Ideologischer Kitt von Schwarzblau: Immigranten als Sozialschmarotzer dämonisieren

Wirtschaftspolitische Realität: Lohndrücken durch Arbeitszuwanderung fördern

von Wilhelm Langthaler

Das vielleicht wichtigste politisch-kulturelle Element des Regierungsprogramms und auch des gesamten Wahlkampfs ist die Ausmachung eines Feindes, eines Schuldigen, der zu jagen und zur Strecke zu bringen ist. Es sind das die Flüchtlinge und insbesondere die Muslime.

Tenor: Deren Ziel sei das leistungslose Einschleichen in den Sozialstaat. Zum Dank dafür wollten sie sich nicht einmal integrieren und gefährdeten uns sogar noch mittels des Politischen Islam. „Aber so nicht – nicht mit uns! Wir stellen wieder Fairness her und verteidigen uns.“ Dieses Motto wird im Regierungsprogramm über dutzende Seiten wiederholt und breitgetreten.

Bei vielen Menschen aus den unteren Schichten (und nicht nur) fällt diese Rhetorik auf fruchtbaren Boden. Sie sehen sich mit Abbau von Sozialleistungen konfrontiert und gehen der neoliberalen Propaganda über dessen Notwendigkeit oft auf den Leim, während Flüchtlinge Leistungen erhielten, ohne zum Gemeinwesen etwas beigetragen zu haben oder diesem anzugehören.

In diesem Narrativ ist nicht enthalten, dass diese Ausgaben bei lediglich 1-2% des Budgets liegen und zudem in Zeiten der Stagnation noch eine konjunkturfördernde Wirkung haben. (Keynes sprach veranschaulichend vom Künettengraben und wieder zuschütten, nur um Menschen in Lohn zu bekommen und auf die belebende Wirkung der Brotnachfrage zu setzen.) Zudem können die einen Budgetposten nicht direkt anderen gegenübergestellt werden, sondern sie stehen nur per Saldo in einem Zusammenhang. Ganz zu schweigen vom einem auf westliche Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung aufgebauten Weltsystem.

Jedenfalls kündigt die neue Regierung massive Schläge gegen diesen von außen eindringenden Feind an. Als unmittelbare Maßnahme wird die Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder gesenkt. Die Mindestsicherung (die in der Kompetenz der Länder liegt) wurde für Flüchtlinge bereits massiv verringert. Da geht es vor allem gegen Wien, wo sich die Stadtregierung bisher verweigert hat einen Elendssektor zu schaffen. Die mobilisierende Wirkung gegenüber der eigenen Klientel soll durch demütigende Symbolik wie Abnehmen von Bargeld, Umstellung auf Sachleistung, Massenquartiere usw. untermalt werden.

Den Feind schaffen – Kulturkampf

Dabei wird systematisch Missbrauch, Kriminalität, barbarische Kultur, feindliche Werte gipfelnd im islamistischen Terrorismus unterstellt. Kostproben: „kulturell bedingter Gewalt, Kinder-, Mehrfach- und Zwangsehen sowie der Praktizierung der Scharia“, „Ehemänner von Kinderbräuten mit der Obsorge zu betrauen“, „Islamisierung der Gesellschaft“, „der politische Islam, der zu Radikalisierung, Antisemitismus, Gewalt und Terrorismus führen kann“, „Parallelgesellschaft“ (ganze fünfmal). Nicht zu vergessen, es handelt sich um ein Regierungsprogramm und keine rechtsradikale Hetzschrift.

Ständig wird von der Wertevermittlung gesprochen, die, wenn nicht angenommen, mit Sanktionen wie Leistungskürzungen erzwungen werden soll: „Arbeits- und Teilhabepflicht“. Eine Orwell’sche Stilblüte aus dem Kapitel Elementarpädagogik (vulgo Kindergarten): „Genau definierter, verbindlicher Wertekanon (Bekenntnis zur Verfassungs-, Werte- und Gesellschaftsordnung, verbindliche Vermittlung)“ – wie darf man sich sowas bei fünfjährigen Kindern vorstellen? Und die gefährliche Parallelgesellschaft verhindert man scheinbar am besten, indem Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen in Ghettoklassen aussortiert werden. Ganz nebenbei will man die Möglichkeit für exklusive Eliteschulen schaffen: „Eingangsverfahren für Höhere Schulen im Rahmen der Schulautonomie“.

Regierung will Arbeitsimmigration fördern

Das Infame dabei ist aber, dass gleichzeitig vom „Fachkräftemangel“ (sechsmal) insbesondere im Tourismus schwadroniert wird. Nicht, dass das Problem auf die geringen Löhne oder menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen zurückgeführt würde. Umgehend wird von der Notwendigkeit von weiterer Zuwanderung gesprochen. Gemeint sind damit weiße, christliche Osteuropäer. Mittels EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit werden seit vielen Jahren die Löhne heruntergedrückt. Als Ablenkung schlägt VP-FP umso heftiger auf die kulturell und oft auch der Hautfarbe nach als anders gekennzeichneten Flüchtlinge meist aus Nahost ein. Am Arbeitsmarkt sind diese als Konkurrenz jedoch viel weniger wirksam, nur am untersten Ende, wo die Flüchtlinge alteingesessene Türkisch- und Jugoslawischstämmige verdrängen. Entsprechend stellen sich viele von den Betroffenen nicht nur gegen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge, sondern kaufen auch das zugehörige chauvinistische Narrativ mit, auch wenn sie zum Teil selbst diskriminiert werden.

Integration durch Verarmung, Zwang und Gewalt?

Die globalen Eliten im Allgemeinen (man erinnere sich an Samuel Huntington) und Schwarzblau spezifisch in Österreich versuchen ihre Herrschaft mit einem Kulturkampf zu stabilisieren und zu legitimieren. Solche Impulse gibt natürlich auf der Seite des globalen Südens und der Marginalisierten bei uns ebenso – es wirkt wechselseitig.

Die symbolische Demütigung und Unterwerfung der Flüchtlinge und Einwanderer, ihre Verarmung und soziale Ausgrenzung, die Verschlechterung ihrer Lebenschancen, der Zwang zur kulturellen Assimilation, die repressiven Maßnahmen und der Generalverdacht führen zum genauen Gegenteil dessen, was die Regierung vorgibt erreichen zu wollen („Wertevermittlung“). Einerseits schafft sie soziales Elend in dem Lohndruck, Konkurrenz, Kriminalität, Bandenwesen organisch werden. Andererseits heizt sie den Kulturkampf weiter an.

Es ist diese Zangenbewegung von sozialem und kulturellem Ausschluss, die die „Parallelgesellschaft“ erst erzeugt. Lebenschancen bieten wäre indes der zentrale und sehr wirkungsvolle Hebel zur Integration. Die Regierung will und macht das Gegenteil.

Wie die Nuss knacken?

Wir wissen aus der Geschichte, dass das chauvinistische Narrativ, wer immer auch als das Böse herhalten musste, rational und frontal kaum zu zerlegen ist. Zudem ist der Herrschaftsapparat immer wesentlich daran beteiligt, das Feindbild andauernd zu speisen und zu bestätigen. Antirassistische Denunziation ist also politisch sinnlos und als moralisierende Selbstbeweihräucherung oft sogar kontraproduktiv.

Klassisch wird von links dem die Konzentration auf die soziale Frage gegenübergestellt. Das ist zwar ganz allgemein richtig, aber muss auch politisch-symbolisch gefasst werden. Heute geht das nur gegen die Globalisierung, die grenzenlose Freiheit der Eliten Waren, Kapital und Arbeitskraft weltweit zu bewegen. Dagegen setzen wir die demokratische Souveränität des Volkes, die die Gesellschaft umfassend nach ihrem Willen mittels des Nationalstaates gestalten will.

Das heißt auch, dass das Problem der extremen globalen Ungleichheit und ungerechten Herrschaft nicht mit Migration gelöst werden kann, sondern nur mit dem Ende des Freihandelsregimes und der selbstbestimmten Entwicklung. Der Schlüssel ist das kollektive Recht auf Selbstbestimmung, nicht auf individuelle Flucht. Ein politisch entscheidendes Element in diesem Kontext ist die Regulierung des Arbeitsmarktes. Denn nur so kann dem Druck nach unten in den unteren Segmenten entgegengewirkt werden. Zweites Element ist, dass Flucht und Asyl jeweils politisch auszuhandeln ist.

Ausgehend von diesen Grundprämissen ist der Weg frei, verständlich zu machen, dass jene, die ihren Lebensmittelpunkt bereits hier haben, volle Lebenschancen erhalten sollen. Denn sonst dienen die Immigranten zur Spaltung der unteren Hälfte der Gesellschaft. Das führt nicht nur zum Aufgehen der sozialen Schere, sondern befördert auch der Entdemokratisierung und exklusive Elitenherrschaft, mit der wir heute konfrontiert sind.

Strategische Achsen gegen Schwarzblau

von Wilhelm Langthaler

Thesen zur Diskussion und Mobilisierung

 

1) Zähe und langfristige soziale Mobilisierung gegen die Angriffe von Kurz-Strache

Die Schwachstelle im Kabinett ist die FPÖ, die das Gegenteil von dem tun muss, was sich ihre plebejische Klientel erwartet. Schwarzblau hat zwar eine bequeme parlamentarische Mehrheit, aber sie sind gesellschaftlich dennoch schwächer als Schwarzrot. Die Attacken der neuen Privilegieren-Regierung könnten abgewehrt werden, denn im Herrschaftsapparat selbst gibt es Leute, die sich ihren Misserfolg wünschen, einschließlich gewisser Teile der Regimemedien. [Bild: Kronenzeitung vom 3.1.2018] Wir können nicht überall sein und müssen uns auf jene Fragen konzentrieren, die am meisten Sprengkraft und Potential haben vom Sozialen ins Politische vorzudringen. Was das sein wird, zeichnet sich noch nicht deutlich genug ab.

 

2) Strategische Zersetzung der FP-Basis

Wir müssen uns an die Unterschichten richten und den systematischen sozialen Betrug durch die FP zeigen. Da ist der politisch-kulturelle Snobismus des Linksliberalismus ungeeignet. Auch die antirassistische Denunziation. Auseinandersetzung, Diskussion statt Isolierung und Boykott. Die FP-Regierungsbeteiligung ist die Chance die Partei von ihrem Unterschichtenteil zu trennen und auf ihren chauvinistisch-reaktionären Kern zu reduzieren. (Die ÖVP ist viel direkter die Partei der Oberschichten, aber es gibt natürlich auch dort ein Element der Täuschung der unteren Hälfte.)

 

3) Wider die identitäre Mobilisierung von Kurz-Strache

Sozioökonomisch wird die Regierung ihrer Unterschichtenklientel nur sehr wenig bieten können. Um so wichtiger ist der ideologische Kit der identitären Mobilisierung gegen Flüchtlinge, Immigranten und vor allem den Islam. Kulturchauvinismus enthält ein massenpsychologisches Element, hat fast den Status einer negativen Zivilreligion, und kann daher durch rationale Argumentation schwer aufgelöst werden (man erinnere sich an den historischen Antisemitismus). Um so mehr muss man dem entgegenhalten und den Chauvinismus über die sozioökonomische Frontstellung zu den Eliten aufbrechen.

 

4) Hauptfeind liberales Zentrum und sein supranationales antidemokratisches Korsett

Die Globalisierung hat soziale Spaltung und Verwüstung sowie Entdemokratisierung im Interesse einer winzigen Elite gebracht. Wirtschaft und Gesellschaft muss unter die Kontrolle der Mehrheit gebracht und von dieser politisch mittels des Staates bestimmt werden – das heißt für uns Volkssouveränität. Das bedeutet Regulierung der Bewegung des Kapitals, der Waren und der Arbeitskräfte, des wichtigsten Produktionsfaktors. Das braucht den Mut zum Widerstand gegen und Bruch mit dem globalen Freihandelsregime und dessen europäischer Form, dem Binnenmarkt und seinem Brüsseler Protostaat.

