Vom Kniefall und der Gretchenfrage

Die Teile des politischen Spektrums als Elemente derselben Totalität

Von Michael Wengraf

Wir leben gegenwärtig in einem späten Kapitalismus, der alles andere als frei von Krisen ist, was ja seinem natürlichen Wesen entspricht. Noch widerspiegelt sich aber in Europa, vor allem im mittleren, die daraus resultierende Zerrüttung nicht wirklich auf der Ebene des politischen Systems. Abgesehen davon, dass dieses ohnehin nur ideologischer Ausdruck der dominanten Produktionsverhältnisse ist: Ein sozialdemokratischer Niedergang, in Österreich kaum merkbar, jedenfalls von geringerem Belang als anderswo, bezeichnet noch lange keine Eruption. Es handelt sich vielmehr lediglich um eine leise Verschiebung des Kräfteverhältnisses.

Was heißt das nun? Die beiden in den globalen Zentren vorzugsweise angewandten Herrschaftsmodelle können – etwas vereinfacht freilich – unter eine Dichotomie subsumiert werden. Es handelt sich um jene von „Sozialer Marktwirtschaft“ und „Neoliberalismus“. Erstere wird getragen von der Sozialdemokratie oder anderen sich als links ausgebenden Gruppierungen; letztere von christlich-konservativen bzw. liberalen Formationen.

Sie bilden keine absoluten Gegensätze, sondern sind ineinander verschwimmende Bestandteile ein und derselben Totalität. Die beiden Modelle sollen zwar zwei Extreme markieren, aber gerade deshalb ist ihr Gegensatz nur eine Opposition von Polen innerhalb derselben Struktur. Das bedeutet in der Praxis: Soziale Marktwirtschaft und Neoliberalismus, Sozialdemokratie und Christlichsoziale, rechts und (abgepasstes) links, ergeben hier lediglich in Nuancen differierende Elemente eines gesellschaftlichen Ganzen.

Alle, die interne „soziale“ Lösungen propagieren, wie die Linke in Deutschland oder die Bundes-KP in Österreich, sind immanente Teile dieses politischen Systems. Sämtliche sich darin abspielenden Rochaden ergeben daher nur „leise Verschiebungen des Kräfteverhältnisses“. Radikale Brüche hingegen sind solche, die den gesellschaftlichen Gesamtrahmen, Marx sagt dazu „die Produktionsverhältnisse“, von Außen bedrohen.

Das nicht zu tun, gebieten die von den Herrschenden diktierten Spielregeln, die dann auch noch als demokratisch verkauft werden. Der große Regulator Zivilgesellschaft duldet im Mainstream der Parteienlandschaft schließlich allein jene Kräfte, die sich peinlich daran halten. Deshalb ist es auch nicht von großer Bedeutung, ob nun in Österreich Rotschwarz oder Schwarzblau regiert. Ein Sachverhalt, der Kurt Tucholsky zu dem berühmten Seufzer veranlasste: „Wenn Wahlen etwas änderten, wären sie längst verboten.“

Die Programme der Kräfte „im Verfassungsbogen“ muten daher größtenteils ident an und unterscheiden sich nur in puncto Tempo – und vielleicht! – Intensität ihrer Durchsetzung. Außerdem werden sie ohnehin nicht hierzulande gemacht, sondern – zumindest was die Leitlinien betrifft – in Brüssel. Und das auch noch von demokratisch kaum legitimierten Institutionen. Nur eine Abkoppelung von dort würde derzeit daher wirklich einem Erdbeben im politischen System gleichkommen; einem, das Souveränität und Neutralität wenigstens grundsätzlich wieder garantierte.

Dass die Linken und die KPÖ für einen Verbleib in der Europäischen Union sind, bezeichnet – was ebenso für die rechte FPÖ gilt – ihre absolute Verträglichkeit mit der kapitalistischen Totalität. Ihr wurde auch willig jedweder systemüberwindender Anspruch geopfert. Die herrschaftliche Würdigung dieses Kniefalls, deren Syriza und die deutsche Linke bereits teilhaftig wurden, besteht in dem zögerlich und widerwillig erteilten Attest „regierungstauglich“.

