SPÖ – SPD – SP…

Der Abstieg der europäischen Sozialdemokratie

Andrea Nahles ist Geschichte – und außer konservativen Zeitungen wie FAZ und ähnliche Blätter weint ihr niemand nach. Joy Pamela Rendi-Wagner ist noch nicht Geschichte, und deswegen weinen schon eine ganze Reihe von Menschen, die eine Politik gegen die Herrschaft der progressiven Neoliberalen für dringlich halten.

Aber liegt es nur an diesen Personen? Natürlich nicht. Aber solange 98 % der SPÖ-Delegierten eine Person wie Rendi-Wagner zur Partei-Obfrau wählen (24. November 2018), braucht sich diese Partei wohl auch keine Hoffnungen machen. Und da man offenbar politisch nichts zu ihr zu sagen wusste und weiß, hat man sich auf die dümmlichste aller Sprachregelungen geeinigt: „diese großartige Frau“…

Man schlägt den Sack: „Thomas: Du BIST ein BOBO!!!! … Gewünscht hätten wir uns ein politisches Statement und Visionen für die Zukunft der Partei“ (Michaela Grubesa, steirische SP-Funktionärin, 26. September 2018) – und meint den Esel

Sie hat sich eine ziemliche Unverschämtheit geleistet, die Frau Rendi-Wagner im Morgen-Journal des ORF am 11. Juni. Unter den diversen, wie so üblich zum allergrößten Teil belanglosen Fragen fand sie schließlich doch noch das Hölzl, das ihr zugeworfen wurde. Sie würde als Frau stärker gefordert, sie würde härter beurteilt als ein Mann. M. a. W.: Sie würde parteiintern als Frau benachteiligt. Dabei wissen wirklich alle, dass sie es nur ihrer Existenz als Frau zu verdanken hat, dass sie zur Vorsitzenden gewählt wurde. Und sollte sie dies nicht wissen, leidet sie unter einem schweren Realitäts-Verlust. Die Delegierten wagten es schlicht nicht, gegen „die erste Parteiobfrau“ der SPÖ zu stimmen. Und weil die meisten nichts Schlechtes sagen wollten und durften, aber auch nicht wirklich etwas politisch Positives sagen konnten, kam es dann eben zur schon zitierten Sprachregelung.

Aber es steht eine bestimmte Politik dahinter! Versuchen wir es seriöser: Es gibt nicht wenige Sozialdemokraten / -innen, welche voll Wut im Bauch und voll Überzeugung wiederholen: „Diese Leute – auf dem Viktor Adler-Markt oder sonst wo – verdanken doch Alles der Sozial¬demokratie!“ Sie sind nicht mehr imstande, die fundamentalste Tatsache einer Demokratie zu erkennen: Nicht die Leute verdanken der Sozialdemokratie etwas. Die Sozialdemokratie. ihre Funktionäre und ehemaligen Minister verdanken es „diesen Leuten“, dass sie das sind oder waren, was sie sind. Sie wurden gewählt, weil „diese Leute“ von ihnen erwarteten, dass sie ihre, der Menschen, Interessen vertreten. Anstelle dies zu begreifen, sehen nicht wenige Sozialdemokraten und Partei-Funktionäre die Politik als Gnadenakt: Wie zu Zeiten Franz Josefs und vielleicht auch Viktor Adlers ist eine ausreichende Pension dem Wohlwollen des Herrschers, ob Kaiser oder SP-Kanzler, zuzuschreiben. Usw. Solange die Partei, ihre Mitglieder und Funktionäre und die Parteiführung, das nicht begriffen haben, geht es nach Unten. Denn das ist die Haltung, welche viele Leute an der Sozialdemokratie am meisten stört.

Auf den zweiten wesentlichen politischen Punkt hat Gernot in einer Diskussion jüngst hingewiesen. Die ein-zwei sozialdemokratischen Generationen in Österreich waren gekennzeichnet durch die Bereitschaft, von Oben wie von Unten, ein hohes Maß an Konsens zu suchen und herzustellen. Diese Bereitschaft ist Oben geschwunden. Die Eliten und ihre neoliberalen Funktionäre ebenso wie ihre Intellektuellen haben den Konsens längst aufgekündigt. Die europäischen Sozialdemokraten hatten zwei Antworten darauf: Die einen, die Blair, Schröder, später auch Renzis und Hollandes, fanden es richtig, sich selbst an die Spitze dieser Offensive, dieser Aggression von Oben zu stellen. Es gibt dafür nichts Kennzeichnenderes als Hartz IV. Dieser Typus von Sozialdemokratie wurde zum Kampftrupp des Neoliberalismus gegen Unten.

