Die Rechtssprechung des EuGH ist „eine Kampfansage an die Existenz nationalstaatlicher Arbeits- und Sozialverfassungen, deren Regulierungsniveau über ein vom EuGH definiertes Mindestmaß hinausgeht. … Die Bewahrung des sozial eingebetteten Kapitalismus“ wäre in Gefahr (Höpner 2009). Als Abhilfe schlug Höpner „eine politisch überwachte und kontrollierte … Selbstzurückhaltung des EuGH“ vor. Das war vor einem Jahrzehnt. Der Reformvor¬schlag erinnert akut an jene berühmte Fabel, in welchem die Mäuse beschlossen., der Katze eine Schelle umzuhängen, um sich vor ihr zu schützen. Dementsprechend war auch das Er¬gebnis. Der Aufsatz ist akut überholt. Mittlerweile hat die Zentralisierung und der Demokratieabbau so riesige Schritte gemacht, dass man wirklich schon das von den EU-Granden so häufig benutzte Vokabel von der Unumkehrbarkeit einsetzen muss. EuGH, EZB und Rat haben nach dem Vertrag von Lissabon, der nicht „Verfassung“ heißen durfte, ihren Weg beschleunigt fortgesetzt. Und jenseits dieser neueren Entwicklung ist auch die Beschränkung auf das Arbeits- und Sozialrecht völlig unangebracht. Wir stehen bei der Politik des EuGH vor einer umfassenden Strategie.
Der EuGH ist der Agent der Zentralisierung in der EU, meint der Ökonom Vaubel in der FAZ vom 14. Jänner 2013. „Bereits seit den 1960er Jahren usurpierte der EuGH unter Umgehung der politischen Willensbildung Souveränitäts-Rechte der Mitgliedsstaaten. Unlängst haben sich die Übergriffe des EuGH … radikalisiert“ (Martin Höpner 2009). Er steht für eine „Radikalisierung der Binnenmarkt-Integration“ (F. Scharpf).
Das ist für aufmerksame Beobachter nicht neu. Erstaunlich ist eher, wer den ersten Satz schrieb. Der „Verfassungsökonom“ Vaupel ist ein Konservativer, der in der erzkonservativen FAZ (14. 1. 2013) schreibt. Erstaunlich. Oder auch nicht. Es gibt im neoliberalen Hauptstrom mehrere Unterströmungen. Die Marktfundamentalisten, die direkten Vertreter des Kapitals, wettern manchmal gegen die Brüsseler und Luxemburger Bürokratie. Die geriert sich als der supranationale Gesamt-Kapitalist und ruft manchmal auch Einzelinteressen zur Ordnung. Und das sind dann nationale Einzelinteressen, z. B. auch deutsche.
Der EuGH ist real die Stimme der supranationalen Staats-Bürokratie, also dieses Gesamt-Kapitalisten. Somit vertritt er in der Regel die Sicht der Kommission und verleiht ihr Wirkkraft. „Brüssel“ ist ja bisweilen noch an den Rat gebunden, kann nicht ganz so wie gewollt. Der EuGH hingegen ist von jeder Rücksicht, etwa auf das Wohlergehen der Bevölkerung, völlig losgelöst. Seine Richter können agieren, wie sie wollen. Deswegen ist er wesentlich gefährlicher als die Kommission. Der EuGH ist die höchste Instanz der EU.
Das formale Recht
EGKS-Vertrag 1951: Art. 31 – 45, sowie ein Protokoll über die Satzung; weitestgehend wörtlich übernommen in
EWG-Vertrag 1957: Art. 164 – 188; dann in den Fusionsvertrag 1965 / 67. –
Geltend: Art 19 EUV regelt die Einrichtung des EuGH und Art 251 – 281 AEUV präzisieren seine ausgedehnten Kompetenzen; besonders wichtig Art. 267: Vorabentscheidungen Satzung des EuGH, Art. III: „Die Richter sind keiner Gerichtsbarkeit unterworfen.“
Der EuGH nützt die Weihe der richterlichen „Unabhängigkeit“ von jeder demokratischen Regung. Dazu haben ihn die Verträge gut ausgestattet. Tatsächlich ergänzt er sich in hohem Grad selbst. Formell entsenden die Mitgliedsstaaten jeweils einen Richter. Aber den oder die muss der EuGH akzeptieren. Eine Österreicherin wurde vor einem Jahr abgelehnt.
1952 wurde er gegründet. Damals war er zuständig für Streitereien innerhalb der Montan¬union (EGKS). Während die Hohe Behörde mit wenigen Artikeln geregelt ist, widmet der Vertrag dem Gericht eine ganze Anzahl von Seiten. In der EWG wird er nochmals mächtiger. Schon damals werden die Richter vom geltenden Recht ausgenommen, genießen „Immunität“. Inzwischen hat er sich zum strategischen Machthaber in der EU entwickelt, den selbst die europäistischen, globalistischen Regierungen fürchten, weil er sich ständig mehr Macht arrogiert. Er stellt sich tatsächlich über den Rat und erteilt diesem Ge- und Verbote.
Der Ex-Präsident der BRD, Roman Herzog, erregt sich (FAZ 8. 9. 2009) über die EuGH-Rechtssprechung und sagt: „Er gebärdet sich als oberster Gesetzgeber“ und er habe „einen Großteil seines Vertrauens verspielt“ (bei wem eigentlich?) Weiß er, was er da sagt? Denn man kann technisch gesehen dieses Zusammenspiel von Kommission und EuGH mit dem lateinamerikanischen Ausdruck autogolpe, „Selbstputsch“, bezeichnen: Das Personal an der Macht greift nach der totalen Macht ohne verfassungsmäßige Beschränkungen.
