Die Bevölkerung – die imperiale und die nationale Ebene
Die Bevölkerungsentwicklung ist ein wesentlichen Indikator dafür, wie es einer Gesellschaft als Ganzes ergeht. Freilich muss man sofort analysieren, aufgliedern, differenzieren und qualifizieren. Man darf weder auf die so beliebte und so irreführende organizistische „Gesamtsicht“ hereinfallen („Österreich ist wohlhabend“ – wer in Österreich?); noch vergessen, dass eine solche Entwicklung aus einer Reihe von Momenten besteht.
Westen: Belgien, Dänemark, alte BRD, Frankreich, Schweden, Finnland, Österreich, Niederlande, Luxemburg, UK; ohne BRD
Osten: Bulgarien, (Ex-) DDR inkl. Berlin; Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Kroatien, Ungarn, Slowenien; ohne DDR
„Süden“ (westliche Peripherie): Griechenland, Spanien, Italien, Portugal; Malta, Zypern; Irland
Quelle: EUROSTAT; für die BRD und die (Ex-) DDR stat. Bundesamt
Die EU weckt Begeisterung, Neid und Bewunderung auf der ganzen Welt – bei allen herrschenden Gruppen und ihren politischen Klassen, von der Nomenklatura in Beijing bis zur Kompradoren-Bourgeoisie und ihren politischen Marionetten der „Afrikanischen Union“.
Aber was sagt uns die Graphik?
Bei der Bevölkerungsentwicklung gliedern wir gewöhnlich nicht in Klassen. Wohl aber betrachten wir die nationale Ebene und sehen auf entsprechende Zusammenfassungen nationaler Gesellschaften. Das zeigt uns die Globalstruktur der EU deutlich genug. Wir sehen ein nordwestliches Zentrum, eine südwestliche Semi-Peripherie und eine östliche Peripherie. Das ist so eindeutig, dass wir es nicht weiter qualifizieren müssen. Und doch müssen wir hier bereits einen wichtigen Hinweis anbringen. Italien besteht aus einem hoch entwickelten nördlichen Zentrum und einer südlichen Peripherie, Und: Die neue BRD hat einen Teil des Ostens in ihre Grenzen aufgenommen und zeigt damit ein ähnliches Bild wie Italien. Sie hat nun ihr eigenes „Mezzogiorno“-Problem.
Der Osten wurde nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus von den eigenen neokapitalistischen Eliten in enger Zusammenarbeit mit den neokolonialen Gruppen des Westens systematisch zerschlagen. Die Bevölkerung glaubte anfangs den Verheißungen eines westlichen kapitalistischen Schlaraffenlands und ging mit. Bald ging sie weiter – ins Ausland. Denn die Bevölkerungen des Ostens wurden nun einem doppelten Schock unterzogen: Die Geburten-Entwicklung (technisch: die Natalität anhand der Gesamtfruchtbarkeit) sackte binnen weniger Jahre in einem Maß ab, wie wir es in der Bevölkerungsgeschichte noch nicht erlebt haben.
Gleichzeitig verschwand ein Gutteil des produktiven Apparats. Die Arbeitslosigkeit, bisher nahezu unbekannt außer in Jugoslawien, machte einen Riesensprung nach oben. Da die Menschen von was leben müssen, wanderten sehr viele eben aus. Die Abnahme der nationalen Bevölkerungen wird von der Graphik noch unterschätzt. Denn die östlichen Regierungen wollen die Entwicklung verschleiern und manipulieren ihre Statistiken. Die polnische Putzfrau, welche längst in Österreich lebt, aber alle Monate einmal ihre Verwandten in Polen besucht, wird dort noch zur „polnischen Bevölkerung“ gezählt.
Wenn wir auf die einzelnen Komponenten umsteigen wollen, auf Gebürtigkeit und Migration, können wir nicht mehr auf der Ebene der Gesamt-Bevölkerung verbleiben. Hier müssten wir nun schon in die Klassen-Analyse einsteigen. Denn wer wandert aus? Wir treffen in Österreich ja nicht den polnischen Staats-Angestellten, auch selten den polnischen Professor. Wir treffen hier die polnische Putzfrau und den polnischen Maurer.
In ähnlicher Weise ist auch die Natalität keineswegs klasseninvariant. Kinder muss man sich leisten können. In einer modernen Gesellschaft legen insbesondere die Mittelschichten, aber auch die oberen Unterschichten großen Wert darauf, ihren Kindern eine entsprechende Lebenswelt zu bieten. Das aber geht sich meistens für höchstens zwei aus, oft genug auch nur für Eines. Wir kommen hier also in das Gebiet, welches die eigentliche Problematik zeigt: die Klassenstruktur der modernen Gesellschaft.
Unglücklicherweise wird dies von den wenigen, die überhaupt noch Klassenanalyse betreiben, in der Regel auf rein nationaler Ebene getan. Doch das Imperium ist eine Realität, ein System. Eine sinnvolle Klassenanalyse muss dies berücksichtigen. Und dazu ist zu sagen: Ein einzelner ist damit weit überfordert. Hier müsste eine Institution, jedenfalls eine Personengruppe, ansetzen.
von Albert F. Reiterer