Was die „rechtspopulistischen“ und linken „Schmuddelkinder“ betrifft, lautet die Gretchenfrage an sie: Wie haltet ihr es denn mit Europa? Spätestens an dieser Wegmarke schwenkt der rechte „Widerstand“ ein in die gesellschaftliche Konformität; schließlich ist er Bestandteil und nichts weniger als Überwinder des kapitalistischen Ganzen.

Die offizielle Rückkehr ins System – samt unabdingbaren Treueschwur auf die EU – markiert einen „Reinigungsprozess“, den die Freiheitlichen und Marine Le Pen bereits hinter sich haben. Der AfD steht er in Zukunft bevor, ein diesbezüglicher Versuch Frauke Petrys ist gerade noch einmal gescheitert. Für jeden, der klar sehen kann, wird an diesem Punkt aber eines deutlich: Dass Verschiebungen innerhalb dieses so geschlossenen politischen Systems, das auf einem via EU vermittelten neokolonialen Globalismus beruht, mehr oder weniger irrelevant sind. Insofern können systemimmanente Figuren wie Le Pen, Strache oder Wilders gar keine Alternative in Bezug auf die bestehenden Verhältnisse sein.

Bitter ist, dass man den „Linken“ seitens der Eliten nicht einmal – wie wenigstens den Rechten – ins Gewissen reden musste; sie haben von selbst „Hurra Europa“ geschrien und damit dem großen Kapital ihre Reverenz erwiesen. Das gilt im Besonderen für die KPÖ.

In Griechenland musste zu diesem Zweck mit „Syriza“ eine proeuropäische Linke vorsichtshalber aus der Retorte kreiert werden. Und zwar als Ersatz für die völlig diskreditierte sozialdemokratische PASOK. Sie war als Vollstrecker eines links lackierten neoliberalen Kurses einfach nicht mehr zu gebrauchen. Zuweilen macht man sich schon einmal selbst eilig die passenden Teile der eigenen Totalität zurecht; was aber wiederum verdeutlicht, wer für das „Machen“ in dieser Welt zuständig ist.

Die a priori bekundete, offene Affinität zur kapitalistischen Totalität müssen die Systemlinken nun allerdings bitter büßen: Sie werden von den Menschen – völlig zu Recht! – als Teil des Imperiums, als Stütze der Eliten, wahrgenommen. Die gerechte Strafe dafür ist Missachtung. Das gilt nicht mehr nur für Sozialdemokraten und Grüne, die längst schon Selbstzweifel an einer eigenen linken Identität plagen. Es trifft ebenso auf die Linke in (Ost-)Deutschland, die KPÖ – mit Ausnahme der Steiermark – , Syriza und entsprechende Parteien in ganz Europa zu.

Auch deren Fassade bröckelt nun und offenbart ein desolates Fundament: Es basiert nicht mehr auf gründlicher Analyse des gesellschaftlichen Seins und einer daraus resultierenden politischen Strategie, Menschen zum Kampf für ihre Interessen zu organisieren. Vielmehr besteht die Grundlage dieses „liberalen“ Baus nun aus einer brüchig-beliebigen linken, eher kulturell als materiell gefärbten Identität.

Kompatibel mit den herrschenden Verhältnisse ist es deshalb, weil das daraus resultierende pseudo-humanistische Gehabe keine ernsthafte Bedrohung für die kapitalistische Totalität darstellt. Und damit auch keine demokratische Alternative. Mit Empathie gegenüber Flüchtlingen, Fahrradwegen, Tierschützern und sexuellen Orientierungen aller Art sind die herrschenden Produktionsverhältnisse, wenn es denn sein muss, durchaus vereinbar. Mehr noch: All diese feinen, wohlklingenden Dinge lassen sich propagandistisch perfekt instrumentalisieren.

Was aber, wenn der linke politische Lack zusehends abgeht, wie dies in Österreich – weniger in Deutschland – nun zu sein scheint? Kurz und vereinfacht gesagt: Dann ändert sich zwar vielleicht etwas in der Außendarstellung von Herrschaft, nichts aber im Ganzen der Gesellschaft. Die Politik ist ja nur ein Teil jener Totalität, die sie auf einem ganz spezifischen Gebiet zum Ausdruck bringt, aber eben auch verschleiert.

