von Wilhelm Langthaler
Gedanken zum letzten Ass der EU-Eliten und zur Bedrohung durch den Präsidentialismus
Draghi wird im In- wie im Ausland als der große Retter gefeiert. Die Lobhudelei ist so groß, dass sie an einen Personenkult grenzt. Was ist seine Aufgabe und kann er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen?
Lassen wir im Überflug die wichtigsten politischen Passagen Revue passieren
Italien war seit der Wende 1989/91 jenes Land der EU, wo die Krise des politischen Systems angesichts der neoliberalen Konterreform am heftigsten zum Ausbruch kam. Schon der Berlusconismus war eine Form des bürgerlichen Rechtspopulismus gewesen, mit dem der Kollaps der Konsens für die Eliten abgefangen werden musste. Dessen Treiben setzte die EU mit einem Art Verfassungsputsch ein jähes Ende: Ein dazu nicht befugter Präsident stürzte Berlusconi 2008 und setzte den Eurokraten und Banker Monti ein. Seine „technische“ Regierung radikalisierte den neoliberalen Kahlschlag noch weiter. Dann folgte der nächste Populismus, jener des linksliberalen Blairisten Renzi.
Schon die ganze Zeit über hatten die Eliten an einem Mehrheitswahlrecht gebastelt. Doch sie konnten sich nicht drauf einigen, wer denn davon bevorzugt werden sollte. Die Tiefe ihrer inneren Konflikte verhinderte diese Form der Entdemokratisierung. Renzi versuchte daraufhin 2016 einen weiteren Befreiungsschlag. Mittels eines Verfassungsreferendums sollte hinter allerlei populistischen Aufputz autoritär umgebaut werden – er scheiterte kolossal und sein Stern verglühte so schnell wie er aufgestiegen war.
Dann kam erstmals ein von außerhalb des Systems erwachsender Populismus auf die Bühne, in einem gewissen Sinn von links stammend. Mit einem Drittel der Stimmen wurden die Fünfsterne 2018 mit einem Schlag zum Zentrum des politischen Systems mit einer deutlichen Opposition zum EU-Regime. Entgegen ihren Versprechungen war der Druck von unten zur Bildung einer alternativen Regierung so groß, dass es ihnen gelang die Lega aus dem Rechtsbündnis herauszulösen und das zu bilden, was in Italien souveränistische Regierung genannt wurde.
Aber auch hier griff das Präsidentenamt in Verletzung der parlamentarischen Verfassung ein und brach ihr die EU-kritische Spitze ab. Statt Wirtschaftsminister Savona ließ sich Premier Conte Tria diktieren, der als Instrument der EU-Eliten galt. Nachdem den Fünfsternen also die Flügel gestutzt und die progressiven Sozialreformen nicht vom Fleck kamen, begann der kometenhafte Aufstieg des Rechtspopulismus von Salvinis Lega. Schon nach einem guten Jahr glaubte Salvini Conte stürzen zu können, nur um einer sozialliberalen Regierung Conte II den Weg zu ebnen. Damit begann auch Salvinis Stern zu sinken und der EU-freundliche norditalienische Industrieflügel in der Lega wieder die Überhand zu gewinnen.
Man beachte, dass die Geschwindigkeit des Verschleißes des Populismus durchaus mit der soziopolitischen Fieberkurve in Korrelation steht.
Was Renzi ritt, Conte II zu stürzen und noch mehr in der Bedeutungslosigkeit zu versinken, hat wenig Relevanz. Aber in einem waren sich die Eliten weitgehend einig: ja keine Neuwahlen. Schon verbreitete sich der Gestank des alten, verstaubten Bipolarismus. Nun wäre wieder die Rechtskoalition an der Reihe gewesen. Doch da spielte der Quirinal nicht mit. Abermals betätigte sich der Präsident als Zerstörer der Verfassung, nicht als dessen Bewahrer.
Here comes Draghi
Schon seit einigen Jahren hatten die Eliten Draghi als Ass im Talon. Doch dachte man eher an das Amt des Staatspräsidenten, dass schon 2022 neu gewählt werden muss. Doch machte man ihn vorerst zum Präsidenten des Ministerrats (vulgo Premier). Das Präsidentenamt kann ja noch kommen.