Die Anderen versuchten die Augen zuzumachen und die alten Verhältnisse weiterzuträumen. Es waren hauptsächlich die Gewerkschaften, die sich darin kommod eingerichtet haben. Ihr einziger verbliebener Slogan ist die „Sozialpartnerschaft“. Sie und viele mit ihnen verwechseln dies mit dem Sozialstaat. Sie begreifen nicht den gewaltigen Unterschied. Den Sozialstaat brauchen die Menschen, um zu überleben. Die Sozialpartnerschaft aber war das, womit die Gewerkschaften gekauft wurden. Den Sozialstaat unterstützen wir von Grund auf; die Sozialpartnerschaft müssen wir von Grund auf bekämpfen.

In Österreich war die Antwort nicht so eindeutig. Vranitzky hätte eine Schröder’sche Variante bevorzugt, wurde aber damals von der Partei ein wenig gebremst. Gusenbauer versuchte dann resolut auf Schröder zu spielen, man denke etwa an seinen Versuch, auch die Gewerkschafter aus dem Parlament zu werfen. Als Kanzler wurde er nach kürzester Zeit abserviert. Aber er war vorher sechs Jahre Partei-Obmann gewesen und selbst nach den vergeigten Wahlen von 2003, welche die SPÖ von der Ausgangslage her hätte gewinnen müssen, hat ihn die Partei noch Jahre gehalten. Warum? Weil er sie repräsentierte, wie sie ist.

Dann kam die lange Periode Faymann, die nur von persönlichen Ambitionen geprägt war. Schließlich setzten die sogenannten „Linken“ aus Wien in einem Putsch – anders lässt sich dies wohl nicht bezeichnen – den Herrn Kern durch. Dem ging nun jedes eigenständige Gefühl für Politik ab: Mal wollte er „modernisieren“, d. h. neoliberale Konsequenz zeigen; dann wieder glaubte er, Konsens suchen zu müssen. Und exakt aus dieser Haltung suchte er seine Nachfolgerin aus und hinterließ so der Partei Rendi-Wagner als ein vergiftetes Geschenk.

Und jetzt droht der SPÖ noch schlimmeres. Man liest in „Standard“ und „Österreich“, dass Vranitzky und Häupl den Zeiler wollen. Geht es noch tiefer? Vielleicht doch. In der BRD greift der „Spiegel“, das dortige Kampfblatt der neoliberalen Schickeria, einen Vorschlag des seinerzeitigen grünen Silberrückens Cohn-Bendit auf: Die SPD möge mit der LINKEN fusionieren. Aber das ist bei der Politik der Kipping und des Gysi eigentlich nur folgerichtig.

Aber, wir müssen es wiederholen: Die Eliten sind nicht mehr an Konsens interessiert. Sie wollen ihre Politik durchsetzen. Die SP, hier vor allem die Gewerkschaften, setzen auf Konsens in einer politischen Situation, wo der Gegenseite einfach gar nichts mehr an Konsens liegt. Die einzige Politikerin, die in der jüngsten SP-Krise überhaupt etwas Politisches geäußert hat, war Doris Bures. Und was sagte sie? Sie erwarte, dass man in Hinkunft wieder stärker zueinander finden werde und die Sozialpartnerschaft wieder Gewicht bekomme…

Anstelle Politik für Unten machte die SPÖ progressiv-neoliberale Identitäts-Politik und möchte im Übrigen alle Politik nach Brüssel hin überwiesen. Die Bevölkerung aber reagiert darauf. Da offenbar das „links“ ist, was solche Leute wie Wehsely oder Brauner oder Schie¬der vertreten, ist der Begriff „links“ diskreditiert. Die FPÖ mit ihrer Mischung aus altsozialdemokratischen Versatzstücken und kulturkonservativem Erscheinungsbild ging dagegen von Erfolg zu Erfolg.