Der „moderne“ Kapitalismus bevorzugt als Tarnung seines beinharten Neoliberalismus zweifellos eine „linke“, als humanistisch verkaufte Hülle – aber das Leben ist kein ununterbrochenes Wunschkonzert: das funktioniert nicht immer. Wir dürfen die Welt eben nicht als ein Puppentheater sehen, in dem die Eliten an den Fäden ziehen und dann alle Akteure gleich am Gängelband haben. Zum einen, weil es „die Eliten“ so nicht gibt, sondern nur Herrschende mit den oft verschiedensten (Kapital-)Interessen. Zum anderen sind die Produktionsverhältnisse eine Resultante aus vielen, oft gegenläufig wirkenden Kräften.

Sehr wahrscheinlich ist nun, dass die politische Entwicklung in Mitteleuropa eine reale Bewegung – und damit ein wirkliches Sein – dieser Totalität zum Ausdruck bringt. Gut möglich, beinahe sicher sogar, ist eines: Es gibt in den wirtschaftlich herrschenden Kreisen Elemente, die mit dem aalglatten neoliberalen Kurs, der globalen Orientierung oder der EU-Bürokratie nicht gut zurecht kommen. Zu denken ist hier exemplarisch an die österreichischen Banken – etwa Raiffeisen – und ihre von der EU zum Teil behinderten Manöver im Osten Europas. Insbesondere sei diesbezüglich das geschäftsschädigende Embargo gegen Russland erwähnt.

Bewegen wir uns entlang dieser These, dann erklärt das den Wunsch einflussreicher Gruppierungen nach Veränderung in der Regierungsform – und die Ökonomie würde in diesem Fall mehr oder weniger direkt auf die Politik einwirken. Unter dieser Voraussetzung wäre der Drang hin zu Kurz und auf Auflösung der „großen“ Koalition innerhalb der ÖVP dann nicht unbedingt ein Mysterium. Ein Schachzug, der allerdings keiner großen Verschiebung im politischen Machtgefüge bedarf. Auch die alten Verhältnisse hätten – ebenso wie Rotschwarz – Schwarzblau ermöglicht. Nicht einmal die künstlich erzeugte Medien-Hype rund um Sebastian Kurz wäre wirklich notwendig gewesen, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.

Man sieht: Wir können alle Farben bzw. Wahlergebnisse innerhalb desselben Spiels immer wieder nach Belieben mischen, es ändert sich substantiell kaum etwas. Wie der Wähler sich auch entscheidet, das Resultat ist immer kompatibel zu Brüssel, zur Austeritätspolitik, zu den Interessen der großen Vermögen und zum schleichenden Sozial- und Kaufkraftabbau. Damit erfüllt die politische Sphäre tadellos ihre Aufgabe und bringt die herrschenden Verhältnisse penibel zum gesellschaftlichen Ausdruck.

Die Funktion der Politik, diese Verhältnisse zu vernebeln, erfordert mehr Einfallsreichtum. Sebastian Kurz, der nur alte Hüte hervorzaubert, erscheint dann als die Kraft des Neuen. Christian Kern, ewiger sozialdemokratische Jasager, kleidet sich plötzlich – aller Verantwortung gegenüber dem großen Ganzen entbunden – im Gewand der sozialen Antipode. Und Strache? Er mutiert vom Paintball spielenden Rabauken zum integren bebrillten Staatsmann. Ausgerechnet er, der noch vor drei Jahrzehnten bei einem Fackelmarsch einer Gruppe, die sich selbst die Hitlerjugend zum Vorbild nahm, festgenommen wurde, firmiert nun mit Kurz zusammen als Fanal der Veränderung und der Moderne.

Das ist also der Schein, der das wirkliche Sein umhüllen soll. Er bezeichnet ein Spiel, das sich auch auf Sachebene munter treiben lässt: Die Demontage von Gewerkschaften und „Sozialpartnerschaft“ steht dann für die Befreiung aus dem Kerker der Kammern, der Sozialabbau wird als Entlastung vom Steuerdruck verkauft, die Entstaatlichung als Verwaltungsreform usw.

