Die neoliberale Presse macht sich Mut. Einige Journalisten glauben, weil die pro-EU-Janitscharen in Wales eine Nachwahl gewonnen haben, könnten sie den Brexit noch abwenden. Das ist zwar keineswegs abgeschlossen, da sie ziemlich alles einsetzen werden in den nächsten Wochen. Sie werden nicht zögern, auch die Parteien zu zerschlagen, wenn nötig. Aber um aus der Nachwahl diese Hoffnung zu schöpfen, muss man schon blind sein.
Was schreibt der Standard, 3. August 2019? Gleich in einer Reihe von Artikeln, Karikaturen und Kommentaren macht er sich und der EU Mut:
„Boris Johnson hat sich ins Eck manövriert. … Die Schlappe ist schlimm für Johnson.“ (S. 7). Der Schreiber ist ein Journalist aus London, der sich offenbar ausschließlich unter seinesgleichen, unter EU-Fanatikern bewegt.
Und auf S. 40 unter einer Karikatur, die der Qualität des Zeichner – nun ja: keine hohe Anerkennung einbringen wird (aber vielleicht einen Journalisten- Preis für die richtige Gesinnung?), ein Loblied auf die neue liberale Abgeordnete, „Johnsons Antithese“, die schon zweimal die Wahl verlor und überdies auch noch jene ins Regionalparlament verpasste, bis der lokale Konservative korrupt wurde und daher seinen Sitz verlor. Dass also ihr nicht sonderlich eindrucksvoller Sieg etwas mit dieser Tatsache zu tun haben könnte, scheint dem Standard nicht in den Sinn zu kommen …
Und ähnlich lesen wir es in der offiziellen Regierungs-Zeitung, der
Wiener Zeitung, 3. / 4.August 2019
„Tory-Blues statt Johnson-Hype
Er hat einen Vorgeschmack von der Hölle bekommen…“
Aber dann heißt es: „Nach den jüngsten Umfragen kämen die Konservativen derzeit landesweit auf 32 % der Stimmern. Für Labour sprachen sich 22 % der Befragten aus, für die Liberaldemokraten 19 %. Der Brexit-Partei würden 13 % ihre Stimme geben. Die Brexit-Parteien wären damit noch immer stärker als die Gegner.“
Die anderen geistesverwandten Zeitungen sind nicht unbedingt so sanguinisch wie der „Standard“, auch wenn sie nicht weniger pro-EU sind, gleich ob liberal oder konservativ.
Frankfurter Rundschau, 3. August 2019 – (Die Zeitung ist sozialdemokratisch, pro SPD)
„Ein Pyrrhussieg in Wales
Die Nachwahlschlappe der Torys schwächt die Position von Brexit-Premier Boris Johnson im Unterhaus – aber nur auf den ersten Blick: Neuwahlen im Königreich könnten ihm wieder nützen. … Sie verfehlte die Rückeroberung des Wahlkreises nur knapp. In den wenigen Tagen, die Johnson nun an der Regierung ist, ist es ihm bereits gelungen, Wähler zurückzugewinnen, die unter Theresa May zu Nigel Farages Brexit-Partei abgewandert waren. Kein Wunder, dass man in Downing Street Parlamentswahlen noch für dieses Jahr erwägt – hoffend auf eine satte Mehrheit. Schon jetzt sehen Umfragen die Torys landesweit bei 34 Prozent, zehn Punkte vor der Labour-Opposition. Kann Johnson seine Situation noch verbessern? Hält der gegenwärtige ‚Boris Bounce‘ an? Mit seinem neuen Alles-oder-nichts-Stil stößt ‚der Neue‘ zwar auf starke Ablehnung bei vielen seiner Landsleute. Konservative Wähler aber, die schon zu Farage abgedriftet waren, hat er mit seiner harten Brexit-Linie offenbar beeindruckt. Unentschlossene Tories hat er neu mobilisiert.“
Bei der „Presse“ steckt man in der Zwickmühle, weil man einerseits erzkonservativ ist und daher den Konservativen einen Erfolg wünscht; andererseits ist man natürlich EU-phorisch.
Presse, 4. August 2019 (Kommentar zur Ausrichtung überflüssig)
„Seine erste Wahlniederlage tut Premier Boris Johnson nicht weh
Nach der Schlappe bei der Nachwahl in Wales rücken vorzeitige Neuwahlen des britischen Unterhauses noch ein Stück näher. … Dennoch hat er Grund zur Zuversicht: In Summe gewann das EU-Lager in Brecon and Radnorshire 48,8 Prozent, die EU-Gegner kamen auf 50,3 Prozent. Nach drei Jahren Warnungen vor dem Brexit war das Ergebnis damit verblüffend ähnlich dem Ergebnis der Volksabstimmung von 2016.“
Realpolitisch bedeutet die Wahl gar nichts, denn Johnson hat sowieso keine Mehrheit. Eine beträchtliche Gruppe der Konservativen stimmt in Brexit-Fragen mit der Opposition. Und ob es eine symbolische Niederlage war, steht offenbar auch nicht so ganz fest.
Apropos Symbolik: Es wird nach dem Brexit – so es ihn gibt – neben den Gewinnern im Einzelnen natürlich auch britische Verlierer geben. Ob dazu die walisische Landwirtschaft gehört, kann ich nicht beurteilen. Aber zum Einen wird es neben den Gewinnern für Großbritannien insgesamt einen entscheidenden Gewinn geben, und diesmal ist es ausnahmsweise einmal gerechtfertigt, von „Großbritannien“ insgesamt zu sprechen: Das Land wird sein Schicksal wieder selbst bestimmen können. Alles Andere ist eine Frage der internen Kräfte-Verhältnisse. Es dürfte sich, wenn nicht Sabotage im großen Stil betrieben wird, global-wirtschaftlich kurzfristig nicht allzuviel ändern. Natürlich wird sich auch für die Rest-EU nicht allzuviel ändern. Die düsteren Prognosen der „Wirtschaftsforscher“ sind reine Scharlatanerie.
Aber in einem Punkt wäre die Niederlage für die EU gar nicht zu überschätzen. Zum ersten Mal zeigt eine Gesellschaft, dass die Entwicklung der EU nicht „unumkehrbar“ ist – das Lieblingsvokabel der politischen Klasse und der EU-Bürokratie in all ihren Dokumenten. Und hier wird die Symbolik zur Realpolitik.