Das wahrscheinlichste Resultat der nächsten Wochen und Monate wird das Verbleiben Großbritanniens in der EU sein, das unwahrscheinlichste der May-Vertrag. So schätzte Costas Lapavitsas in seinem Referat über die britische Politik die Situation ein. Ich denke, er liegt richtig. Die Eliten sind völlig verunsichert. Wie auch nicht? Die letzten demoskopischen Erhebungen zu einer britischen Beteiligung an den EP-Wahlen ergeben folgendes Bild (Prozente):
Farage würde mit 27 % zur deutlich stärksten Partei. Die UKIP erhielte auch noch 7 %. Labour liegt an zweiter Stelle mit 22 % weit weg von seinem Höhenflug bei 40 % und darüber. Die Konservativen brechen mit 15 % überhaupt zusammen. Die ausgesprochenen pro-EU-Parteien (Grüne, Liberale, SNP, Labour-Abspaltung) aber kommen zusammen nur auf knapp über 30 % und liegen vereinzelt fast alle bei wenigen Prozenten. Und wenn man die potenziellen Wähler der Konservativen und Labours in pro-EU („remainers“) und Gegner („leavers“) aufteilt, dann wäre ein Sieg der remainers bei einer zweiten Abstimmung alles andere als sicher. Aber hier geht es nicht um Details, es geht um die Stimmung.
Was also machen? Die Eliten müssen es den Menschen drastisch vor Augen führen, was ein Austritt bedeutet. Seit Monaten raunen die pro EU-Zeitungen schon von den Gefahren neuerlicher Gewalt in Nordirland. Endlich hat nun eine obskure Gruppe begriffen: Sie haben den Appell ge- und erhört. Nun gab es endlich eine Schießerei, und eine Journalisten – welch ein Glück!! – kam dabei ums Leben. Übrigens wäre es keineswegs das erste Mal, dass in Nordirland nicht nur der britische Geheimdienst interveniert. Die Hintermänner / -frauen der Eliten sind also dabei zu zeigen, dass wir das Friedensprojekt EU ganz dringlich brauchen.
Es kann durchaus sein, dass es keinen Brexit gibt, es ist sogar wahrscheinlich. Gegenüber dem May-Vertrag wäre dies auch die für die meisten Briten bessere Lösung. Aber das wird sich als ein Pyrrhus-Sieg für die EU erweisen. Der Verein wird nach allem, was passiert ist, keineswegs mehr das sein wie vorher. Es stimmt: Kurzfristig haben wir die Macht und die Entschlossenheit der britischen und der EU-Eliten unterschätzt. Sie sind nicht bereit, eine solche für sie vitale Entscheidung gegen sich hinzunehmen. Aber mittel- und längerfristig wird das die Transformation des Imperiums beschleunigen. Fragt sich allerdings: die Transformation wohin?
Es ist nicht ausgesprochen wahrscheinlich, dass es besser wird. Da sie sich bei der britischen Volksabstimmung so verschätzt haben, werden sich die Eliten wohl hüten, sich schnell wieder auf ein weiteres Plebiszit einzulassen. Aber die politische Krise wird sich dadurch keineswegs lösen lassen. Im Gegenteil: Sie wird sich verschärfen und verlängern. Und sie wird sich mit Sicherheit langsam auf die EU insgesamt ausbreiten. Die Gesellschaftsspaltung hat sich bisher vor allem in der zunehmenden Ungleichheit ausgedrückt. Die Menschen haben Angst um ihre Zukunft und ihren Lebensstandard, sind depolitisiert und halten daher bisher weitgehend Ruhe. Diese Gesellschaftsspaltung dürfte aber nun verstärkt auf das politische System übergreifen. Das wird von Land zu Land unter¬schiedliche Formen annehmen. Was fehlt, ist allerdings eine politische Kraft, welche den Protest progressiv organisieren könnte. Und noch eines müssen wir in Betracht ziehen: Wenn die Prozesse um den Brexit Eines gezeigt haben, dann das: Die Eliten und ihre noch ziemlich breite Gefolgschaft sind nicht bereit, Entscheidungen gegen sich hinzunehmen. Ein Zerfall der EU oder auch nur eine deutliche, nicht nur symbolische Renationalisierung würde zu heftigsten Konflikten führen. Bisher hat die EU-Politik mit der Erdoğan-Methode gearbeitet, welcher dieser ja vermutlich von der EU abgeschaut hat: Man lässt solange abstimmen, bis