Im Hintergrund aber läuft das große Kino. Es vermittelt den ultimativen Bühnennebel, in dem die Politik als eigene, unabhängige Ebene erscheint, auf der wir durch Stimmabgabe den Kampf Gut gegen Böse entscheiden dürfen. Spätestens in fünf Jahren kann der derzeit grassierende peinliche „Irrtum“ gut gemacht und Schwarzblau entsorgt werden. Worauf dann freilich wieder einfach nur die Sozialdemokraten – oder ihre jeweiligen Nachfolger – helfen würden, den Abstand zwischen reich und arm weiter zu vergrößern. Träte dieser Fall dereinst ein, spräche die Meinungsmaschine wohl ein weiteres Mal von einem politischen Erdrutsch, der dann allerdings ebenso bedeutungslos wäre, wie all die anderen zuvor.

Sieben Lesehinweise zu den Nationalratswahlen

von Wilhelm Langthaler

  1. Identitäre Anti-Migrationsmobilisierung wichtigster Hebel, um Mehrheit für neoliberales Regime zu sichern
  2. Niedergang der SP als Arbeiterpartei wurde überdeckt durch die Aufsaugung der Grünen
  3. Moderation der FP zum VP-Anhängsel (fast)
  4. Kurz-Hype als Medienblase
  5. Politisches System substanziell stabil
  6. Pilz als soziale Opposition?
  7. Gescheitert: Düringer und KPÖ

Identitär-chauvinistische Mobilisierung

Chauvinismus gegen ärmere, kulturell und insbesondere von den äußeren Merkmalen andere Zuwanderer ist eine Konstante. Dessen politische Nutzung durch Teile des Systems auch. Doch diesmal hat es aus zwei Gründen eine neue Qualität: Einerseits war die Aufnahme von ca. 1% Flüchtlingen (im Bezug zur Gesamtbevölkerung) in rund einem Jahr eine tatsächliche Änderung des langjährigen Migrationsregimes. Andererseits hat sich die ÖVP, und bis zu einem gewissen Grad auch Pilz, an der identitär-chauvinistischen Kampagne beteiligt, was bisher im Wesentlichen der FPÖ vorbehalten gewesen war.

Diesen Schwenk hat eigentlich der Medienapparat, einer der zentralen Machtmittel der Eliten, eingetaktet. Zuvor hatten sie sich mit der Willkommenskultur selbst beweihräuchert. Doch plötzlich gab es keine Bilder mehr von ertrunkenen syrischen Kindern und Meldungen vom integrationsfähigen und hochgebildeten arabischen Mittelstand. Sondern das alte Feindbild des dunkelhäutigen Vergewaltigers und des islamischen Terroristen wurde wieder auf- und abgespielt.

Kurz hat die Chance erkannt und ist in präzedenzloser Weise auf den FP-Zug aufgesprungen. Die Reste der Caritas, der christlichen Nächstenliebe, wurde abgetrieben und durch identitären Hass auf den Islam ersetzt. In einem gewissen Sinn ist es die Rückkehr zu den antisemitischen Wurzeln der Christlich-Sozialen, zumindest der Struktur nach. Der von Existenzängsten geplagte untere Mittelstand verlangt nach einem Feind und das sind nun die Muslime. Kurz hat diese Position auch für den oberen Teil der Gesellschaft salonfähig gemacht.

Die SPÖ ist diesbezüglich weder Fisch noch Fleisch. Auf der einen Seite will der Wiener liberale Mittelstandsflügel (fälschlich von den Medien als links bezeichnet, weil er nur mit der VP und nicht mit der FP koalieren will) da nicht mitmachen, andererseits juckt es vor allem jene Teile der SP, die den Repressionsapparaten nahestehen, sich abermals an einer Regierung zu beteiligen. So war die SPÖ wie gelähmt. Sie versuchte ihre sozialstaatlichen Maßnahmen zur Absicherung der Zuwanderer verschämt beizubehalten, niemals aber offensiv zu verteidigen. Vielfach knickte sie auch ein, wie beim Islamgesetz, dem Burka-Verbot oder beim Ruf nach Polizeistaat gegen die angebliche Bedrohung durch die Migranten.