 

5) Neue Oppositionsplattform gegen das neoliberale Regime (Schwarz-Blau-Rot)

Unser Widerstand gegen Schwarzblau darf nicht vergessen, dass die neue Regierung Folge des rotschwarzen Neoliberalismus ist. Dahin wollen wir nicht zurück. Wir wollen alle demokratisch und sozialen Kräfte, die bereit zum Bruch mit dem neoliberalen System sind, zu einer gesellschaftlich relevanten Plattform zusammenfassen, die eine Alternative bilden kann.

WALDHEIM / VRANITZKY UND DIE LINKSLIBERALEN: EINE ALLIANZ GEGEN ÖSTERREICH

Mitte der 1980er hatte in Europa bereits die neoliberale Wende eingesetzt. Auch in Österreich war den hier bislang schwachen Wirtschafts-Eliten die Politik des Beveridge’schen Wohl­stands-Staats im Rahmen eines keynesianischen Steuerstaats lästig geworden. Denn dies hatte zwar in ungeahnter Weise die Bevölkerung ins System integriert. Aber es kostete.

Österreich hatte sein politisch-kulturelles-ideologisches System nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst als Antithese zur deutschen Entwicklung aufgebaut. Das Land und seine Bevölke­rung konstituierten sich seit 1955 als Sonderfall in einer bipolaren Welt. Symbol dafür war die Neutralität. Sie wurde mit der Idee einer selbstbestimmten österreichischen Nation verbunden und aufgeladen. Um die neoliberale Wende durchziehen zu können, musste man die Idee und die Wirklichkeit dieses Sonderwegs auf Basis der österreichischen Nation entsorgen. Das hieß auf Perspektive: die österreichische Nation zerstören.

Die passende Ideologie mit ihrer historischen Nostalgie war vorhanden. Die sozialdemokrati­sierten Intellektuellen waren seit je heimliche Deutschnationale und Großmacht-Fanatiker. Die Mehrzahl der sonstigen österreichischen Intellektuellen war auf eine gar nicht so seltsame Weise stumm. Zwar: Es gab da die prononcierten Katholiken, Typus Friedrich Heer, die in der Tradition des Ernst Karl Winter standen. Und es gab die Linken, für die der in Frankreich verbliebene Felix Kreissler sprach. Die KPÖ bemühte sich, auf ihre Copyright-Ansprüche an der Österreichischen Nation – Ö groß geschrieben – hinzuweisen (KPÖ 1978). Sie wurde aber von den anderen Kräften nicht einmal ignoriert.

War es im Austrofaschismus das Ziel auch der Regierung, die „besseren Deutschen“ zu sein, so war nach dem Nazi-Zusammenbruch die nationale Eigenständigkeit auch im Bereich der Identität die Grundlage. Selten wurde der Projekt-Charakter der nationalen Identität so klar, wie im Falle Österreich nach 1945. So war es nur logisch, dass sich die antiösterreichischen Kräfte mit ihren Wurzeln im Nazi-Faschismus deutschnational festlegten. Sie nahmen dabei u. a. eine strikte Orientierung auf die E(W)G vor, nachdem diese 1950/57 gegründet worden war. Es war die FPÖ, welche deutschnational und pro-europäisch war. Dies Alles ist auch in den stenographischen Protokollen des Nationalrats nachzulesen. Dabei traf sie sich mit den alten Legitimisten. Otto Habsburg war lange Jahre CSU-Abgeordneter im EP.

Dem stand die Österreich-Orientierung gegenüber. Zu ihr hatte schließlich auch die SPÖ nach langem Zögern gefunden. In der Kreisky-Zeit wurde sie zur Österreich-Partei. Die ÖVP tat sich mit diesem sozialdemokratischen Österreich immer schwerer. Die Ironien im Ablauf des Geschehens wirbelten schließlich die Positionen völlig durcheinander. Die letzten Kreisky­aner verschwanden. Erwin Lanc z. B. wurde in einer innerparteilichen Intrige von Fred Sino­watz weggeräumt, bevor dieser selbst im Orkus des Bezirksgerichts verschwand.

Den wesentlichen Bruch stellten aber der Präsidentschafts-Wahlkampf 1985 / 86 und sodann die Präsidentschaft Kurt Waldheims dar. Waldheim repräsentierte die alte Politik mit ihren vorgeblichen Sicherheiten. Er war schon einmal Kandidat der ÖVP gewesen, hatte sich aber nicht überaus ruhmvoll geschlagen. Die neu-alten Kräfte waren auf ÖVP-Seite durchaus mit schmutzigen Elementen des alten christlich-demokratischen Antisemitismus gemischt. Alois Mock stand kennzeichnend dafür. Aber auch Sinowatz repräsentierte diese Politik. Er glaubte, er könne die Konservativen auf diese Tour ausmanövrieren. Mit dem Hinweis auf Waldheims Kriegs-Vergangenheit dachte er die Präsidentschafts-Wahl zu gewinnen – und schätzte dabei die Stimmung der Bevölkerung völlig falsch ein. Die Jetzt-erst-recht-Kampagne der ÖVP traf den Nerv, nicht zuletzt, weil sie – wie dann bei den EU-Sanktionen des Jahres 2000 – den berechtigten Ärger über diesen Versuch einer Außenbestimmung aufgriff. Der Burgenländer wurde in diesem Spiel gründlich geschlagen und verließ die Politik. Sein Amt übergab er an Franz Vranitzky, vormals Minister-Sekretär beim Korruptionisten Androsch, dann Bank-Direktor, schließlich wegen seines schönen Gesichts Kurzzeit-Finanzminister und jetzt Erlö­ser aus dem Sinowatz’schen Provinzialismus.

Doch diese Waldheim-Debatte oder -Affäre war nur der Ausfluss eines anderen Haltungs-Komplexes. Er gehört inzwischen grotesker Weise schon zur Dogmatik der österreichischen Regierungs-, Staats- und Intellektuellen-Ideologie. Holen wir ein wenig aus.

 

Presse, 20. / 21. Mai 1995

Menasses Rede in Frankfurt

Roben Menasse hat mit seinem Vorschlag, Österreich müßte sich wieder Deutsch-land anschließen, ein bemerkenswertes Beispiel für postmoderne Mischungen im Kopf progressiver staatsgetragener österreichischer Intellektueller geliefert.

Diese ‚Öffnung‘ nach draußen, zum großen Markt, paßt zu seiner Rolle als Festredner Osterreichs bei der Frankfurter Buchmesse, zur Wiedervereinigung und zur Annäherung an den großen Bruder in der EU, und vor allem paßt sie zu der Rolle, in der Osterreich eine wichtige Entlastungsfunktion für Deutschland zukommt (Textbeispiel: „… die sind ja noch viel schlimmer“ und „laßt uns endlich ‚einen Schlußstrich ziehen“).

Ich wüßte noch gerne, auf welchen Studien die Einschätzung beruht, paß deutsche – im Unterschied zu österreichischen – Institutionen eindeutig antifaschistisch sind.

Deutsche unterschiedliebster politischerCouleur und Staatsangehörigkeit werden sich über den intellektuell-kritischen Anschluß freuen und wenn schon nicht Österreich, so vielleicht Roben Menasse für diese Morgengabe danken.

Dr. Hazlel Rosenstrauch, Wien 1.

 

1965 hatte Simon Wiesenthal ein Memorandum an die Regierung Klaus gerichtet. Er kritisier­te die schleppende juristische Verfolgung von Nazi-Verbrechen nach dem abrupten Ende der Entnazifizierung von 1948 / 49. Damals hatte die Sozialdemokratie ihre antifaschistische Linie einer taktischen Finte geopfert. Mit der Förderung der „Ehemaligen“, der alten Nazis, brach sie die absolute Mehrheit der ÖVP, verlor selbst allerdings noch mehr an Stimmen an den VdU.

Als eines der Argumente zur Unterstützung seines Anliegens stellte Wiesenthal die Behaup­tung auf, dass Österreicher in deutlich überproportionalem Maß an Nazi-Verbrechen beteiligt gewesen wären, als es ihrem Anteil an der Bevölkerung des Deutschen Reiches entsprochen hätte. Diese Behauptung blieb vorerst im Raum, ohne dass es irgendwelche Auswirkungen gehabt hätte. Wiesenthal selbst relativierte sie sogar und nahm sie halb und halb zurück. Aber sie wirkte im Untergrund weiter und wurde in gewissen Zirkeln ungeprüft weiter benutzt. Wichtig ist hier festzuhalten: Diese Behauptung war eindeutig politisch determiniert und sollte eine Forderung unterstützen. Wiesenthal selbst hat übrigens in Interviews zur selben Zeit ihre beschränkte Aussagekraft unterstrichen (die Darstellung folgt: Perz 2006).

Nun, im Kontext der Waldheim-Geschichte, kochte dies wieder hoch. Nun wurden diese Zah­len von einem zum anderen Aufsatz und Buch ungeprüft abgeschrieben und übernommen. Bleiben wir einem Augenblick bei diesem Aspekt. 2005 erscheinen solche Zahlen in einem offiziösen Ausstellungs-Katalog, wiederholt von einer ORF-Journalistin, Helene Maimann. Sie stießen nun allerdings auf ziemlich harschen Widerspruch. Aufgrund dessen prüfte ein Wiener Historiker (Perz) die Belege nach und kam zu folgendem Ergebnis: Maimann schrieb ungeprüft von Hanisch (Historiker in Salzburg) ab; Hanisch schrieb ungeprüft von Burkey (US-Historiker) ab; Burkey schrieb ungeprüft und verzerrend von Weiss (ebenfalls US-Histo­riker) ab; und Weiss hat zum Einen etwas Anderes geschrieben; zum Anderen aber seien seine Zahlen laut Perz „nicht nachvollziehbar“. Es gibt kaum etwas Kennzeichnenderes als den „Stammbaum“ solcher Historiker-Thesen.


Intellektuelle weisen unterschiedliche Parteilichkeiten auf. Der Großteil unter ihnen ist konservativ bis reaktio­när. Gramsci (1971) hat mit seiner Kategorisierung in traditionelle und organische Intellektuelle darauf auf­merksam gemacht. Dies prägt auch die unterschiedlichen akademischen Fachkulturen. In den 1970ern und 1980ern lief in Kärnten ein Spruch der Deutschnationalen um: „Polito- und Soziologen / haben viele schon betrogen…“ Sie wollten damit die für sie positive Rolle hervorheben, welche Historiker als traditionelle Intellek­tuelle spielten. Sie waren die Ideologen des Bestehenden und der Macht. Letzteres hat sich nicht geändert. Allerdings hat sich die Macht inzwischen globalistisch orientiert, und die meisten der Historiker haben diesen Schwenk mitgemacht.

Das soll nicht heißen, dass die stärker „organischen Intellektuellen“, die analytischen Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaftler, sich nicht bemühten, diesen „Vorsprung“ der Historiker aufzuholen und sich auch möglichst nahe an die Macht heranzuwerfen…


Waldheim wurde seinerzeit angreifbar, nicht sosehr, weil er in der Nazi-Zeit Teil der Vernich­tungs-Maschine Wehrmacht war. Das waren im angeschlossenen Österreich so viele andere auch, dass sie es ihm nicht zum Vorwurf machten. Er hat dies auch noch als „Pflichterfül­lung“ gerechtfertigt – Pflichterfüllung nicht gegenüber Österreich, sondern Nazi-Deutschland. Auf diesen Punkt wurde in der damaligen Debatte nur ganz am Rand verwiesen. Der Grund für die ersten Angriffe war dies nicht. Es war seine Rolle als UN-Generalsekretär, welche dem Staat Israel und seinen Hilfstruppen, vor allem in den USA, ein Dorn im Auge war. Kennzeichnend dafür war die erste wütende Reaktion Kreiskys auf die Angriffe von Außen. Laut Presse vom 25. März 1986 sprach er von einer „üblen Einmischung“ und einer „unge­heuren Niedertracht“ des Jüdischen Weltkongresses. Das klingt gar nicht so anders wie die Wortwahl des ÖVP-Graf damals:

Der bauernschlaue, doch intellektuell beschränkte Parteifunktionär Graf ging in die Gegen-Offensive und gebrauchte dabei Ausdrücke, welche Erinnerungen an den alten Antisemitis­mus der Christlich-Sozialen wach rief. Diese Bemerkung ist nicht unfair. War doch Graf Sekretär bei Klaus gewesen, zusammen mit Mock. Der hatte diskret etwas Antisemitismus in den Wahlkampf von 1970 gegen Kreisky eingebracht. Und jetzt war er bei Mock General­sekretär. Der bald neue Kanzler Vranitzky war da entschieden geschickter. Er wollte zusam­men mit seinem Vizekanzler und Außenminister Mock Österreich in die EG führen. Dazu eignete sich seine Reaktion auf die Waldheim-Affaire hervorragend. Damit konnte er belegen, dass er und die österreichische Regierung sich den hegemonialen Vorgaben auch im rein ideologischen Bereich beugen würden.