Dann wurde aus dem neoliberalen Hintergrund Kurz aufgebaut bzw. baute sich Kurz selbst auf. Sein augenblicklicher Erfolg ist nicht ganz einfach zu erklären. Auf der wahlpolitischen Ebene ist es ziemlich simpel. Zum Einen liefen Teile der FPÖ aus der Provinz, die sich in dieser in Wien plebeischen Partei sowieso nicht wohlfühlten, zu ihm über. Mit Kurz fiel schließlich die FPÖ von 34 % in der Demoskopie auf 25 % zurück. In der Zwischenzeit steht die FPÖ unter 20 %. Den Rest holte Kurz sich von Neos und Grünen.

Auf der Ebene des Sozialen tut man sich schon etwas schwerer. Warum laufen ihm überproportional die alten Männer aus den nicht so gut gestellten ländlichen Schichten nach? Bei den jungen Menschen hat er, laut Nachwahl-Befragungen, wenig Chance und geringe Zustim¬mung. Ist es nur eine Art Renzi-Effekt? Der kam sehr kurzfristig auch auf hohe Zustimmung, weil er versprach, das italienische politische System, so wie es vor 5 – 7 Jahren war, zu verschrotten. Dass viele aus den Unterschichten dieses System verschrotten wollen, ist höchst verständlich nach den Erfahrungen, die sie im letzten Vierteljahrhundert damit machen mussten. Was in Italien Prodi, d’Alema und Berlusconi war, spielten in Österreich Vranitzky, Gusenbauer, Faymann und Kern.

Die unteren Schichten werden von diesem System verraten und verkauft. Aber gleichzeitig wollen sie es doch auch wieder beibehalten. Denn, vergessen wir nicht: „Es ist uns noch nie so gut gegangen.“ Das Ergebnis aus Italien kennen wir: Die Demokratische Partei ist abge¬stürzt, wurde aber schließlich von den Fünf Sternen durch ihre Politik gerettet, teils aus Unfähigkeit, teils aus Ämter-Gier. Für beides steht der Vizepremier di Maio, der von Bepe Grillo installiert wurde. Renzi bleibt wohlweislich verschwunden, zumindest vorerst noch. Noch lässt er seine Statthalter werken, die nicht so diskreditiert wie er sind.

Gehen wir nochmals kurz zu Rendi-Wagner! Das ist nicht so öd, das ist nicht nur oberfläch¬licher journalistischer Personenkult, wie es scheinen könnte. Denn ihre Person verkörpert wirklich die derzeitige SPÖ. Und an ihrer Politik, auch an ihren taktischen Bewegungen kann man ihren Charakter und den der Partei nicht so schlecht ablesen. Kaum war sie Partei-Ob¬frau, machte sie ihren ersten Kapitalfehler: Und der war ganz und gar nicht zufällig. An die Stelle des Bundesgeschäftsführers Max Lercher setzte sie ihr Double Thomas Drozda. Ich kenne Lercher nicht, und ich sehe keinen Grund, warum er mir sympathisch sein sollte nach seiner Karriere in der SP Steiermark. Aber er kannte die Partei und kam aus ihr heraus. Das trifft für beide Spitzen, Rendi-Wagner und Drozda, nicht zu. Jetzt haben sie als „Wahlkampfleiter“ wieder einen Parteimann, nachdem sogar wieder von Lercher die Rede war.

Warum ist das so wichtig? Weil es zeigt, welche Vorstellungen von Politik sie und die Partei mittlerweile haben, was eine Partei sei und wie sie geführt werden solle. Ihr Bild ist offenbar das Ministerium und die Privat-Unternehmung. Ein neuer Minister oder ein General-Direktor wird von oben eingesetzt: Alle spuren und denken nicht daran, irgendwie eigene Vorstellungen oder eine eigene Politik zu verfolgen. Das ist nun ganz sicher nicht, noch nicht, das Leben einer politischen Partei. Dort sehen sich die Funktionäre und Mitglieder mit einem gewissen Recht als Repräsentanten der Bevölkerung. An dieser so wichtigen Episode, denn damit hat sie sich die Partei zum nicht geringen Teil schon entfremdet, zeigte sich, dass die neue Vorsit¬zende eine Bürokratin mit Haut und Haar war und ist, dass jede andere Vorstellung bei ihr auf Unverständnis stößt. Es ist die Idee der Bürokratie, wie Politik sein und funktionieren soll. Das Prinzip der Repräsentation, der Legitimität durch das (Partei-) Volk ist ihr offenbar völlig fremd.