sich das gewünschte Ergebnis einstellt. Was aber, wenn dieses Verfahren nicht mehr funktioniert? Transformismus hat man die Politik genannt, welche Giolitti in Italien rund um den Ersten Weltkrieg zur Meisterschaft entwickelt hat: Mit Wahl“beeinflussungen“ und parlamentari¬schen Manövern hielt er sich an der Macht und konnte seine Auftraggeber zufrieden stellen. Als aber Nitti 1919 / 20 tatsächlich ein allgemeines Wahlrecht durchführte, funktionierte dies nicht weiter. Giolitti übergab an Mussolini, wie auch Brüning in einer ähnlichen Situation 1932 an Schleicher und dieser an Hitler übergeben wird. Der alte Faschismus dieser Art ist den bürokratischen Eliten heute zuwider, weil sie ihn schlecht kontrollieren können. Das ist also wohl kaum die Gefahr. Diese Eliten sind heute durchwegs „antifaschistisch“. Ein Kennzeichen des Faschismus u. a. war, dass „der Partei¬sekretär dem Präfekten kommandieren wollte“, wie sich Togliatti gelegentlich ausdrückte. Das will die Bürokratie ganz sicher nicht. Wenn aber auch die Verlagerung der politischen Kompetenzen nach oben nicht mehr funktioniert, wenn diese Verlagerung gar rückgängig gemacht werden sollte – was passiert dann? AFR, 20. April 2019
Es ist nicht ausgesprochen wahrscheinlich, dass es besser wird. Da sie sich bei der britischen Volksabstimmung so verschätzt haben, werden sich die Eliten wohl hüten, sich schnell wieder auf ein weiteres Plebiszit einzulassen. Aber die politische Krise wird sich dadurch keineswegs lösen lassen. Im Gegenteil: Sie wird sich verschärfen und verlängern. Und sie wird sich mit Sicherheit langsam auf die EU insgesamt ausbreiten.
Die Gesellschaftsspaltung hat sich bisher vor allem in der zunehmenden Ungleichheit ausgedrückt. Die Menschen haben Angst um ihre Zukunft und ihren Lebensstandard, sind depolitisiert und halten daher bisher weitgehend Ruhe. Diese Gesellschaftsspaltung dürfte aber nun verstärkt auf das politische System übergreifen. Das wird von Land zu Land unterschiedliche Formen annehmen. Was fehlt, ist allerdings eine politische Kraft, welche den Protest progressiv organisieren könnte. Und noch eines müssen wir in Betracht ziehen: Wenn die Prozesse um den Brexit Eines gezeigt haben, dann das: Die Eliten und ihre noch ziemlich breite Gefolgschaft sind nicht bereit, Entscheidungen gegen sich hinzunehmen. Ein Zerfall der EU oder auch nur eine deutliche, nicht nur symbolische Renationalisierung würde zu heftigsten Konflikten führen. Bisher hat die EU-Politik mit der Erdoğan-Methode gearbeitet, welcher dieser ja vermutlich von der EU abgeschaut hat: Man lässt solange abstimmen, bis sich das gewünschte Ergebnis einstellt.
Was aber, wenn dieses Verfahren nicht mehr funktioniert?
Transformismus hat man die Politik genannt, welche Giolitti in Italien rund um den Ersten Weltkrieg zur Meisterschaft entwickelt hat: Mit Wahl“beeinflussungen“ und parlamentarischen Manövern hielt er sich an der Macht und konnte seine Auftraggeber zufrieden stellen. Als aber Nitti 1919 / 20 tatsächlich ein allgemeines Wahlrecht durchführte, funktionierte dies nicht weiter. Giolitti übergab an Mussolini, wie auch Brüning in einer ähnlichen Situation 1932 an Schleicher und dieser an Hitler übergeben wird.
Der alte Faschismus dieser Art ist den bürokratischen Eliten heute zuwider, weil sie ihn schlecht kontrollieren können. Das ist also wohl kaum die Gefahr. Diese Eliten sind heute durchwegs „antifaschistisch“. Ein Kennzeichen des Faschismus u. a. war, dass „der Parteisekretär dem Präfekten kommandieren wollte“, wie sich Togliatti gelegentlich ausdrückte. Das will die Bürokratie ganz sicher nicht. Wenn aber auch die Verlagerung der politischen Kompetenzen nach oben nicht mehr funktioniert, wenn diese Verlagerung gar rückgängig gemacht werden sollte – was passiert dann?
AFR, 20. April 2019