in den Mistkübel der Geschichte entsorgen und uns eher einer Kantianischen Perspektive alternativer Politik zuwenden: Die Suche nach einer neuen Befreiung bleibt Ver­such und Irrtum. Der aber muss sich dort abspielen, wo einerseits noch eine Möglichkeit der Massen-Partizipation existiert, gleichzeitig aber noch genug Steuerungs-Kapazität vorhanden ist, die Finanz-Oligarchie und die Eliten ganz allgemein zu kontrollieren.

Der neue Nationalstaat ist ein politisches Projekt, der diese beiden offenbar konträren, oder sagen wir lieber: dialektischen Anforderungen am ehesten noch erfüllen kann. Der „Sonderfall“ Österreich hat eine Zeitlang Ansätze in eine solche Richtung gezeigt, eher zufällig und zögernd. Wir schlagen dies als neues, als linkes, als demokratisches Projekt vor.

Literatur

Bauer, Kurt (2017), Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938 bis 1945. Frankfurt / M.: Fischer.

Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di L. Gruppi. (Vol.: Gli intellettuali e l’organizzazione della cultura). Roma: Riuniti.

KPÖ 1978: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit, Demokratie und sozialistische Perspektive. Sammelband. Wien: Globus Verlag

Perz, Bertrand (2006), Der österreichische Anteil an den NS-Verbrechen. Anmerkungen zur Debatte. In: Kramer, Helmut / Liebhart, Karin / Stadler, Friedrich, Hg., Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand In memoriam Felix Kreissler. Wien-Berlin: LIT Verlag, 223 – 234.

Reiterer, Albert F. (1987), Die konservative Chance. Österreichbewußtsein im bürgerlichen Lager nach 1945. In: Zeitgeschichte, 14. Jahr, 379 – 397.

Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr (5. Aufl.).

Winter, Ernst Karl (1969), Bahnbrecher des Dialogs. Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Missong. Wien-Zürich: Europa Verlag.