Trotzdem hat sich dies noch keineswegs zu allen dieser professionellen Historiker herumge­sprochen. Vor allem, wenn sie sich im herrschenden akademischen und Kulturbetrieb noch etablieren wollen, müssen sie diese Thesen lautstark wiederholen. So gab es im November 2017 eine typische Auseinandersetzung im Standard. Ein Historiker (Bauer 2017) hatte ein Buch veröffentlicht, welches eine leichte Kritik an der dominanten These von „Österreich“ als mitschuldig wagte. Das sahen zwei Assistenten am historischen Institut der Univ. Wien als Herausforderung an. Mit einer, sagen wir es vorsichtig, etwas einfältigen Kritik versuchen sie ihre These, die „Täter-These“ zu retten.

Und mit diesem Begriff, „Täter-These“, kommen wir endlich zum eigentlichen Punkt.

In den 1990ern traten die alt-neuen politischen und intellektuellen Kräfte unter dem Sigel EG und EU auf. Die ÖVP ging voran. In diesem Punkt waren die Altkonservativen wie Mock mit den ÖVP-Liberalen wie Neißer und Busek geeint. Die neokonservative Politik der Sozialde­mokratie konnte sich ihrer bedienen. Nach den Sinowatz-Jahren und der Waldheim-Nieder­lage kam endgültig die Wende. Die vorherigen intellektuellen Auseinandersetzungen zeigten sich nun als dünner Schleier einer politischen Agenda. Umso willkommener waren sie den Eliten.

Es ist mittlerweile unter Linksliberalen absolut kanonisch, „Österreich“ als in besonderem Maß mitschuldig am Nazismus zu sprechen. Bauer führt dies in seiner Auseinandersetzung mit den zwei Assistenten auf einen Generationen-Konflikt zurück: „Eine zornige Generation von jungen linksgerichteten Zeithistorikern – frustriert von der Verlogenheit der Nachkriegs- und Aufbaujahre, in denen sie aufgewachsen waren – griff Wiesenthals Behauptungen dank­bar auf. Motto: ‚Wenn ihr in eurer Verlogenheit euch zu Opfern des Nationalsozialismus macht, dann sagen wir euch, dass ihr nicht Opfer, sondern vielmehr die schlimmsten Täter von allen wart!’“ (kurt-bauer-geschichte.at – derstandard.at/2000068369207/Taeter-Opfer-Thesen-Mythen, 23. Nov. 2017). Da ist Einiges dran. Aber es geht an der politischen Einord­nung vorbei und verfehlt auch die theoretische Dimension. Der Globalismus stößt sich an „Sonderfällen“. Für die meisten Intellektuellen, heimlich deutschnational und offen pro-EU, bedarf es dazu aber der historischen Weihen.

Das lässt sich besser noch am erwähnten Aufsatz von Perz demonstrieren. Nachdem er näm­lich die seltsamen Zahlenangaben zur „österreichischen“ Beteiligung zurecht gerückt hat, kommt er auf die politische Bedeutung dessen zu sprechen. Und dort verfehlt er sein Thema vollkommen. Er wischt, mit einem gewissen Recht, den Streit um die Zahlen vom Tisch und fragt nach dem Sinn des Ganzen (Perz 2006, 228). Und dabei steigt er in unreflektierter Weise auf nationalistisches Gedankengut ein, spezifischer: auf deutschnationales. Denn er akzeptiert implizit die Vorrangigkeit, ja die Primordealität der nationalen Identität. Denn er sagt: Öster­reich könne man im Deutschen Reich „nicht mit anderen besetzten Gebieten Europas verglei­chen“. Warum? Österreich sei nur „eine unter vielen Regionen des Deutschen Reiches gewe­sen, … aber viel mehr auch nicht“. Also offenbar Teil der deutschen Nation. Und dabei beruft er sich auf die Anschlussbewegung der politischen Klasse nach 1918. Das liegt ganz nahe an der deutschnationalen Ideologie, wie sie offen und camoufliert von 1918 bis in die Gegenwart immer wieder verbreitet wird.

Und damit belässt er es und hört auf. Dabei müsste hier der politisch-theoretische Diskurs erst einsetzen. Warum soll die nationale Zugehörigkeit unter der Reihe von Möglichkeiten sozia­ler Identität so vorrangig sein? Das Pathos der Nation, der nationalen Zugehörigkeit (um mit Max Weber 1976 zu sprechen) erhält seinen Unterschied zur Region – die ansonsten völlig mit der Nation vergleichbar ist – im 19. und 20. Jahrhundert durch seinen Einsatz zur politi­schen Legitimierung eines abgegrenzten Herrschafts-Systems. Es entwickelte durch die ver­stärkte Identifizierung mit dem Staat, folgend einer wachsenden Partizipation, und sodann der Staatsbevölkerung eine moralische Kraft, der sich infolge der Indoktrination und ihres ständi­gen Einsatzes viele Menschen nicht mehr entziehen konnten. Über die politische Bedeutung heute und ihre Potenzen werden wir noch sprechen. Doch ist es schon auffällig: Selbst heute in der hegemonialen intellektuellen Atmosphäre des zugespitzten Anti-Nationalismus können sich gerade viele Historiker diesem politisch-moralischen Impetus nicht entziehen. Sie sind nicht in der Lage, diesen Ideen- und Emotionen-Komplex zu dekonstruieren.

Selbstbestimmung heißt Demokratie. Die nationale Ebene gewinnt dafür neue Relevanz. Das aktuellste Beispiel bieten gegenwärtig (2018) Spanien und Katalonien.

Österreich hat zu wählen zwischen Großmannsucht und selbstbewusster Selbstbestimmung. Bestes Beispiel ist doch unser neuer Grußaugust Van der Bellen. Er versucht, sich immer wieder den imperialen Kräfte anzubiedern. Sein Geschimpfe auf die „Verzwergung“ schon im Wahlkampf und dann wieder bei der zeremoniellen Unterwerfung vor dem EP stellt die unbe­darfte Formulierung des Globalismus heraus, wie er eben bei den Eliten und ihren Sprechern gang und gäbe ist.

Der reaktionäre Provinzialismus des Herrn Strache ist nur eine Schein-Alternative. Es ist die Reaktion im plebeischen Gewande. Wenn die Nagelprobe der praktischen Politik kommt, dann ist alles Andere außer den Regierungs-Posten drittrangig. Wie formulierte die NZZ vom 27. Dezember ironisch und so treffend schon in der Überschrift: „Österreichs Freiheitliche setzen sich dort durch, wo sie sich mit dem Koalitionspartner sowieso einig sind“.

Kurz aber spricht heute in der Diktion des Austrofaschismus wieder davon, dass wir Österrei­cher „die besseren Deutschen wären“ – nicht im small talk, wohlgemerkt, sondern in seiner Regierungserklärung im Parlament.

Wir Internationalisten sind wieder, und vielleicht zu ersten Mal, vital an der Nation interes­siert. Nun könnte man mit Hegel darüber spotten: Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug erst in der Abenddämmerung. Ist also die Nation eine untergehende politische Formation?

Wir von der konsequenten Linken haben inzwischen begriffen: Emanzipative Kräfte und Be­wegungen brauchen eine politische Arena mittlerer Reichweite. Wir sind dem Finanzkapita­lismus auf globaler Ebene mit seiner geballten Macht hoffnungslos unterlegen. Dazu kommt aber ein weiterer Aspekt, der bisher von der Linken ganz und gar vernachlässigt wurde. Zwar kam bei einigen wenigen linken Kommunitaristen vor wenigen Jahrzehnten zum ersten Mal eine Ahnung auf: Der Rationalismus des Interesses allein genügt nicht für den Aufbau einer politischen Körperschaft, welche zum Emanzipations-Instrument der subalternen Schichten werden kann. Identität ist eine conditio sine qua non einer Bevölkerung, die „Volk“ i. S. des alten Mao werden soll.

Selbstbestimmung, Demokratie spielen sich kaum auf globaler Ebene ab. Selbstbestimmung läuft auf niedrigerer Ebene. Der Weltstaat und sein realistischer Ersatz, das Super-Imperium, ob es USA, China oder EU heißt, ist die Organisation der Despotie. Wir sollten Hegels Welt­geist endlich in den Mistkübel der Geschichte entsorgen und uns eher einer Kantianischen Perspektive alternativer Politik zuwenden: Die Suche nach einer neuen Befreiung bleibt Ver­such und Irrtum. Der aber muss sich dort abspielen, wo einerseits noch eine Möglichkeit der Massen-Partizipation existiert, gleichzeitig aber noch genug Steuerungs-Kapazität vorhanden ist, die Finanz-Oligarchie und die Eliten ganz allgemein zu kontrollieren.

Der neue Nationalstaat ist ein politisches Projekt, der diese beiden offenbar konträren, oder sagen wir lieber: dialektischen Anforderungen am ehesten noch erfüllen kann. Der „Sonderfall“ Österreich hat eine Zeitlang Ansätze in eine solche Richtung gezeigt, eher zufällig und zögernd. Wir schlagen dies als neues, als linkes, als demokratisches Projekt vor.

Literatur

Bauer, Kurt (2017), Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938 bis 1945. Frankfurt / M.: Fischer.

Gramsci, Antonio (1971), Quaderni del carcere. Introduzione di L. Gruppi. (Vol.: Gli intellettuali e l’organizzazione della cultura). Roma: Riuniti.

KPÖ 1978: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit, Demokratie und sozialistische Perspektive. Sammelband. Wien: Globus Verlag

Perz, Bertrand (2006), Der österreichische Anteil an den NS-Verbrechen. Anmerkungen zur Debatte. In: Kramer, Helmut / Liebhart, Karin / Stadler, Friedrich, Hg., Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand In memoriam Felix Kreissler. Wien-Berlin: LIT Verlag, 223 – 234.

Reiterer, Albert F. (1987), Die konservative Chance. Österreichbewußtsein im bürgerlichen Lager nach 1945. In: Zeitgeschichte, 14. Jahr, 379 – 397.

Weber, Max (1976), Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr (5. Aufl.).

Winter, Ernst Karl (1969), Bahnbrecher des Dialogs. Ausgewählt und eingeleitet von Ernst Missong. Wien-Zürich: Europa Verlag.

Die Zukunft Londons als Finanzcasino

Nachtrag zum Brexit

von Rainer Brunath

Die Verhandlungsdelegationen beider Seiten waren sich bisher offenbar darin einig, dass der Finanzplatz London für alle Seiten geöffnet bleiben muss. Am Verhandlungstisch blieb diese Frage (bisher) ausgeklammert. Die Zeit drängt aber, denn am 29.3.2018 soll es soweit sein: der Austritt Britanniens aus der EU.

