von Wilhelm Langthaler
In letzter Minute einigte man sich doch noch auf ein Freihandelsabkommen. Die neoliberalen Eliten auf beiden Seiten zeigen sich erleichtert, insbesondere die deutsche Autoindustrie. Das ist schon ein starker Hinweis darauf, dass das demokratische und soziale Potential des Brexits begrenzt wurde.
Was ist der Kern des Abkommens? Waren können nun doch zollfrei bewegt werden – solange die EU-Vorgaben zu Wettbewerb, Umwelt und Arbeitsrecht eingehalten werden.
De facto meinen „gleich lange Spieße“ (Kommissionspräsidentin von der Leyen), dass die Stärkeren die schwächere Konkurrenz vernichten dürfen. Das ist auch der Sinn des globalen Freihandelsregimes.
Hier liegt natürlich auch die Krux der Sache. Sobald es zu politischen Schutzmaßnahmen im Sinne der Mehrheit kommt, zum Beispiel in Form von öffentlichen Subventionen an Unternehmen, dann kann von einer sich benachteiligt fühlenden Firma ein Schiedsgericht angerufen werden.
Zu Recht verbucht es Boris Johnson als Erfolg, dass der EuGH nicht unmittelbar zuständig ist. Die zu bildenden Schiedsgerichte werden nicht weniger neoliberal sein, aber vielleicht trotzdem mehr paritätisch zusammengesetzt werden.
Jedenfalls können bei Verstößen Strafzölle auch gegen Waren aus anderen Branchen verhängt werden.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel aus Norwegen, das mit dem European Economic Agreement einer sehr engen Anbindung an die EU unterliegt. Dieses hindert das Land daran, die mit extremem Lohndumping arbeitende ungarische Fluglinie Wizz Air dazu zu zwingen, norwegische Sozialstandards zu akzeptieren. Großbritannien könnte das zwar tun, doch müsste es seitens der EU mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen.
Klar, das Arbeitsrecht ist in Großbritannien als europäisches Mutterland des Neoliberalismus meist noch weiter unterlaufen als in der EU, anders als im Hochlohnland Norwegen. Dennoch hat Johnson die Wahlen auch deswegen gewonnen, weil er öffentliche Investitionen in das Gesundheitssystem und auch in das Schienennetz versprochen hat. Die in der EU verpönten staatlichen Subventionen sind in England kein Tabu mehr, selbst nicht die Wiederverstaatlichung des Bahnnetzes.
Es geht aus der bisherigen Berichterstattung nicht klar hervor, was das Abkommen für den Verkehr, Energie, Infrastruktur und öffentliche Vergaben ganz im Allgemeinen bedeutet. Doch es wird beteuert, dass gleiche Bedingungen hergestellt werden sollen. Nur Dienstleistungen sind nicht abgedeckt. Das heißt aber im Umkehrschluss, dass London auch dann mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen muss, wenn es in den genannten Sektoren öffentlichen Interesses eingreift und nicht nur im Fall von Beihilfen für Exportprodukte.
Für Konfliktstoff ist jedenfalls gesorgt. Diese mögen aber erst im Gefolge von entsprechenden Handlungen der britischen Regierung entbrennen. Diese hat sich im Übrigen verpflichtet, eine Aussichtsbehörde für Subventionen zu errichten. Es wird wohl viel davon abhängen, wie sehr Westminster dem Druck von unten nachgeben muss. Was jedenfalls als Erfolg gelten kann, ist, dass staatliche Eingriffe nicht mehr wie im Binnenmarkt gänzlich ausgeschlossen sind, sondern benennbare Kosten in Form von EU-Strafmaßnahmen haben und im Prinzip auch in Kauf genommen werden können.
Freihandelsparadigma dekonstruieren
Trotz aller Erleichterung sehen die Paladine des Freihandels das Abkommen lediglich als Schadensbegrenzung. Und sie beziffern diesen sogar. „Ein No-Deal-Brexit hätte laut dem Londoner Wirtschaftsforschungsinstitut Niesr die britische Wirtschaftsleistung bis zum Jahr 2030 gegenüber dem Verlauf bei einem Verbleib in der EU um 5,5 Prozent reduziert. Grund sind Verluste bei Handel, bei Investitionen und bei der Produktivität. Der Freihandelsvertrag begrenzt diese Einbuße auf rund 4 Prozent.“ (NZZ 29.12.20, S.3)
Das basiert auf der neoklassischen Annahme, dass Freihandel zu mehr Wachstum, Spezialisierung, Produktivitätsgewinnen und Skalenvorteilen auf beiden Seiten führen würde. Das ist kontrafaktischer Voodoo-Glauben. Denn Handel findet fast nie unter Gleichen statt, sondern ist hochgradig von Ungleichheit geprägt, die dem Stärkeren zugutekommt. Der Haupteffekt der Globalisierung war der erhöhte Druck auf die Beschäftigten, die Zerstörung ihrer sozialen Errungenschaften, die ihren Höhepunkt in den 1970ern hatten. Seit damals geht die soziale Schwere wieder auf. Damit geht die strukturelle Nachfragelücke einher.
Wir gehen davon aus, dass die neoliberale Austerität ihrerseits zu Produktivitäts- und Wachstumsverlusten geführt hat und noch immer führt, wie man an der Stagnation nicht nur des vergangenen Jahrzehnts sehen kann, ganz zu schweigen von ökologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen.
Eine gerechtere Verteilung, das heißt mehr öffentliche Investitionen und Ausgaben sowie höhere Löhne und ein höheres Beschäftigungsniveau, erreicht durch eine gewisse und dosierte Abkopplung von der Globalisierung, würde den allgemeinen Wohlstand sogar heben.
Das ist die große Chance, die im Brexit liegt, nämlich demokratische Selbstbestimmung, gerechtere Verteilung und mehr Reichtum für alle – ganz abgesehen davon, dass das für die Entwicklung der peripheren Länder ebenso bessere Entwicklungschancen bieten würde.
Aus dem halben Brexit kann noch ein ganzer gemacht werden. Das geht weder mit Labour noch unter den Tories, sondern nur mit einem Working-class-Brexit, einem Ausdruck der hierzulande sehr schwer auszusprechen ist, aber in England sehr gut verstanden wird.
Nachsatz: Die Vereinbarung Nordirland de facto im Binnenmarkt zu belassen und die Zollgrenze in der irischen See zu legen, kann als politische Niederlage des imperialen England gesehen werden und verbessert die Chancen auf eine sozial fortschrittliche Interpretation des Brexit. Dass der alte linke Republikanismus sich im Gleichklang mit der neoliberalen EU befindet, ist dessen Kehrseite.