Den Kern der Sache hat natürlich niemand angegriffen, nämlich das Freihandelsregime, das die Bewegung der Produktionsfaktoren exklusiv dem Markt (sprich: den Besitzenden) überlässt. Eine Gegenposition kann nur lauten: Schluss mit dem Freihandel und der Globalisierung. Entwicklungschancen für den globalen Süden zurückgeben. Regulierung der Wirtschaft über den Staat im Interesse der Mehrheit. Das heißt auch Beschränkung der Arbeitsmigration, um die Löhne nicht weiter sinken zu lassen. Gleichzeitig soziale Anhebung derer, die bereits da sind. Sowie Integration in die demokratisch-soziale Opposition durch kulturelle Selbstbestimmung.

Das Stadt-Land-Gefälle

Kollaps der SPÖ verhindert?

Viele dachten, dass die SPÖ entsprechend dem europaweiten Trend substantiell niedergehen würde. Logisch wäre es. Ihre historische Klientel ist von der Konterreform am meisten betroffen. Die schrittweise Aufkündigung des sozialen Kompromisses wird von der SPÖ moderiert und verwaltet. Dabei nutzt sich die Basis natürlich ab.

Und tatsächlich hat die SPÖ in den Arbeiterbezirken überwiegend verloren. Laut der Zeitung „Der Standard“ verfügt die FPÖ bei den Arbeitern über eine satte absolute Mehrheit, von einem Drittel beim letzten Mal zu zwei Drittel diesmal. Doch sie konnte die Verluste unten durch Kannibalisierung der Grünen in der städtischen liberalen Mitte ausgleichen. In den Wiener Bobo-Hochburgen verzeichnete sie sogar Zuwächse im zweistelligen Prozentbereich.

Der städtische Mittelstand hat soziokulturelle Panik vor Schwarzblau. Nur der SPÖ wird zugetraut, die Blauen beschränken zu können. Das ist im Übrigen eine Mittelstandsillusion, die zudem noch reaktionär ist, weil sie die SPÖ an die Große Koalition mit der ÖVP band. Diese Position der moderierten Konterreform hat den Massenanhang der FPÖ unten erst hervorgebracht.

Darum ist auch zu befürchten, dass die SPÖ zu einer Oppositionsrolle weder bereit noch fähig ist – wie auch schon unter Schwarzblau vor einem Jahrzehnt. Wenn Kurz & Strache die sozialpartnerschaftlichen Pfründe des SP-Apparat entgegen ihrer Ankündigungen unangetastet lassen und den scheibchenweisen Abbau weiterführen, wird es zu keinem sozialen Widerstand kommen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass Schwarzblau im Übermut des Sieges die österreichische Realverfassung missachtet, den SP-Apparat angreift und zum Widerstand provoziert. Ob dieser zu reagieren weiß, ist nicht gesagt.

FPÖ als Mehrheitsbeschaffer der ÖVP?

Die FPÖ hat das soziale Element, mit dem sie insbesondere in Wien immer wieder gespielt hatte, im Wahlkampf im Verhältnis zu früher heruntergedämpft. Symbolisch dafür stand die Ablehnung der Erbschaftssteuer. Zudem kommt die schwarzblaue Koalition in Oberösterreich, die gänzlich wirtschaftsliberal läuft. All das ist ein klares Signal an die ÖVP, dass man bereit ist sich unterzuordnen.

Doch Strache muss das Desaster der ersten schwarzblauen Koalition noch im Kopf haben, die zur Spaltung und zum Niedergang der FPÖ führte. Im Gegenzug zur Mehrheitsbeschaffung für die ÖVP, durfte man sich kräftig bedienen (Affäre Grasser). Strache will daher den politischen Preis erhöhen, um möglichst nicht als Hampelmann von Raiffeisen & Co zu erscheinen. Das geht am einfachsten auf der Ebene der identitären Symbolpolitik gegen Muslime und Migranten. Doch wie lange wird das ausreichen?

Es gibt trotz der Moderation soziale Erwartungen der städtischen Unterschichten an die FPÖ. Diese wird, von der ÖVP in Dienst genommen, innerhalb weniger Jahre plebejische Unterstützung einbüßen. Strache ist nicht Grasser und Riess-Passer. Er wird sich irgendwelche Blasen einfallen lassen, um sich von Kurz abzusetzen und in letzter Not könnte er auch die Bremse ziehen.