Worüber redet man denn sonst? Zollfragen? Nein! Zu einem Chaos wird es nicht kommen. Die Häfen werden weiterhin abfertigen, der Warenverkehr wird im Modus, wie er vor dem Brexit war, aufrecht erhalten werden. Und das dürfte durchaus im Interesse jener sein, die die Zollunion in ihrer jetzigen Form haben aushandeln lassen.

Ja, selbst EU-Nichtmitglieder, wie die Schweiz oder Norwegen, pflegen weitgehende Zollfreiheit zur EU. Warum sollte dieser Zustand nicht weiter in ein Nach-Brexit-Britannien übernommen werden. Das ginge sogar ohne

spezielle Übereinkunft, es gilt der gegenwärtige Zustand einfach weiter. Und aus diesem einfachen Grund, hat man bisher nicht (oder nur beiläufig) über Handelsfragen gesprochen.

Was bleibt denn als Verhandlungspunkt zwischen den Kontrahenten? Es sind die Beiträge die Britannien in die EU nachzahlen soll, sowie die Frage des Status von der EU-Migranten in Großbritannien und die Frage der Grenzregelung zwischen Irland und Nordirland.

Für die britischen Wirtschaftseliten wird es unbedeutend sein, zu welchem Ergebnis die Verhandlungen führen. Hauptsache, es kommen billige Arbeitskräfte ins Land. Man will lediglich vermeiden, dass Drittländer in dieser Frage Mitsprache beanspruchen.

Mit diesen Themen ist man aber erst im Vorhof der eigentlichen Verhandlung. Der wirkliche Knackpunkt ist der Finanzplatz London. Bisher konnten internationale Banken, z.B. jene der USA von London aus ihre grenzüberschreitenden Geschäfte in der EU betreiben. Wird das geändert werden?

Am Erhalt des jetzigen Zustandes haben alle internationalen Banken seit der von Margret Thatcher eingeführten großen Deregulierung (Big Bang) am Finanzplatz London großes Interesse.

Was war nun der „Big Bang“ auf dem Finanzplatz London?

Die Londoner City, war schon vor Jahrhunderten von höchster finanzpolitischer Bedeutung für die Politik in der Regierenden in Britannien.. Margaret Thatcher leitete diesbezüglich eine finanzpolitische Wende ein – mit dem sogenannten Big Bang – mit höchst fragwürdigen Folgen.

Bisher finanzierten die Londoner Geldhäuser die Kolonialpolitik der Regierungen. Diese Tradition hatte Bestand, bis die konservative Premierministerin Margaret Thatcher mit dieser Tradition gründlich aufräumte.

Paul Auerbach, Wirtschaftsdozent an der Universität Kingston sagte [Zitat]: „Frau Thatcher wollte die Londoner City für ausländisches Kapital so attraktiv wie möglich machen, und so wurde Großbritannien eines der ersten Länder, in dem die Devisenkontrollen und die staatliche Überwachung von Kapitalbewegungen abgeschafft wurden. “

Das führte dazu, dass innerhalb kurzer Frist die Londoner Banken zu Spezialisten für internationale Vermögensverwaltung wurden. Aber Margaret Thatcher legte noch eins zu: am 27.10. 1986 befreite sie den Wertpapierhandel von regulativen Fesseln. Normale Banken und Investmentbanken wurden gleich gestellt, Kontrolle von Kommissionen wurde abgeschafft. Das führte auf dem Kontinent zu schockähnlichem Erstaunen, die Medien redeten von einem „Big Bang“.

Der bereits zitierte Wirtschaftsdozent Paul Auerbach schrieb dazu: „Jetzt konnten die Banker mit den Geldern ihrer Sparkunden, spielen und spekulieren, geradeso als wären sie Investmentbanker. Traditionelle Bausparkassen verloren ihren Sonderstatus und wurden von den großen Banken verschluckt. Für Ausländische Banken galten plötzlich dieselben Bestimmungen wie für die britischen Banken.“

Schutzbestimmungen waren also abgeschafft, US-Amerikanische Geldinstitute kamen in die Londoner City, brachten ihre Geschäftsmethoden mit. Riskante Transaktionen wurden zur Norm, der traditionelle Banker, der seine Obhut dem Geld seiner Sparkunden widmete, war zum Mythos geworden. Der Enthüllungsroman „Cityboy“ von Geraint Anderson beschreibt dieses Szenario.

Auf der Insel begann, ausgehend von den reich gewordenen Londoner Finanzspezialisten, ein großer Konsumrausch. Der ehemalige Schatzkanzler Nigel Lawson gab zu: [Zitat] „Damals herrschte ein exzessiver Optimismus. Es gab völlig überzogene Erwartungen. Natürlich ist der Wirtschaft mit einer optimistischen Haltung besser gedient – aber was wir damals erlebten, das ging eindeutig zu weit.“

Neben diesem als positiv apostrophierten Effekt entwickelten sich gravierende Folgen. Das soziale Gefälle klaffte in London und im ganzen Land so weit auseinander wie in keiner anderen Metropole der westlichen Welt. Die traditionelle Kluft zwischen dem britischen Süden und Norden wurde immer tiefer. Teile von Nordengland erlebten als Folge der von Frau Thatcher favorisierten Finanzpolitik, eine gravierende De-Industrialisierung und wurden bitterarm. Der Finanzsektor Londons dagegen wurde zu übergewichtig im Vergleich zur materiellen Produktion, sagt Paul Auerbach [Zitat]: „Während die USA einen enorm großen Industrie- und Landwirtschaftssektor besitzen, ist Großbritannien äußerst einseitig geworden. Das ist schlecht für den Arbeitsmarkt. Der Finanzsektor hat relativ wenig Arbeitsplätze, außerdem wirbt er wertvolle Nachwuchskräfte direkt nach dem Studienabschluss ab. Das sind junge Talente, die sich in der Wissenschaft oder in der Industrie viel nützlicher machen könnten.“

Nach der Finanzkrise 2008 wurden, auch auf Betreiben der EU, für die Londoner Banken Kontrollmechanismen eingeführt. Doch besteht die Gefahr, dass diese nach einem Brexit wieder abgeschafft werden, so fürchtet Auerbach.

Auch für die vielen Banken, darunter auch Hedgefonds und Private-Equity-Fonds etc. aus den Ländern der EU, die sich in jenen Jahren in der Londoner City niederließen, galten seit den 90er Jahren Kontrollmechanismen durch eine nationale Bankenaufsicht. So wurde der Finanzsektor die bei weitem größte und ertragreichste Branche im Königreich und London damit reich. Das bedeutet, dass wenn London nicht mehr in der EU ist, das an der britischen Volkswirtschaft nicht spurlos vorbeigeht. Möglich, dass man nicht über die Wirkung eines massenhaften Auszugs der Banken aus London reden möchte. Es konnte ja Verhandlungspositionen schwächen. Ein denkbarer Knick in der Prosperität der Wirtschaft beträfe jedoch nur London, der Rest des Landes hat diesen Knick schon hinter sich.

Die Banken und ihre Vertreter in London wollen unter allen Umständen solch eine Entwicklung verhindern oder Ersatzlösungen finden. Man macht „Stresstests“ und was nicht alles, um die Folgen einer Abwanderung des lukrativen Investmentbankings abzuwenden.

Aber schon früh, kurz nach dem Brexit-Votum kam James Dimon, Chef von J.  P. Morgan, der seit der letzten Finanzkrise größten Bank der USA (und der Welt), zu einem Besuch nach London und sagte frank und frei [Zitat]: „Es gibt eine Lösung für alle Probleme. Man muss nur die richtigen Leute in einem Zimmer versammeln. Vielleicht kann man dann die Brexit-Entscheidung einfach wieder umdrehen.“

Haben die richtigen Leute entschieden, dem Brexit (und Premierministerin Theresa May) ökonomisch ein Bein zu stellen?

 

Literatur:

  1. http://www.deutschlandfunk.de/londoner-boerse-vor-30-jahren-big-bang-brachte-riskante.871.de.html?dram:article_id=369619

(DLF Nachrichten vom 27.10.2016)

  1. aktuelle Nachrichtenmedien

Brexit und Irlandfrage

Wie die Eliten versuchen das Votum auszuhöhlen

von Rainer Brunath

Nach dem sog. Durchbruch bei der „Scheidungsrechnung“, die sich auf 55 Milliarden Euro beläuft, sollte es nun endlich weitergehen in den Verhandlungen. Aber schon diese Zahl, die nicht weit entfernt ist von der Summe, die die EU für den Abschied verlangte, löste Proteste in Britannien aus.

Von rechts meldete sich Nigel Farage, der solch einen Deal einen „Ausverkauf“ nannte. „Dann sei es immer noch besser, ohne Deal aus der EU auszutreten“, argumentierte er, während Vincent Cable, Chef der Liberalen, die als Brexit-Gegner, aufgetreten waren, ein zweites Referendum forderte und angeblich sollten Labour-Abgeordnete öffentlich lamentieren, dass Boris Johnson und Michel Grove [Zitat]„niemals gesagt hätten, dass es eine so hohe Rechnung für die Scheidung geben werde – ganz im Gegenteil“.

Ein zweite zentrale Forderung der EU, nämlich die Behandlung der Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger erfüllte London quasi. Es hieß, in Zukunft sollten gewisse Fälle an den Europäischen Gerichtshof überstellt werden.

Die Behandlung der Frage der inneririschen Grenze stand als nächstes an. Kam man weiter? Zwar versuchten die Verhandlungsdelegationen und die Premierministerin Theresa May die Vereinbarung als „Erfolg“ darzustellen. Aber was war denn nun der „Erfolg“ und wie sah die bekannt gegebene „Einigung“ nun aus?

Es hieß, dass das UK eine “volle Angleichung“ an die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts herstellen würde, da sich vorläufig keine andere Lösung anböte, Grenzkontrollen auf der irischen Insel zu vermeiden.

Um es gleich zu sagen, diese „Einigung“ verschärfte im Gegenteil die Irlandfrage dramatisch. Die irische Regierung hatte sich eingemischt und gefordert, dass zwischen Irland und Nordirland alles so bleiben sollte, wie es ist und Premierministerin Theresa May stimmte zu, nachdem ihr Vorschlag, die harte Grenze zwischen Nordirland und der britischen Insel festzulegen, bei ihrem Koalitionspartner, der nordirischen erzkonservativen Unionistenpartei DUP auf Protest stieß. Diese Partei war und ist erbitterte Widersacherin eines Sonderstatus für den Norden Irlands, den Premierministerin Theresa May nicht durchsetzen konnte oder wollte. Die DUP trieb die Angst um, dass der ursprüngliche Vorschlag von Seiten Londons ein erster Schritt zur Abkopplung der Provinz vom Rest des Königreichs wäre.
„Wer der vorläufige und eigentliche Sieger im Geschacher um Formulierungen ist, wurde inzwischen bekannt. Es ist jedoch nicht die Arbeiterklasse Britanniens und Irlands“, kommentierte der Morning Star.

Man fasst sich an den Kopf und fragt sich: „Gibt es denn so etwas? Austritt aus der Zollunion und gleichzeitig europäischer Binnenmarkt? Wieder ein Sonderstatus Britanniens in seinen Beziehungen zu Kontinentaleuropa? Eine Regelung die nur ein gewisses Gebiet im Königreich betrifft? Würde das nicht zum Verlangen anderer Gebiete Britanniens führen, ebensolche Sonderregelungen zugestanden zu bekommen?“

Und prompt kam es so. Schottland meldete sich. Man könne Schottland nicht verwehren, was Nordirland zugestanden würde. Selbst der Londoner Bürgermeister erhob ein solches Ansinnen.

Das Referendumsergebnis vom Juni 2016 war die Konsequenz einer, wie auch immer gearteten sozialen Bewegung in den Midlands vom UK. Ob der kleine, sich betrogen fühlende Arbeiter, Mittelständler oder sogar Selbstständige nun von den Argumenten der UKIP, der Tories oder der LEXIT(left Brexit)-Bewegung hat überzeugen lassen, ist für den sozialen Charakter des Ergebnisses unerheblich. Und das ist die Seite der Medaille, die weder von Theresa May und erst recht nicht von Bankern und Industriellen akzeptiert wird. Sie suchten und suchen nach Möglichkeiten, den Brexit weichzuklopfen, bis er nicht mehr zu erkennen sein wird.