Denn der Bipolarismus hat sich seit vielen Jahren als völlig verbraucht erwiesen, so wie die perpetuierten Schönheitsoperationen von Berlusconi ihn nicht mehr jung machen können. Mit Centro Destra (rechtsliberale Koalition) wäre die nach Corona zu erwartende politisch-soziale Krise kaum zu bewältigen gewesen. Dafür braucht es anderer Geschütze.
Was ist nun die Funktion der Quasi-Allparteien-Regierung Draghi? Die Opposition von Giorgia Melonis rechten, atlantischen Fratelli d’Italia ist funktional, denn es soll ja nicht der Eindruck einer Diktatur aufkommen.
Erstens: Der Populismus von links und rechts liegt am Boden zerstört. Es ergibt sich eine einmalige Gelegenheit diesen aufzusaugen. Ob das überhaut geht, ist die eine Frage, aber wenn es gehen sollte, dann ist jetzt sicherlich der Zeitpunkt dazu. In jedem Fall ist der Populismus geköpft und die Operation könnte sich schon als erfolgreich erweisen, wenn man die Herausbildung einer neuen politischen Artikulation unterbinden könnte, zumindest eine entscheidende Zeitspanne lang.
Zweitens: Draghi hat sich überdeutlich als Pro-EU und Pro-USA ausgesprochen, ja er ist in gewisser Hinsicht deren Prokonsul, der Inbegriff eines Eurokraten, der in die Heimat zurückkehrt, um diese aufzuräumen und zu retten. Angesichts der seit Jahren sehr manifesten Opposition und Ablehnung der neoliberalen EU-Diktate, kann eine solche parlamentarische und mediale Unterstützung nur als außergewöhnlich gelten und kann auch bis zu einem gewissen Grad nach unten getragen werden – vorausgesetzt es gelingt die Herausbildung eines neuerlichen Kristallisationspunktes und einer politischen Repräsentation zu verhindern. Daher auch die Rolle von Meloni, die als einzige Partei gegen Draghi gestimmt hat und voll systemisch ist.
Drittens: Die Eliten ringen seit Jahren, ja seit Jahrzehnten um den autoritären Umbau der Institutionen. Oder anders gesagt: die progressive Verfassung von 1948 und die weitgehende repräsentative Demokratie ist nicht in der Lage die Opposition von unten gegen das neoliberale Regime niederzuhalten. Es bedarf des autoritären Umbaus. Am Mehrheitswahlrecht ist man gescheitert und selbst wenn es gelänge, verspräche es mit dem zerrütteten Parteiensystem auch keine Lösung. Doch das ständige Eingreifen des Präsidenten weist den Weg, den Renzi schon angedacht hat: Präsidentialismus! Damit würde man sich nach zwei Richtungen hin absichern: Einerseits den ständigen Streit innerhalb der Eliten im Zaum halten und andererseits die latente Opposition aus dem Volk nachhaltig aus den Institutionen aussperren.
In Frankreich hat das für ein halbes Jahrhundert ganz gut funktioniert. Die regelmäßigen Explosionen auf der Straße hat man bisher polizeilich unterdrücken können, während diese nie in vollem Umfang in die politische Sphäre vorstoßen konnte. Doch Italien ist nicht Frankreich.
Das sozioökonomische Programm Draghis
Draghi hat also eine große politische Aufgabe. Kann er das schaffen?
Eines ist sicher: wenn er mit dem Auslaufen der Epidemie und dem damit verbundenen Ausnahmezustand zur alten EU-Austerität zurückkehrt, dann ist sein Scheitern so gut wie sicher. Er selbst scheint das zu wissen und den deutschen und Brüsseler Herren scheint das zumindest zu dämmern. Monti 2.0 ist also ausgeschlossen.
Sein Regierungsprogramm ist daher ausgesprochen vage, spricht von der Reform der Justiz, der öffentlichen Verwaltung und des Steuersystems, nichts was nicht auch aus der Sicht der unteren Hälfte der Bevölkerung veränderungsbedürftig wäre. Das neoliberale Steckenpferd der EU, der Abbau der Pensionen, steht im Hintergrund, auch wenn die im Ansatz progressive Reform von Conte still auslaufen soll. Auch das weitere Herunterdrücken der Löhne (Kodewort Arbeitsmarktreform) scheint nicht im Zentrum zu stehen.