Kurz-Hype

Der Wahlerfolg von Kurz mit +7,5 Prozentpunkten ist tatsächlich erstaunlich. Denn die ÖVP ist nicht nur seit Jahrzehnten Regierungspartei, sondern zeigte erhebliche Abnutzungserscheinungen. Erste Erklärung ist natürlich die ungebrochene Medienmacht, mit er als frischer Wind inszeniert wurde. Aber das reicht nicht aus.

Zweitens ist da die bereits erwähnte antiislamische identitäre Kampagne, die eben auch in den städtischen und vor allem ländlichen Mittelschichten auf fruchtbaren Boden fällt.

Drittens ist Kurz kein besonders Konservativer. Die alte ÖVP war für die österreichische Gesellschaft im Schnitt zu reaktionär. Auch damit gelang es in den Städten etwas zurückzugewinnen.

Doch sonst ist da wenig neue Substanz für das alte neoliberale Regime. Sollte Kurz auf Schwierigkeiten oder gar Widerstand stoßen, könnte es sogar sein, dass er in der eignen Partei an Rückhalt verliert. Denn er hat das traditionelle System der Machtbalance in der Partei durch Erpressung in die Schranken gewiesen und seine persönliche Vorherrschaft durchgesetzt. Einige werden sich wohl rächen wollen, wenn die Zeit dazu gekommen sein wird.

Stabilität

Bei allen Krisenerscheinungen muss man dennoch erkennen, dass die Wahlergebnisse in letzter Instanz die Stabilität des Systems dokumentieren. Nicht nur, dass die Wahlbeteiligung erheblich gestiegen ist, sondern es haben satte Zweidrittel für Parteien des neoliberalen Regimes gestimmt, wenn man die FPÖ als halbe Opposition nicht dazuzählt. Wenn man die FPÖ zum Regime zählt, was sie in vermittelter Weise ist, dann kommen über 90% zusammen. Wenn man gnädig ist, kann man Pilz als sozialdemokratischen Ehrenretter sehen, doch auch er ist glühender EU-Anhänger. De facto stand keine Opposition zum Regime zur Wahl.

Pilz

Dennoch muss man sich Pilz genauer ansehen. Er hat die Rolle des zweiten Sargnagels für die Grünen gespeilt. Der erste war die SPÖ.

Er hatte für die Grünen einen „linkspopulistischen“ Ausweg aus dem linksliberalen, urbanen Wohlstandsgetto konzipiert. Dieser bestand aus zwei Komponenten: Erstens sozialdemokratische Forderungen ähnlich der SP, die allerdings für ihn völlig kompatibel mit der EU sind, wie für die SPÖ auch. Zweitens gebetsmühlenartige Attacken auf Erdogan und den Politischen Islam, der die antiislamische und antitürkische Grundstimmung raffiniert aufgreift, ohne offen chauvinistisch zu sein. Der rechte Kulturchauvinismus fand so ein säkularistisch-linksliberales Pendant. Jedenfalls hat das Experiment in den Städten funktioniert.

Nachdem die SP und das städtische linksliberale Milieu („gegen FP-Nazis“) zu einem sozialen Widerstand nicht fähig sind, könnte diese Rolle Pilz zufallen. Nicht, dass dieser signifikanten Einfluss auf die Apparate der institutionalisierten Arbeiterbewegung hätte, noch, dass er ganz unten organischen Verankerung besäße. Doch Pilz hat eine Nase für Stimmungen. Entwickelte sich eine latente Bereitschaft zum Widerstand, dann könnte er in dieses Vakuum vorzustoßen versuchen. Er hat Medienzugang und einen rudimentären Apparat. Man darf sich nicht zu viel erwarten, aber es könnte mehr als nichts sein.

Düringer und die KPÖ

Kleinere Parteien und Versuche sind ein wichtiger Gradmesser.