Doch die nationalen Eliten, die politischen Klassen, haben daran ihren diskreten Anteil. Der EuGH führt jene geheime politische Agenda durch, welche die nationalen Regierungen meist nicht öffentlich auszusprechen wagen, weil sie – noch – ihre Bevölkerung fürchten. Dass einzelne von ihnen gegen spezifische Entscheidungen einmal murren, ist wohl selbstverständlich. Dann schlagen sie eine Beschränkung der Macht des EuGH vor: Sie wollen z. B. einen Kompetenz-Gerichtshof; oder einen Subsidiaritäts-Gerichtshof. Ist die Diagnose des auto¬golpe aber richtig, haben solche Vorschläge keine Chance mehr. Beleg dafür ist, dass der EuGH den Beitritt der EU zur Menschenrechtskonvention und zum Europarat verboten hat (2014). Denn das würde ihn bei den Menschenrechten dem EGMR unterordnen.
Immer wieder kommt Kritik in Einzelfällen: Der EuGH hebelt Arbeits- und Streikrecht sowie Tarifverträge aus. Er macht in der BRD das Tariftreue-Gesetz zur Makulatur und öffnet damit der Lohndrückerei Tür und Tor. Usw. Das ist richtig. Doch das ist nur die Konsequenz der EU-Politik. Im Laval-Fall hatte es eine klare Frontstellung gegeben: Die alten westeuropäi¬schen gegen die neuen osteuropäischen EU-Staaten, die sich auf die USA orientieren. Da zeigt sich klar, was Sache war. Die EU-Osterweiterung war eine Strategie, mittels der man den europäischen Sozialstaat effizient und auf Dauer zerschlagen konnte. Diese Strategie hatte mit der Süderweiterung in den 1980ern begonnen. Damals wollten sich die EU-Eliten diese Länder als Schrebergärten im Hinterhof der EG gegen die USA sichern. Da die EG noch bei weitem nicht so zentralisiert war wie mit Maastricht und Lissabon, hatte dies auf das sogenannte europäische Sozialmodell noch geringe Auswirkungen. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte und der Wende zur EU hat sich dies gründlich geändert.
Aber diese Kritik am Sozialabbau durch den EuGH ist ein Mäkeln an einem sehr wichtigen Einzel-Problem.
Die Hauptfrage ist viel allgemeiner: Der EuGH hat von Beginn weg den „Vorrang des Europarechts vor dem nationalen Recht“ behauptet und nach Kräften durchgesetzt. Damit hat er sich über demokratische Entscheidungen gestellt. Die Vorabentscheidungen waren ein wichtiges Instrument: Ein nationales Gericht, gleich auf welcher Ebene, umgeht den Instanzenzug und wendet sich an den EuGH um eine authentische Interpretation. Der Begriff authentische Interpretation stammt aus dem österreichischen Verfassungsrecht. Er bezeichnet realiter keine Interpretation, sondern einen Akt der Gesetzgebung seitens des Parlaments. Der EuGH satzt also Recht, ohne jede demokratische Legitimation.
Dabei kann er sich auf eine erst winzige, inzwischen aber mächtige Zahl von „Europa-Rechtlern“ stützen. Es ist wie beim sogenannten „Völkerrecht“. Juristen, durch niemand außer durch die eigenen Berufs-Kollegen ermächtigt, folgen ihren korporativen Neigungen und Wünschen und beschließen unter sich: Das und jenes ist „Recht“. Das ist Expertokratie im schlimmsten Sinn. Sie haben Einfluss auf die reale Rechtssprechung, d. h. auf die Staatsgewalt mit der Androhung und dem Einsatz von Zwangs-Mitteln.
Das Rechtssystem funktioniert als Justiz-Bürokratie. Auf nationaler Ebene gibt es Mittel, wie man eine gewisse, nicht besonders effiziente Kontrolle über dieses abgekoppelte System ausübt. Der Instanzenzug – man zieht den eigenen Fall zu einem höheren Gericht weiter – gehört dazu, dann einige allerdings zahnlose Vorkehrungen im Disziplinarrecht. Die Politik hatte längerfristig eine bescheidene Autorität und konnte Gesetze ändern. All dies fällt beim EuGH aus. Und da das Gericht sich durch seine Rechte bei der Bestellung neuer Richter weitgehend selbst ergänzt, da die Weiterbestellung gang und gäbe ist, ist kaum etwas gegen die Ambitionen dieser Bürokratie zu machen. „Den EuGH durch die Politik zu korrigieren, ist in der bisherigen Struktur der EU eine Unmöglichkeit“ (Scharpf 2008 [!]).
Der EuGH wurde zum Paradigma der supranationalen Bürokratie, welche im Begriff ist, die nationalen Demokratien zu ersetzen und sie auch schon weitgehend ersetzt hat. Die Kommission steht im Zentrum der journalistischen Aufmerksamkeit, auch die EZB. Sogar das EP bekommt von den journalistischen Lohnschreiber Beachtung. Aber die mächtigste der Institutionen, der EuGH, bleibt im Schatten. Und wenn er einmal Beachtung findet, dann geschieht dies in einer Weise, die lächerlich ist und viel über das intellektuelle Niveau der Schreiber aussagt („neues Cordoba“ – in allen österreichischen Zeitungen Mitte Juni).
AFR, 1. Juli 2019
Höpner, Martin (2009), Integration durch Usurpation – Thesen zur Radikalisierung der Binnenmarktintegration. In: WSI Mitteilungen 8 / 2009, 407 – 415.
Luhmann, Niklas (1981), Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Frankfurt / M.: Suhrkamp.
(Dieser Text wurde geringfügig verändert für die Solidar-Werkstatt Linz geschrieben und von ihr veröffentlicht,)