Ihrem Gegenspieler Kurz gelang es dagegen, eine reine Identitäts-Orientierung der älteren Menschen zu mobilisieren. Diese wenden sich gegen die kulturlinke, die progressiv-neoliberale Identitäts-Politik auf Seiten der SPÖ. Das würde aber auch heißen, und ich hoffe dass ich das nicht völlig falsch einschätze: Kurz wäre bald auch Geschichte. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das für Österreich zutrifft. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass da noch was dahinter steckt. Diese Mischung aus Renzi, Macron und Orban hat eine eigene Qualität.

Die SPÖ war also einmal eine Partei der Unterschichten, die von Intellektuellen geführt wurde. Als solche wurde sie von Viktor Adler Gegründet, und als solche stand sie in den 1970ern noch da. Sie hat diesen Charakter freiwillig aufgegeben. In der SP und sogar drüber hinaus ist es große Mode, sich auf Kreisky zu berufen. Gemein wie dies von den heutigen SP-Funktionären wie Drozda ist, der selbst seine berüchtigt gewordene Luxus-Uhr mit Kreisky rechtfertigt, ist es nicht falsch. Der hat von Anfang an den )individuellen) Aufstieg in und durch die Politik gepredigt, nicht die gesellschaftliche Veränderung. Wir wissen ja: „Solange ich regiere, wird rechts regiert!“ (1978)

Doch mit dieser Verschiebung nach Rechts bleiben die Unterschichten und Unteren Mittelschichten ohne politische Repräsentanz. Sie brauchten eine Zeitlang, bevor sie dies merkten. Überhaupt unterschätzen wir gern die Zeit in der Politik. Doch da diese Schichten ihre Repräsentanz „links“ nicht mehr fanden, mussten sie sich eben anderswo orientieren. Sie taten dies und schlossen sich den Populisten rechts an. Das war umso naheliegender, als sie mit der linksliberalen Kultur, inzwischen dem Hauptinhalt der SP-Politik, sowieso nie was am Hut hatten. Sie hatten diese akzeptiert, als Teil ihrer Partei-Identität, solange die Partei auch ihre Interessen vertrat. Die rechten Populisten versprachen, dieses so gegen die Interessen der Unteren gerichtete System zu verschrotten und dabei gleich auch noch die ungeliebte kulturlinke Orientierung. Aber dieses System verschrottet sich ohnehin von selbst.

In der BRD schicken sich die Grünen an, den Platz der SPD zu übernehmen. Es wird nicht lang dauern, dann wird man auch bei uns diese Tendenz spüren. Ist doch in Österreich die Nachäffung der deutschen Politik zum politischen Prinzip geworden. Aber das System-Problem löst dies nicht. Die Unterschichten verschwinden ja deswegen nicht, weil die SP ab- und die Grünen aufsteigen. Sie nehmen an Umfang zu, wie wir wissen, weil die soziale „Mitte“ systematisch ausgedünnt wird. Die schleichende Systemkrise und auch ihre politi¬schen Folgen bleiben uns erhalten. Das wird die Krise der politischen Parteien akzentuieren. Aber das braucht wieder Zeit. Nach der kommenden Wahl-Niederlage, am Ende dieses Jahres ist Rendi-Wagner vielleicht, sogar wahrscheinlich, nicht mehr Partei-Obfrau. Aber damit wird die SPÖ ihre Probleme keineswegs gelöst haben, nur ein weiteres Mal verschoben. Denn dass sie mit einer neuen Partei-Obfrau oder wahrscheinlicher einem Partei-Obmann auch ihren Charakter ändert, ist höchst unwahrscheinlich. Man sehe sich nur die Alternativen an, wie sie derzeit herumgeboten werden: Gerhard Zeiler, ein pensionsreifer TV-Mensch; und der Burgenländer Doskozil, der keine Überzeugung hat, diese aber an den jeweils meistbietenden verkauft.

AFR, 13. Juni 2019