Willkommener Anlass dem Brexit und deren Befürwortern die Schuld an der Misere zuzuschieben, war die Frage nach der Behandlung der inneririschen Grenze. Sie wurde als Aufhänger dafür verwendet, Zollbestimmungen und Binnenmarkt trotz Ausscheiden der Briten aus der EU nicht anzutasten. Das Problem „Nordirland“ war also jenen industriellen und monetären Eliten im UK und der EU willkommene Gelegenheit war, die soziale Bewegung, die sich im Brexitreferendum manifestiert hatte, ins Leere laufen zu lassen. Oder gegen die Wand, wie man will und riskiert damit sogar den Zerfall des UK oder zumindest heftige innere Konflikte. Und es ist anzunehmen, dass sie es dabei nicht bewenden lassen. Soziale Bewegungen fürchten die wie der Teufel das Weihwasser.

Bekannt gewordene Kommentare dazu aus dem inneririschen sozialen Milieu sprechen die gleiche Sprache: [Zitat] „Obwohl die Grenzfrage für uns wichtig ist, muss man erkennen, dass sie sowohl von der EU als auch von den Briten genutzt wurde, um ihr gemeinsames Ziel eines minimalistischen Brexits voranzutreiben. Dabei diente ihnen das irische Volk als Bauernfigur zum Erreichen des von beiden Seiten gewünschten Endes. Wenn sie das Ergebnis des Referendums schon nicht umdrehen können – was […] deren bevorzugte Option ist – dann arbeiten sie daran, dass […] Britannien weiter die engste ökonomische und politische Beziehung mit der EU behält; in Worten die EU verlässt, doch in Taten bleibt und damit die demokratische Entscheidung der britischen Wähler zunichte gemacht wird.“
Auch Robert Griffith in Britannien, Befürworter des LEXIT (left Brexit) und Parteiführer der CPB sieht in der Grenzfrage vor allem einen Vorwand für Britannien, die weitere Abhängigkeit von EU-Regeln und -Institutionen zu erhalten. [Zitat] „Dieses auf Großunternehmen ausgerichtete Minderheiten-Tory Regime führt loyal die Instruktionen des EU-Wirtschaftsbeirates aus, Britannien für unabsehbare Zukunft an den EU-Binnenmarkt zu binden und für dieses dubiose Privileg auch noch einen Arsch voll Geld zu bezahlen.“

Soziale Bewegungen erleben stets, wenn sie glauben, ihr Ziel erreicht zu haben, die Aushöhlung von innen oder Unterwanderung durch bezahlte Subjekte und die rigiden Bremsmanöver ihrer Widersacher. Zur Absicherung des Erreichten bedarf es kontinuierlicher fantasievoller Erneuerung, Wachsamkeit, der Solidarität nach innen trotz gelegentlicher Meinungsverschiedenheiten in taktischen Fragen und Geschlossenheit. Ob die Brexit-Bewegung im UK, mit ihr die Labour-Party und ihrem Leader Jeremy Corbyn, diesen langen Atem hat, wird erst die Zukunft zeigen.

„Vom Empire zum Brexit“

Neues Buch von Rainer Brunath

Mit dem Vereinigten Königreich und Nordirland will erstmals ein Land aus der Europäischen Union austreten. Das ergab 2016 eine Volksabstimmung, die nun von der Regierung umgesetzt werden soll. Das Vereinigte Königreich war über 40 Jahre Mitglied der EU.

Zwar forderte bereits Winston Churchill die „Vereinigten Staaten von Europa“, bezog das aber nur auf Kontinentaleuropa. Das Vereinigte Königreich wollte – auch später – nie so weit gehen, dass es in einem europäischen Bundesstaat aufgeht, wie es im Vertrag von Maastricht festgeschrieben wurde Primär versteht bzw. verstand Britannien die EU nur als Wirtschaftsgemeinschaft.

Dieses Buch skizziert spannend und faktenreich die Geschichte Englands bis zum Empire, das endlich mit dem Commonwealth of Nations eine supranationale Gemeinschaft formte. Vom Mittelalter bis zum „Brexit“, zeigt dieses Buch die Kontinuitäten und Wandlungen der Politik Londons auf, denen als gemeinsamer Nenner stets wirtschaftliche Interessen, d.h. die Interessen der Eliten, zugrunde lagen. Damit stellt der Autor die Übertragung von individuellem wirtschaftlichen Primat in die Politik in Frage.

***

Vom Empire zum Brexit: England im Wandel Taschenbuch
von Rainer F Brunath
216 Seiten, Region-Verlag, 31. Oktober 2017
ISBN-10: 3981874900, ISBN-13: 978-3981874907

Bestelladresse:
Region-Verlag/Dieter Kindel
Medienprojekte
Schwalmweg 6
D-34587 Felsberg

Schwarzblau: „Marktkonforme Mieten“

Kapitel „Modernisierung des Mietrechts“ als Spiegel des Regierungsprogramms

 

FP-Strache gibt bekanntlich gerne den Anwalt des kleinen Mannes, ja sein ganzer Aufstieg ist auf dieses Image gegründet. So forderte er im Wahlkampf symbolisch noch die 300-Euro-Miete für eine 50m²-Wohnung. Doch davon steht im Regierungsprogramm nichts mehr. Da durfte er offensichtlich nur mehr die Interessen der Immobilien-Haie etwas verschleiern. Eine Lektüre des Abschnitts im Regierungsprogramm S. 47-49 lohnt sich jedenfalls.

Auf der FP-Abschlusskundgebung in der ehemaligen Hochburg der Sozialdemokratie in Wien Favoriten schwadronierte Strache noch von der Fixierung der Mieten sowie der Erhöhung von Mindestpension und Mindestlöhnen – von der sonst im Zentrum stehenden Ablehnung der Erbschaftssteuer zog er es vor vornehm zu schweigen.

Um so dreister erscheint da das Regierungsprogramm, dass nicht nur sprichwörtlich die Handschrift des spekulativen Immobilienkapitals trägt. Kurz‘ Nadelstreif-Krieger hatten offensichtlich die Chuzpe als Basistext die Forderungen des „Österreichischen Verbandes der Immobilienwirtschaft“ (ÖVI) zu verwenden. Justin Kadi weist auf der Seite urbanizm.net überzeugend nach, wie ganze zehn ÖVI-Forderungen von insgesamt dreizehn fast wörtlich übernommen wurden.

Den Strache-Leuten dürfte lediglich die Möglichkeit eingeräumt worden sein, den Inhalt etwas zu verschleiern und zu verschmieren, um nicht sofort als Knechte der Hausherrensöhne zu erscheinen. Diese gaben sich auch mit allgemeinen neoliberalen Kodewörtern zufrieden, die zumindest die Bewegungsrichtung klar angeben. So findet sich auf knappen 2½ Seiten ganze sechsmal Formeln des Typs „fairer und/oder ausgewogener Interessenausgleich zwischen Mietern und Vermietern“.

Was unter dem zentralen Begriff des FP-Wahlkampfs „fair“ wirklich gemeint ist (ursprünglich im Stile eines Kindes, das gegen die Einschränkungen seiner unmittelbaren egoistischen Eigeninteressen als unfair protestiert), geht dann aus so Formulierungen wie „marktkonforme Miete“, „Dispositionsfreiheit in definierten Einzelfällen für kurzfristige Mietverhältnisse“ oder „Schaffung von Freiräumen für Mieter und Vermieter, wo Regelungen nicht erforderlich erscheinen“ hervor. Ganz abgesehen davon, dass Deregulierung angesichts der neoliberalen Offensive grundsätzlich eine Verschiebung zugunsten der Eliten bedeutet.

Einer der wichtigsten konkreten Maßnahmen ist die „Aufhebung des Verbots des Lagezuschlages in Gründerzeitvierteln zur Herstellung fairer Verhältnisse“. Das betrifft ca. 10% des Wiener Wohnungsbestandes und würde teilweise massive Erhöhungen bedeuten, die die Gentrifizierung innerhalb des Gürtels vervollständigten. In eine ähnliche Richtung geht die Einschränkung des Eintrittsrechts von haushaltsnahen Personen in alte, günstigere Mietverträge.

Gleich eingangs macht die Regierung klar, dass es um eine Mittelstandsförderung geht: „Langfristig ist Eigentum die angestrebte und günstigste Form des Wohnens.“ Das passt mit den Steuersenkungen und einer ganzen Palette von anderen Vergünstigen für die Besitzenden zusammen. Auch die Forcierung der Kaufoption für geförderten Wohnbau soll die Steuerungsmöglichkeit der öffentlichen Hand schwächen. Diese mehr vermittelten und ideologisch verbrämten Ziele werden von der urbanen Unterschichtsklientel der FPÖ aber nicht im gleichen Ausmaß durchschaut, wie unmittelbare Mieterhöhungen durch Deregulierung.

Fünfmal wird im den Abschnitt das Wort „sozial“ verwendet, um das dahinterliegende Grundprinzip zu verschleiern, das von FAZ und NZZ jahrein jahraus getrommelt wird: nur größtmögliche Freiheit für das Kapital und der Anreiz des Profits könne ausreichend Wohnraum schaffen. Doch insbesondere im Wohnungssektor hat die Marktreligion am wenigsten Glaubwürdigkeit. Gerade die Wiener Geschichte ist historisch-konkreter Beleg dafür, dass nur der starke Eingriff der öffentlichen Hand in Beschränkung privater Profitinteressen ausreichend günstigen Wohnraum sicherstellen kann.

Beispielhaft

Der Abschnitt über das Mietrecht kann stellvertretend für den gesamten langatmigen Text von 182 Seiten stehen, der ohne Zahlen auskommt. Es ist eine Aneinanderreihung populistischer Phrasen des Wirtschaftsliberalismus. Das Programm getraut sich dort am konkretesten zu sein, wo die antisozialen Konsequenzen durch die Jahrzehnte neoliberaler Ideologie vom plebejischen Klientel nicht verstanden werden. Was soll denn bitte schlecht an Entbürokratisierung, Steuersenkung, Verringerung der Lohnnebenkosten, Schuldenbremse, Effizienzsteigerung der öffentlichen Verwaltung, Reduktion der Staatsquote etc. sein?

Dort wo es um die Gegenfinanzierung dieser Einnahmenkürzung geht, bei den Pensionen, beim Gesundheitswesen und beim Sozialstaat, beschränkt man sich auf allgemeine Ankündigungen. Nur dort, wo man wie mit den Flüchtlingen und Asylanten ein Feindbild parat hat, getraut sich Schwarzblau zuzuschlagen, siehe die Reduktion der Sozialleistung Mindestsicherung. Von der proklamierten Reduktion der Staatsquote um 3 Prozentpunkte, also um rd. 14 Mrd. geringere Einnahmen und damit auch Ausgaben, können die ausformulierten Maßnahmen nur einen insignifikanten Bruchteil ausmachen.

Bei dem Versuch Hartz IV zu kopieren und die Notstandshilfe, eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung, zu kürzen, könnte es schon haarig werden. Da kann man sich auf das alte Feindbild der Zeitungspartei Krone, die „Asozialen“, einschießen, doch diese wählen mittlerweile in ihrer überwiegenden Mehrheit FPÖ. Politisch noch wichtiger ist die Ankündigung des 12h-Tags, eine direkte Maßnahme gegen auch symbolisch wichtige Errungenschaft der Arbeiterbewegung, gegen die sich im FP-Bereich schon im Wahlkampf Unmut äußerte.