Düringers Gilt war ein interessanter Ansatz mit Medienhebel, im weitesten Sinn ebenfalls ein „linkspopulistisches“ Experiment. Doch er weigerte sich eine politische Alternative zu präsentieren. Dem lag eine Verwechselung zu Grunde: Die Zurückweisung von Parteien und Politik im Allgemeinen wurde als bare Münze genommen und nicht als roher Ausdruck der im oppositionellen Milieu gängige Ablehnung der Regimeparteien interpretiert. Daher kein Programm und keine Politik, sondern eine „neutrale Haltung“ um keine potentiellen Wähler zu verschrecken. Im Endeffekt blieb nicht mehr als ein kabarettistischer Arschtritt für den Linksliberalismus. Das ist entschieden zu wenig. Mit einem in einem konstitutiven Prozess ausgearbeiteten politischen demokratisch-sozialen Programm wäre mehr drin gewesen, doch Pilz hätte ihm auf jeden Fall die Schau gestohlen.

Angesichts des völligen Fehlens einer oppositionellen Linken und der selbst in den Medien thematisierten wachsenden sozialen Schieflage, wäre es zu erwarten gewesen, dass die KPÖ ihren Stimmenanteil vergrößern würde können. Das Gegenteil war der Fall. Da sie milieumäßig kongruent mit den Grünen ist, wurde sie wohl vom gleichen Effekt gebremst. Die Stimmen nicht für eine Kleinpartei verschleudern, sondern SP oder Pilz wählen. Zudem unterscheidet sie sich – außer durch den Namen – durch nichts vom Linksliberalismus. Sie lebt lediglich durch den Namen, denn viele wissen gar nicht, dass es sich um einen Etikettenschwindel handelt.

 

Wahlergebnisse laut Innenministerium

Grafische Aufbereitung der Gewinne/Verluste der Parteien durch den „Standard“

Wahlergebnisse in Wien inklusive Karte

WAHLEN 2017 IN ÖSTERREICH UND DIE LINKE

Die österreichische Sozialdemokratie ist nicht zusammengebrochen. Das ist nach diesem Wahlkampf schon fast eine Meldung, wert zu bringen. Gerettet wurde sie möglicher Weise von Herrn Fellner und seinem unsäglichen „Österreich“. Als Kern sein Schutzgeld – die mafiöse Wendung ist völlig angebracht – in Form von generösen Inseraten vor 2 Wochen nicht mehr zahlte, entfesselte er eine wilde Kampagne gegen ihn. Das hat sicher in Wien, u. a., dazu beigetragen, den berühmten „Jetzt-erst-recht“-Effekt auszulösen. Denn hier, im Verbreitungsgebiet von „Österreich“, hat die SPÖ ansehnlich gewonnen. Wie üblich war dies wiederum hauptsächlich in den Innen-Bezirken der Fall; diesmal aber gab es Gewinne sogar in gewissen Außen-Bezirken. Aber die Stimmen der Arbeiter hat die SP trotzdem nicht zurückbekommen. Die findet man solide, mit 3 Fünftel Anteil, bei der FPÖ.

Wenn wir uns an die politische Bedeutung dieser Wahlen annähern wollen, dürfen wir nicht auf die Prozent- und Mandats-Stände starren. Wir müssen die Ströme ansehen. Die SPÖ hat sich in den Wahlen nicht zuletzt gehalten, weil sie von den Grünen massiv Stimmen abzog. Untere und mittlere Mittelschichten, Beamte, Angestellte, ältere Menschen haben die Partei gerettet.

Die Grünen sind zusammen gebrochen. Ich muss sagen, mich persönlich freut das nicht nur klammheimlich. Es gibt eine Kompradoren-Politik, wie es eine Kompradoren-Bourgeoisie gibt und in Österreich vor allem Kompradoren-Intellektuelle. Frau Lunacek ist die muster­gültige, geradezu reine Verkörperung dieser Kompradoren-Politik, wie es schon ihr Vorgän­ger Voggenhuber war. Sie freuen sich überaus, wenn ihnen seinerzeit Cohn-Bendit und heute Frau R. Harms sagen: „Ihr seid’s gescheite Leute“. Gemeint ist: Ihr stimmt uns unterwürfig in allem zu. Ob die Wähler zu Hause dies auch wollen, steht da nicht mehr zur Debatte. Übri­gens wollte ein Großteil der Grün-Wähler dies ohnehin. Die sind ja selbst völlig dependent von der BRD. Die bilden heute die Kompra­doren-Intellektuellen. Aber nun haben sie Angst vor ihrer eigenen Phantasie bekommen und sind zur SPÖ gewechselt.