Viel wichtiger ist Draghis Sager von den guten und schlechten Schulden. Die guten Schulden seien jene, die zu produktiven Investitionen genützt werden würden. Das ist eine große, eine sehr große Ansage. Draghi setzt alles auf die unter dem Titel Corona zugesagten Subventionen und Kredite. Diese werden von der EU als gigantisch gefeiert. Doch in der Realität sind sie im Verhältnis zum notwendige Nachfrageimpuls klein und sie sind potentiell an sehr harte neoliberale Auflagen gebunden, die den halbkeynesianischen Versuch zum Scheitern bringen können.
Ob die Operation sozioökonomisch funktionieren wird, kann bezweifelt werden. Die soziale Krise ist enorm und die Ruhe wird nur durch den Corona-Ausnahmezustand aufrechterhalten. Nachfragestärkende Maßnahmen müssten schnell und massiv kommen, um politische Wirkung zu entfalten, zumindest bis zu den nächsten Wahlen. Doch das kann und darf die EU nicht zulassen, denn das würde die De-facto-Verfassung der neoliberalen EU-Verträge in die Luft sprengen. Zudem hat sich gezeigt, nicht zuletzt in Frankreich unter Mitterrand, dass Nachfrageimpulse nationalstaatlich geschützt werden müssen, wovon keine Rede sein kann – und das erwies sich schon vor dem Binnenmarkt und dem Euro als revolutionär und daher für die keynesianische Bourgeoisie unmöglich. Eigentlich handelt es sich um eine Mission impossible es sei denn die Impulse kommen von außen, von der Weltwirtschaft.
Warum das letzte Ass?
Politik ist nie direkter Ausdruck der Ökonomie und erstere hat manchmal sogar bestimmende Wirkung auf die Wirtschaft. Italien ist ein soziopolitischer Vulkan, für die italienischen Eliten genauso wie für die EU. Die Ablösung der unteren Klassen von den Eliten ist ein tiefgreifendes Phänomen mit bald zwei Generationen Geschichte. Nicht nur Berlusconi, Monti, Renzi konnten daran nichts ändern, sondern auch der Zauberer Draghi wird das nicht können – aber das ist auch nicht die Aufgabe.
Diese besteht darin, in einem kurzen Zeitfenster des auf dem Boden liegenden Populismus einen institutionellen Coup zu landen, der die parlamentarische Demokratie fundamental beschneidet und ein bonapartistisches System etabliert. Mit diesem soll dann die soziopolitische Opposition strukturell niedergehalten werden können.
Vor unseren Augen entfaltet sich ein großer Klassenkampf, ein Finale für das was mit Tangentopoli Anfang der 1990er begonnen hatte. Ein richtiger Kampf hat es an sich, dass der Ausgang anfangs ungewiss ist. Draghi ist sicher ein Ass und die Seite der Unterklassen scheint kopflos wie nie.
Doch ohne einer hegelianischen Geschichtsmystik das Wort zu reden, war der Durchgang durch den Populismus für viele eine Lehre und führte zu einer antiinstitutionellen Radikalisierung. Eine Art Gelbwesten à la italienne liegt in der Luft. Der Widerstand gegen den Lockdown insbesondere im Süden hat da und dort mit seiner sozialen Aufladung einen Vorgeschmack darauf geboten. Allein, der bereits dargestellte Unterschied zu Frankreich ist, dass diese Volksopposition nicht aus der politischen Sphäre ausgesperrt werden kann. Das politische Vakuum unten war noch nie so groß wie heute und viele stellen sich an es auszufüllen.
Und man bedenke, diesmal geht es nicht wie in Griechenland 2015 darum die Herkules-Aufgabe einer Volksregierung, auf die man in keiner Weise vorbereitet gewesen war. Es geht lediglich darum, Draghi scheitern zu lassen. Und damit wäre die Krise des neoliberalen Regimes nicht nur in Italien, sondern auch der EU auf eine neue Stufe gehoben. Das Scheitern Renzis brachte den ersten gescheiterten souveränistischen Versuch. Das Scheitern Draghis wird eine Anti-EU-Revolution bringen, nicht geführt von den bourgeoisen Tories wie im Brexit, sondern von einer wilden Koalition der unteren Klassen.
Dieser Artikel erschien in redaktionell bearbeiteter Form auf Makroskop.