Die extremistischen Hayekianer von der Agenda Austria, vom Kurier auch Thinktank der Millionäre genannt, kommentiert das Programm dann auch verhalten positiv. Es ginge in die richtige Richtung, aber sei zu unkonkret, zu vorsichtig. Und setzt hoffungsvoll hinzu: „Aber was nicht ist kann ja noch werden.“

Damit ist der Kern der Sache getroffen. Der harte Elitenliberalismus braucht in Österreich einen plebejischen Mehrheitsbeschaffer. Die Hybridpartei SPÖ, die in sich Elite und Reste der institutionalisierten Arbeiterbewegung vereinigt, galt zwar als verlässlich, aber zu langsam, mit zu vielen Eigeninteressen. Doch die schwarzblaue Option hat ein ähnliches Problem, zudem mit sehr viel kürzerer Konsumationsempfehlung. Die FP hat einen erzreaktionären Elitenteil mit einem Block aus deutschnationalen Burschenschaftern, Unternehmern und ländlichem Konservativismus, sowie als Stimmenbeschaffer die ehemalig sozialdemokratische städtische Unterschicht. Diese kann man mit dem Feindbild Islam und Asylanten populistisch eine Zeit lang bei der Stange halten, doch radikalisiert sich das Umverteilungsprogramm nach oben weiter, sind diese bald weg. Schwarzblau I vernichtete die FPÖ regelrecht.

Strache ist angetreten, nicht nochmals diesen „Fehler“ zu machen, namentlich sich von der ÖVP über den Tisch ziehen zu lassen. Doch das ist kein Fehler, sondern die raison d’être dieser Regierungskonstellation. Das Mieten-Kapitel zeigt das nur zu deutlich. Nicht nur, dass die Hausbesitzerpartei VP die Feder führte. Die FP-Spitze ist selbst direkt mit diesen Rentiers der oberen Mittelschicht historisch verbunden. Sie kann und will dem ÖVI nichts entgegensetzen – so verkommen Straches soziale Versprechungen zu echten Lügen, die auch leicht zu durchschauen sind.

Sozialdemokratie und Wohnen

Wäre das nicht eine Auflage für die Sozialdemokratie? Nikolaus Kowall meint auf der Links-SP-Seite kontrast.at: „Wenn die SPÖ ihre Oppositionsrolle klug anlegt, ein authentisches Profil entwickelt und die soziale Frage in den Mittelpunkt stellt, sind ÖVP und FPÖ aus nackter Angst zur Handlungsunfähigkeit verdammt.“ Klingt doch logisch und vernünftig, oder? Und insbesondere in der Mietenfrage, die ja durch das „Rote Wien“ eine Kernkompetenz der Sozialdemokratie sein müsste.

Der Autor betrügt sich selbst. Im Gegensatz zum traditionellen Mittelstands-Linksliberalismus, der den Faschismus dräuen sieht, analysiert er erfrischend realistisch, dass Schwarzblau II eben keinen Bruch mit dem Sozialmodell der 2. Republik darstellt. Doch darin spielt die Einbindung der unteren Hälfte der Bevölkerung über das sozialdemokratische Geflecht in Form der Sozialpartnerschaft die entscheidende Rolle. Und diese soll die Sozialdemokratie weiter spielen und das will sie in Verteidigung ihrer Pfründe auch. Natürlich sei ihr zugestanden, ein bisschen Opposition zu mimen.

Doch das reicht nicht mehr aus. Dazu ist der neoliberale Umbau zu weit fortgeschritten, den sie selbst führend mitorganisiert hat, der soziale Kompromiss zu ausgehöhlt. Und den Bruch damit schafft sie nicht und will sie gar nicht schaffen, denn das würde einen harten Konflikt bedeuten, der in den Hirnen ihrer führenden Schicht undenkbar ist. Noch mehr, die SP ist Teil des Regimes geworden.

Schauen wir uns den Fall der Wiener SP an, die so gerne auf ihre Errungenschaften beim Wohnen verweist. Tatsächlich ist sie eine Koalition mit dem Immobilienkapital eingegangen, das sie so zu zähmen können glaubt. Realität ist aber, dass die Mieten den Einkommen auch in Wien rapide davonziehen. Mittels Wohnbauförderung, Widmungsgeschenken, Spekulationsförderung, De-facto-Verlustabdeckung hat sie eine SP-nahe Immobilien- und Baumafia herangezüchtet. Der Ankündigung von Bürgermeister Häupl wieder Gemeindebauten zu errichten, ist ein einziges wohl symbolisches Projekt gefolgt. (Die FPÖ, die damals 5000 neue Gemeindewohnungen pro Jahr forderte, ist indes überhaupt still geworden.) Nur die massive Wiederaufnahme der öffentlichen Wohnbautätigkeit könnte die Mietenexplosion bremsen, doch das wäre eine echte Attacke auch auf die SP-Freunde.

So bleibt die SPÖ eine Regierungspartei in Wartestellung, insbesondere ihr Wiener Kern.

Symbolisches Ziel wäre es in zwei Jahren, im Wahlkampf zu den Wiener Gemeinderatswahlen, nach einer systematischen Basisarbeit der Entzauberung von Schwarzblau als Regierung der Asozialen und des politischen Zusammenschlusses einer Opposition, am Favoritner Viktor-Adler-Markt für einen grundlegenden Kurswechsel insbesondere bei den Mieten zu demonstrieren und dabei sowohl ehemalige SP- als auch FP-Klientel zu versammeln – für einen demokratisch-sozialen Bruch mit dem Regime von Schwarz-Rot-Blau. Eine mögliche Forderung zum Nachmachen steht als Anleitung auf jedem Vorkriegs-Gemeindebau: „Finanziert aus den Mitteln der Wohnbausteuer.“

 

DER ANTIGLOBALISMUS DER BEVÖLKERUNG UND DIE GLOBALISTISCHE REGIERUNG: Der neue Populismus des Zentrums: Kurz und Strache, III

Neun Wochen nach der Wahl vom 15. Oktober 2017 und nun, nach der Formierung der Regierung Kurz / Strache, lässt sich eine erste Zwischenbilanz ziehen, auch ohne dass wir alle Einzelheiten des Regierungsprogramms bereits durchbesprochen haben.

Die Wahl endete als Misstrauens-Kundgebung gegen den Globalismus der Eliten und der Oberen Mittelschichten, für den heute in Österreich vor allem die SPÖ und die Grünen stehen. Und sie gab, wie in Westeuropa inzwischen schon gewohnt, deutliche Gewinne an zwei Par­teien, von denen zumindest eine diesen Globalismus als Kern ihrer Partei-Identität betrachtet. Ein Widerspruch? Ja und Nein.

Die Unterschichten wenden sich zuerst einmal gegen einen Aspekt der Globalisierung, den sie begreifen und hautnah erleben – und diese Haltung geht weit in die Mittelschichten hinein: Sie fürchten sich vor dem Ansturm der Dritten Welt auf die Zentren und wollen diesen mit möglichst allen Mitteln stoppen. Kurz hat dies begriffen, und er hat mit seinem vielleicht et­was primitiven aber zugkräftigen Slogan von der „Schließung der Balkan-Route“ und dann der „Mittelmeerroute“ zielgenau reagiert. Kern hat dies nicht begriffen und sich mit seinem Schimpf „Vollholler“ ins Abseits gestellt.

Ich will jetzt gar nicht auf die materiellen Inhalte eingehen, welche damit verbunden sind. Aber vielleicht ist ein Wort zur Bewertung nicht überflüssig. Wir gehören nicht zu jenen, welche dem klassistischen und rassistischen Gewäsch einer Christa Zöchling eine Bewun­derung der sehnigen Proletarier-Körper und ihres unfehlbaren wenn schon nicht revolutionä­ren, so doch rebellischen Geistes gegenüber setzen. Wir wissen gut genug, dass Politik ein Prozess von Versuch und Irrtum ist. Und manch ein Irrtum kommt sehr teuer zu stehen. Wir brauchen nur an die Zwei-Drittel-Mehrheit von 1994 für die EU zu denken. Sie dient heute der politischen Klasse dazu, dass man über die EU grundsätzlich nicht mehr abstimmen darf. Die Abstimmung über den Globalismus in den vergangenen Nationalrats-Wahl könnte ganz gut ebenfalls sehr kostspielig sein und vielleicht nicht mehr reversibel – ist doch die Politik der Bürokratie und der ihr dienenden politischen Klassen in den letzten Jahrzehnten genau darauf ausgerichtet, und sie sagen es auch: Der politische Wandel hin zum Imperium soll irreversibel werden. Noch und noch lesen wir dies in allen EU-Dokumenten. Es könnte also sehr wohl sein, dass die Wahl vom Oktober ein gewaltiger Schritt zur jenen Unumkehrbarkeit war, die ein Großteil der Bevölkerung gerade nicht will.

Die Regierungserklärung des Sebastian Kurz vor dem Parlament vom 20. Dez. 2017 ist ein Text, der in seiner Aussagelosigkeit schon wieder lesenswert ist. Er müsste eigentlich von jedem Parlamentarier als Schlag ins Gesicht empfunden werden. Inhaltlich werden ein paar völlig allgemeine Positionen wiederholt: „Steuer- und Abgabenquote in Richtung 40 % senken, … mehr Ordnung und Sicherheit, … Kampf gegen die illegale Migra­tion“. Sie werden entsprechend stilisiert: „damit die Menschen, die arbeiten gehen, nicht die Dummen in unserem Land sind. …unser Sozialsystem wieder wirklich treffsicher machen, … Veränderung bei der Mindest­sicherung, um Ungerechtigkeiten im System zu beenden…“ Ansonsten sind es ausschließlich Wahlkampf-Phrasen: „Österreich wieder einen Platz an der Spitze ermöglichen, … mehr Eigenverantwortung.“ Und dann kommt eine Phrase, die direkt aus den Dreißiger Jahren und dem Austrofaschismus stammt: „In Deutschland sind viele der Meinung, Österreich sei das bessere Deutschland…“ – Dann wird noch das neue Personal mit je zwei-drei Sätzen vorgestellt, und das war es. Aufmerksam machen sollte man, dass es nun einen Minister für Deregulierung gibt.

Man könnte meinen, mit einer solchen Vorgangsweise dürfte diese Regierung kaum wenige Monate überstehen können. Aber wir sollten uns nicht täuschen. Das Regierungs-Programm ist ganz offensichtlich auf Entpolitisierung angelegt. Und das dürfte eine verbreitete Stim­mung in der Bevölkerung treffen. Sie hat von der bisherigen Politik die Nase voll. Das gilt keineswegs nur für Österreich, das ja seit 1994 europäisch normalisiert werden sollte und wurde. Man hat Kurz gelegentlich mit Macron und dergleichen Figuren verglichen. Zwar ist die politische Struktur in Frankreich deutlich anders. Macron gelang sein großer Sprung vor allem wegen der Marine Le Pen. Aber in einem Punkt können wir dem Vergleich Recht geben: Dort wie da kommt der neue Populismus des Zentrums zum Tragen. Er greift den Impuls der Antipolitik auf, der in der Bevölkerung weit verbreitet ist und bisher vor allem vom Rechtspopulismus eingesetzt wurde. Die Sozialdemokratie hingegen verkörpert die alte Politik der globalistisch-liberalen Bürokratie. (In Italien hat allerdings der „rottamatore“ Ren­zi, ein Rechtssozialdemokrat, diesen Populismus zu nützen versucht.) Dies entspricht ganz dem EU-Programm: Die Kommission + EZB+ EuGH geben Richtung und Grundsätze vor; die nationalen politischen Klassen führen durch. Wie gut dies in Österreich gelingt, ist noch die Frage.

Wir können dies am Regierungs-Programm sehen, und damit sind wir wieder beim Konkre­ten, falls wir diese Papier konkret nennen wollen und können. Im Abschnitt über den „moder­nen Bundesstaat“, dem „schlanken Staat“ und der „wirkungsorientierten Haushaltsführung“ finden wir, wie auch sonst, vorwiegend öde Phrasen, die wir seit Jahrzehnten hören: „Rege­lungen in optimaler Weise im Sinne der Bürgerinnen und Bürger“, „Controlling“ und ähnli­ches Bla-bla. Dazu kommen neoliberale Neigungen, gekleidet in unverfängliche Vokabel: „gemeinsame Förderungsstrategie“, „Verfahrenskonzentration“. Schließlich werden Einzel­maßnahmen aufgezählt, die auf dem ersten Blick sehr bescheiden wirken. Erkennbar ist dahinter immerhin: Die Herrschaften wollen zum Einen den Unternehmer-Interessen freien Durchzug schaffen. Zum Anderen aber sollen mögliche Widerstände gegen ihre Politik un­möglich gemacht oder jedenfalls erschwert werden. Poulantzas hat seinerzeit darauf hinge­wiesen: Im transformistischen Staat der 1970er sind z. B. Ministerien zu Lobbys bestimmter Interessen geworden. Ein Landwirtschafts-Minister hat nicht einfach die Regulierung der Agrarwirtschaft im Auge. Er vertritt die Interessen der Bauern bzw. meist eines bestimmten Teils unter ihnen. „Vollkonzentrierte Genehmigungsverfahren“ und „Abschaffung gegenseiti­ger Blockademöglichkeiten“ bedeutet somit vor allem den Wegfall der Kontrolle von dominanten Interessen durch andere, weniger geschätzte; also z. B. im Umweltschutz.

Die Ankündigung ist großkotzig, die Konkretisierung meist dürftig. „Die Überprüfung und Neuordnung der Kompetenzbestände der Art 10 – 15“ B-VG wäre fast eine Revolution im österreichischen Verwaltungsstaat, würde das Verfassungs-Prinzip des Bundesstaats berühren und wahrscheinlich aushebeln. Aber da wird dann aufgezählt: „Bautechnikrecht“ und „Jugendschutz“, also im Grund Kleinigkeiten, wo das eine den Baufirmen im Weg steht, und das andere eine Lieblings-Marotte der Medien ist.

Apropos Jugendschutz: Ich erinnere mich, wie in meiner frühen Jugend die Vorarlberger Landesregierung im Namen des Jugendschutzes verboten hat, Twist zu tanzen. Dieses Beispiel zeigt deutlich genug: „Jugendschutz“ enthält ein gewichtiges konservativ-politisches, ein ideologisches Element. Er ist also keineswegs nur eine quasi-technische Frage, die man „selbstverständlich“ auf Bundes-Ebene lösen müsse und wo der Föderalismus nichts zu suchen habe. Einer der wichtigsten Punkte, welche zur Schaffung des eigenständigen Bundeslandes Wien führte, waren die „Sever-Ehen“; auch im Burgenland war das Eherecht nach dem Anschluss an Österreich eine wichtige Frage.

Bleibt noch die von Strache als zentrale Forderung angekündigte direkte Demokratie. Man kann ihm nicht vorwerfen, er sei „umgefallen“. Die Forderung war vermutlich nie ernst gemeint. Übrig geblieben ist ein Verschieben der Volksabstimmungen auf „das Ende der Gesetzgebungsperiode“ und damit auf den St. Nimmerleins-Tag; von vorneherein eine Ein­schränkung auf unwesentliche Agenden, und schließlich ein Schwellenwert (900.000 Unter­schriften), welcher es möglichst unmöglich machen soll, dieses Instrument überhaupt einzu­setzen. Besonders lustig hier ist: Die FPÖ sprach im Wahlkampf von 200.000, die ÖVP von 600.000, und herauskam, wie schon gesagt – 900.000. Das also ist die Wirklichkeit von demokratiepolitischen Maßnahmen dieser Regierung. Es zeigt auch, was Unumkehrbarkeit heißt: Über den Beitritt zur EG / EU durften wir abstimmen, über ein Verlassen dürfen wir es nicht. Aber nochmals: Wer sich wundert, ist selbst schuld.

Rechtspopulismus ist das Aufgreifen von Unzufriedenheit in der Bevölkerung und das Anbie­ten völlig ungeeigneter Maßnahmen. Zentristischer Populismus ist die Umkehrung der Angelegenheit in ihr Gegenteil mittels der Bürokratie und ihrer neuen Rhetorik. Wie lange dies wohl funktioniert?

Albert F. Reiterer, 27. Dezember 2017

UND NOCH EINMAL PIKETTY: EIN ÄUßERST LESENSWERTER BERICHT. Der „World Inequality Report“ treibt Konservativen den Schaum vor den Mund

Pikettys Erfolg machte und macht den Eliten Probleme. So wandte sich das Feuilleton der Konservativen an die neuen Theologen der Postmoderne, die Ökonomen des Hauptstroms. Die FAZ lud damals (15. Mai 2014) „einige bekannte Ökonomen“ ein, den „neuen Marx“ zu bekämpfen. Der „neue Marx“ ist eine besonders groteske Phrase; ist doch der Keynesianer Piketty ein bekennender Marx-Gegner. Ökonomen waren auch deswegen geeignet, gegen Piketty in Stellung zu gehen, weil sie der Neid über den Erfolg ihres Fach-Kollegen zerfrisst. Und sie taten ihre Pflicht. Pikettys etwas einfältige Formel r > g erleichterte ihnen die Auf­gabe. Ist sie doch nur eine versimpelte Beschreibung des Ablaufs, natürlich keine Erklärung. Die Kapitalrendite ist höher als das Wirtschaftswachstum und steigt. Man könnte meinen, dass Ökonomen, die sich selbst ernst nehmen, dagegen kaum etwas zu sagen wagten.

Weit gefehlt. „Es stimmt nicht“, dekretierte Ph. Bagus aus Madrid. Und ganz ähnlich St. Homburg aus Hannover: „Pikettys eigene Daten [stehen] im diametralen Gegensatz zu seinen Behauptungen.“ Der Leib- und Magen-Ökonom des DGB und der SPD, Peter Bofinger, ein BRD-„Wirtschaftsweiser“, der vor zwei Jahrzehnten auch ein „Manifest“ für den Euro geschrieben hat, manipulierte und log offenbar bewusst zwei Wochen später. Im „Spiegel“ vom 2. Juni 2014 zitierte er als Beleg für angeblich widersprüchliche Daten eine Graphik aus Pikettys Buch, die dem Aufbau der Argumentation dort dient. Doch die wenige Seiten später in einer weiteren Graphik aufscheinenden von ihm als fehlend monierten Daten lässt er beiseite. Doch zurück zur FAZ.

Da diese Sätze denn doch in schreiendem Gegensatz zu den allseits bekannten Verhältnissen stehen, musste man sie irgendwie zu begründen versuchen. Der eine Zugang war die Lange Dauer. Über die letzten 200 Jahre, … während der letzten Jahrhunderte … [gab es] keinen besorgniserregenden Trend:“ Ganz ähnlich Bofinger, der hinzufügt, nur „für die Phase von 1950 bis 2010 [ist] eine steigende Relation vom Kapital zum Volkseinkommen zu belegen.“ Genau dies sagt Piketty. Aber er begründet es auch: Es gab eine Kehrtwende der Politik. Sie möchte soweit wie möglich auf die Korrektur der Verteilung verzichten, welche der europäi­sche Wohlfahrtsstaat in der ersten Generation nach dem Krieg durchführte. Für die Zukunft verheißt dies eine ständig stärkere Konzentration von Einkommen und Vermögen oben.

Wenn wir wirklich ernsthaft mit der sehr langen Dauer argumentieren wollen, sollten wir ein neues Buch ernst nehmen, das allerdings sehr düster daher kommt. Walter Scheidel, Althis­toriker aus Wien, doch seit gut zwei Jahrzehnten in Stanford, arbeitet über Bevölkerung, Wirtschaft, Vermögen und Einkommen in der antiken Welt (z. B. Scheidel / Morris / Saller 2008). Nun erschien von ihm ein Buch „The great Leveller“, über Ressourcenkonzentration in sehr langer Frist, von der Frühgeschichte bis heute. Hier meint er, belegen zu können, dass es stets nur in Kriegszeiten zu einer gewissen Einebnung von Ungleichheit gekommen ist. Ich möchte dies für die bisherige Geschichte nicht bestreiten, es ist zu offensichtlich. Doch man könnte meinen: Die Gegenwart sollte auch in dieser Hinsicht mit der Vergangenheit brechen. Aber das ist eine politische Frage – und die hat Piketty gestellt.

Doch bleiben wir einen Moment beim Match mainstream-Ökonomen gegen Piketty. Der zweite Argumentationsstrang gegen die Akkumulation des Reichtums ist fast lächerlich. Da heißt es, bei H.-W. Sinn (und bei Homburg sogar noch eindeutiger): „Es werden ja nicht alle Kapitaleinkommen gespart. Viel Einkommen wird konsumiert“ und kann daher nicht akkumuliert werden und die Ungleichheit vergrößern. Ich verzichte auf einen Kommentar.

Worum es wirklich geht, machen Lars Feld aus Freiburg und wieder Homburg deutlich. „Pi­kettys Buch liefert lediglich die nächste Entschuldigung (!) für mehr Staat“ (Feld); und Hom­burg: „Enteignungen passen zwar gut zum Zeitgeist (!). … Pikettys Buch [ist] völlig unzeitge­mäß.“ Also was jetzt? Zeitgeistig oder nicht?

Piketty ist ein Neukeynesianer. Ich nenne so die wenigen Ökonomen, welche auf die Fragwür­digkeit von öffentlichen Schulden hinweisen, aber sich auf eine keynesianische Nachfrage-Lücke stützen. Nicht dass dies sonderlich neu wäre. Aber gegenwärtig sind dies weiße Raben unter den Ökonomen. Ihre Konsequenz heißt nämlich, und das kommt bei Piketty so deutlich wie sonst bei Keinem heraus: Die obersten Einkommen – und ich füge hinzu: die Konzern-Gewinne – müssen steuerlich so weit abgeschöpft werden, dass diese Nachfragelücke aufge­füllt wird und das Geld nicht einfach in die Steueroasen zwecks Spekulation abgeleitet wird. Und andererseits ist dies, historisch im 20. Jahrhundert für Alle erkenn- und belegbar, die einzige Möglichkeit, die wachsende Ungleichheit einwenig in den Griff zu bekommen. Dass dies die einzige Möglichkeit ist, wird man von links her nicht akzeptieren, im Gegenteil. Aber es ist ein Beginn.

Und nun gibt es ein weiteres Buch von Piketty und Kollegen, der „World Inequality Re­port“. Der vermeidet viele der Schwächen von Pikettys Buch von 2013 / 14, ist ausgespro­chen gut und verständlich geschrieben, mit einem Wort, ist höchst lesenswert. Es gibt auch eine deutsche Zusammenfassung. Die Reaktionen darauf waren vorhersehbar, aber doch wieder interessant.

Die Welt vom 15. Dezember schäumt. Sie diagnostiziert eine „gezielte Verdummungskampa­gne“ und „hysterische Aufregung“. Vor drei Jahren (23. April 2014) hatten noch zwei ihrer Journalisten eine gemäßigt positive Rezension geschrieben, allerdings auch schon mit dem Versuch, die Ergebnisse durch sehr langfristige Graphiken zu relativieren. Heute fühlen sich die harten Konservativen ins Mark getroffen. Die Wiener „Presse“ vom 14. Dezember 2017 glaubt, sich anschließen zu müssen („Ungleichheit: Piketty widerlegt sich selbst“). Aber auch unter den Eliten gibt es unterschiedliche Faktionen. Die Transformisten und ihre Stimmen berichten neutral und sogar tendenziell positiv. Die „Zeit“ bleibt ganz „objektiv“: „Soziale Ungleichheit weltweit gewachsen…“. Die „Frankfurter Rundschau“ („Die große Spaltung“) lässt auch ein wenig Kritik am Nachbar, am neuen Helden der technokratischen Konserva­tiven und Sozialdemokraten, durchblicken: „Von den Steuerreformen von Frankreichs Prä­sident Emmanuel Macron werden die reichsten zehn Prozent der Franzosen die Hälfte der Entlastung einstreichen, was die Ungleichheit weiter steigen lassen wird…“ Bei der FAZ kommt die negative Bewertung durch und ein ziemlich bösartiger Angriff: „Niemand interes­siert sich für Fragen der Verteilung so sehr wie die Freunde der Umverteilung. Deshalb wer­den in der öffentlichen Debatte meist die Zahlen betont, die so aussehen, als gehe die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf.. Dass die Ungleichheit in vielen Ländern der Welt wächst, das stellt er in seinem Bericht ganz nach vorne. Dass die weltweite Ungleichheit schrumpft, steht irgendwo in der Mitte des Berichts, wo die meisten Leser schon mit ihrer Aufmerksamkeit kämpfen.“ Und über Deutschland: „Ungefähr seit 2005 ist er aber gebro­chen. Seitdem stagniert die gesamtgesellschaftliche Ungleichheit.“ Über den materiellen Inhalt dieser Aussage wäre viel zu sagen, was diesen Verteidigern des Status quo weniger gut gefallen dürfte. Der letzte Satz ist schlichtweg falsch, das dürfte der Schreiber selbst wissen.

Warum die lange Auseinandersetzung mit den neoliberalen Kampfblättern? Es zeigt sich: Die Patrone dieser Zeitungen und ihre Lohnschreiber machen sich Sorgen um die Hegemonie. Und da hilft auch nichts, wenn die FAZ, vermutlich zu Recht feststellt: „’Das Kapital im 21. Jahrhundert’ gehört zu den Büchern, die Leser Daten von Amazon zufolge am schnellsten zur Seite legen – offenbar wird ihnen das zu kompliziert.“ Das Problem mit dem Ungleichheits-Report könnte sein: Auch eilige, aber interessierte Leser werden diesen Bericht nicht so schnell aus der Hand geben. Zu interessant sind die Fakten. Bitte herunterladen und lesen! Antihegemoniale Arbeit ist wichtig und zeitigt auf die Dauer Wirkung. „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Köpfe der Massen ergreift.“

Literatur

Facundo Alvaredo / Lucas Chancel / Thomas Piketty / Emmanuel Saez / Gabriel Zucman (2017), World Inequality Report 2018. World Inequality Lab.

Piketty, Thomas (2001), Les Inégalités dans le long terme. In : Conseil d’analyse économique, Inégalités économiques. Paris, 138 ˗ 204.

Piketty, Thomas (2005), Income Inequality in France, 1901 – 1998. In: J. of Political Economy 111, 1004 – 1042.

Piketty, Thomas (2013), Le capital au xxie siècle. Paris: Seuil.

Piketty, Thomas / Saez, Emmanuel (2006), The Evolution of Top Incomes: A Historical and International Perspective. In : AEA Papers and Proceedings 96.2 ˗ Measuring and Interpreting Trends in Economic Inequality, 200 ˗ 205.

Scheidel, Walter / Morris, Ian / Saller, Richard (2008), eds., The Cambridge Economic History of the Greco-Roman World. Cambridge: Univ. Press.

Scheidel, Walter (2017), The Great Leveller. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century. Princeton: Princeton University Press.

Daten:

Leider ist die Piketty-website im neuen Design deutlich unbequemer geworden. Das Datenbank-Format erschwert die Benutzung eher statt sie zu erleichtern: http://wid.world/

Nützlich auch: https://www.wider.unu.edu/database/world-income-inequality-database-wiid34 http://www.oecd.org/social/income-distribution-database.htm

OECD: http://www.oecd.org/social/income-distribution-database.htm

EIN „REGIERUNGSPROGRAMM“ – GEGEN WIEN: Kurz und Straches Vorhaben, II

Regierungen und die politische Klasse fordern zu Beginn ihrer Perioden und Aktivitäten gerne einen Vertrauensvorschuss ein. Ein Misstrauensvorschuss ist die passende Antwort für solche Institutionen und Personen. Nach der bisherigen Erfahrung kann der gar nicht groß genug sein. „Macht korrumpiert“ formulierte der britische Publizist Lord Acton im 19. Jahr­hundert. Er hätte besser gesagt: Macht ist Korruption.

Da führt eine Partei einen Wahlkampf als Rächerin der Enterbten. Doch wenige Wochen später wirft sie Alles über Bord, was sie bisher versprochen hat. Aber wie sagte schon Travniček? „Gehn’s, die haben ja nicht zum ersten Mal gewählt.“

Ein „Regierungsprogramm 2017 – 2022“ von 182 Seiten Stärke legen uns also jetzt die Damen und Herren von der FPÖVP vor, nicht etwa eine Parteien-Übereinkunft. Üblicher Weise trägt der Regierungschef ein ausgearbeitetes Regierungsprogramm dem Parlament vor. Der anmaßende Titel spricht selbst bereits Bände. Ist nun die Katze aus dem Sack, nachdem man wochenlang nur leere Inszenierung für unbedarfte Journalist/inn/en hatte?

Ja und nein. Hohle Phrasen und ein überbordender Jargon lässt nur sehr schwer etwas Inhaltliches erkennen. Das ist nicht unüblich bei solchen Texten. Hier wird es auf die Spitze getrieben. Es ist eine Mischung aus verspätetem Wahlkampf-Bla-Bla und von Schlüsselwör­tern der neoliberalen und neokonservativen Ideologie: „Stopp überbordender Regulierungen“; „wir fördern unternehmerische Initiative, belohnen die Fleißigen“; „Effizienzpotenziale von mehreren Milliarden Euro [in der Verwaltung] sind zu heben“; usf. Mit dem letztzitierten Unsinn gehen wir allerdings langsam in die materielle Kritik über.

Denn nun kommen Codes, die zwar ohne Konkretisierung keine Aussage haben, die aber doch den vorgezeichneten Weg erahnen lassen. Um einen dieser Wegweiser geht es in diesem Beitrag. Wir werden uns noch etliche andere auch anzusehen haben, die ebenso wichtig sind. Mag sein, dass es Wichtigeres gibt. Aber so ohne ist dies auch wieder nicht, wie wir gleich sehen werden. Ich gehe hier somit nach der Reihenfolge im Papier, im „Regierungs-Programm“ vor.

„Die Ausnützung des jeweiligen Gebühren und Steuer-Potenzials“ im Rahmen des Finanz­ausgleichs (FA) und die „konsequente Verknüpfung der Zuständigkeiten mit der Verantwor­tung für deren Finanzierung“, das klingt vorerst auch wie eine der üblichen Sprechblasen. Ich denke allerdings, da steht etwas mehr dahinter. Es geht um den Finanzausgleich und mit ihm um eines der wichtigsten Instrumente des national-territorialen Interessens-Ausgleichs. Das ist seit einiger Zeit ein beliebtes Angriffsziel der harten Konservativen, nicht zuletzt in der BRD. Erinnern wir uns: Die CSU wütet seit vielen Jahren gegen die Nordlichter, die aus Bayern Geld bekommen. In Österreich war bislang eher weniger die Rede davon. Allerdings ließ der Vorarlberger Landeshauptmann während der Verhandlungen ÖVP-FPÖ aufhorchen. Bei der Frage der bundeseinheitlichen Sozialversicherung verwahrte er sich gegen die Zu­mutung, dass „Vorarlberger Geld“ nach Wien fließen könnte. Das ist also die innernationale „Solidarität“. Er hat über sein Kleingeld vergessen: Hier geht es um den Ansatz, in Österreich jede politische Alternative zu zerquetschen. Denn Wien könnte u. U. für Oppositionelle attraktiv sein.

Solche Zurufe gerade aus Vorarlberg sind nicht eigentlich was Neues. Das Land leistet sich, zusammen mit Tirol, ein Institut für Föderalismusforschung in Innsbruck. Seit 2003 ist auch Oberösterreich dabei. Es ist im Grund eine Propagandastelle gegen den seit vielen Jahrzehn­ten geltenden FA und seine Prinzipien. Wer sich im österreichischen Westen lieb Kind machen will, tut gut daran, mit diesen Leuten politisch zusammen zu arbeiten. Dort erschien z. B. schon in den 1980ern ein Heft des nachmaligen Rektors der Uni Innsbruck, Manfred Gantner: „Der abgestufte Bevölkerungsschlüssel als Problem der Länder und Gemeinden“. Es war ein Generalangriff auf den Lastenausgleich vor allem mit Stoßrichtung gegen Wien. Wien, so die Aussage, bekäme zu viel Geld. Gantner wurde auch belohnt; er wurde wie ge­sagt, Rektor. Allerdings serviert man ihn nach einer Amtsperiode ziemlich unfein ab, weil er sich in seiner Arroganz, nicht gepaart mit Effizienz, bei seinen Kollegen ganz unmöglich gemacht hatte …

Der Finanzausgleich ist deswegen so kompliziert, weil er, erstens, drei Gebietskörperschaften zu bedienen hat (Bund, Länder, Gemeinden), und zweitens, zwar mit einigen einfachen Prin­zipien arbeitet, aber in den Verhandlungen dann die Systematik ziemlich ins Wanken kommt. Jedes Land und die Gemeinden dazu versuchen eben, für sich noch etwas heraus zu reißen. Wenn wir hier von den Ländern sprechen, meinen wir nicht die politischen Verwaltungsein­heiten, sondern die territorialen, inklusive der Gemeinden. Städte bekommen, abgestuft nach ihrer Größe, mehr Geld pro Kopf der Bevölkerung, und damit die Länder, in welchen sie liegen, weil man davon ausgeht: Sie haben als zentrale Orte für das Umland Leistungen zu erbringen, von den Gesundheits-Diensten über die Verkehrs-Infrastruktur bis zur Hochkultur. Das Ganze ist in manchen Teilen eine fragwürdige Angelegenheit und wäre es wert, seriös diskutiert zu werden. Aber hier geht es um was Anderes. Wien war seit dem Beginn schon der Ersten Republik das Feindbild der erzkonservativen westlichen Bundesländer. Insbesondere Vorarlberger hetzten schon 1919 gegen das „verjudete Wien“.

Wenn wir die letzten Wahlergebnisse betrachten, dann haben wir eine Cleavage Land gegen Stadt, wie wir sie seit Jahrzehnten in dieser Schärfe nicht mehr hatten. Schon beim Spiel Hofer gegen van der Bellen war dies mit Händen zu greifen. Die beiden künftigen Regie­rungs-Parteien sind die Parteien der Provinz, und sie haben dies auch deutlich genug betont.

Das Alles hat eine sehr handgreifliche Seite, wie schon erkenntlich war. Vereinfacht gesagt, bekommt Wien mehr Geld, als der Anteil der Bevölkerung ausmacht. Da nun Wien in man­cher Weise auch jetzt bereits eine Politik betreibt, welche den beiden künftig herrschenden Parteien missfällt, wird man versuchen, die Stadt / das Land finanziell zu strangulieren. Rechtfertigen wird man es mit einem schwachen Abklatsch der Lega Nord-Argumentation. Das und nichts Anderes besagt der vornehme Ausdruck von der „Steuer-Autonomie“.

Bei dieser künftigen Anti-Wien-Politik gibt es allerdings speziell für die FPÖ ein Problem. Sie will unbedingt den Wiener Bürgermeister bekommen. Ohne dass ich dies belegen kann, bin ich völlig überzeugt: Es gibt eine (natürlich sehr geheime) Nebenabsprache zwischen ÖVP und SPÖ diesbezüglich. Da die Wiener SPÖ ja seit Jahren Alles tut, um dies auch von ihr aus zu realisieren – sie steht angeblich derzeit bei 32 % der Wahlabsichten, die Grünen sind sogar existenziell gefährdet – , ist ein künftiger FP-Bürgermeister in Wien, sei es Strache oder Gudenus, sogar eine ziemlich wahrscheinliche Geschichte. Wie aber soll man einerseits Wien und damit seine Einwohner karniefeln, andererseits aber die Gunst der hiesigen Unterschichten weiter erhalten?

Albert F. Reiterer, 17. Dezember 2017