Es gibt einen zweiten Punkt, der uns interessieren sollte – deswegen der lange Sermon über die Grünen. Als die Partei ins Leben trat, hatten sie einen erfrischenden Umgang mit den bürokratischen Prozessen anderer Parteien. Der hat sich längst überlebt und wurde zum Selbstzweck. Ein Typ, dessen einzige Qualifikation sein Auftreten als Küsserkönig ist, wirft einen gefinkelten und in seinem Rahmen höchst nützlichen Abgeordneten, den Herrn Pilz, aus dem Rennen. In diesem Moment müssen auch wir uns fragen: Wie können alternative Prozeduren aussehen, ohne dass völlig irrelevante Grüppchen und Überlegungen zum Zug kommen?

Der Aufstieg der FPÖ ging weiter. Gespeist wurde er diesmal von der Rückkehr der Stronach- und BZÖ-Unterstützer. Das dürften, soweit wir wissen, teilweise Schichten sein, die ans Lum­pen-Proletariat grenzen, teilweise aber auch Leute, die im ländlichen Kleinstbürgertum kultu­rell verankert sind. Aber dazwischen lag der große Aufstieg der FPÖ in den Umfragen. Zwei Jahre lang lag sie stabil an der Spitze. Trauen wir dem einmal – Zweifel sind allerdings ange­bracht. Dann müssten wir feststellen: Die Arbeiter sind nicht zur SPÖ zurückgekehrt, wohl aber Schichten und Gruppen des Kleinbürgertums zur neuen ÖVP der Kurz, Blümel und Co.

Damit sind wir beim eigentlichen Rätsel dieser Wahl angelangt. Die neue ÖVP stieg aus der Asche des Beinahe-Zusammenbruchs noch einmal empor. Nun hat diese Partei und ihre neue Führung fast ein Drittel der abgegebenen Stimmen. Es ist tatsächlich schwer zu begreifen. Ein erkenntlich hartes neoliberales Programm mit sozialem Leistungsabbau erhält 36 % der Stimmen älterer Frauen (ab 60 Jahren). Die müssten doch besonders die bevorstehenden Pensions-Kürzungen fürchten. Selbst in manchen Arbeiterkreisen soll es Sympathien für diesen Schnösel mit seinem Arbeitszeit-Verlängerungs- und d. h. Lohn-Kürzungs-Programm gegeben haben.

Es ist der neuen ÖVP-Gruppe mit ihrer Gallions-Figur offenbar auf eine paradoxe Weise gelungen, die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der derzeitigen Politik bis zu einem gewissen Grad für sich zu nutzen. Zwar muss man auch hier etwas relativieren. Die letzten Umfragen vor dem Kurz-Coup gaben der ÖVP 20 %. Das dürfte die Kernwählerschaft aus altem Mittel­stand, höheren Angestellten, den wenigen verbliebenen großen Bauern und ähnlichen Sozial-Charakteren sein. Die gehen durch dick und dünn mit den Konservativen. Dazu kommen nun rund 12 Prozentpunkte. Hier sind sicher die Kinder von Maggie Thatcher und (heute nicht mehr Coca Cola sondern) Red Bull drinnen. Die Ich-Generation glaubt, demnächst zu den Gewinnern zu gehören, die jetzt noch durch erzwungene Rücksicht eingebremst sind. Man braucht nur auf den Herrn Blümel hinzuhören. Bei den Neos und bei den Grünen fühlten sie sich vielleicht noch etwas behindert. Aber das reicht nicht für 12 % aus. Und, wie gesagt, die Pensionistinnen, bei denen Kurz so Zuspruch findet, werden mit Sicherheit nicht zu den Gewinnerinnen gehören. Wer sind also jene, welche den mindestens ebenso großen Rest stellen?

Die Linke hat es in dieser Auseinandersetzung nicht gegeben. Die KPÖ – Bundespartei – hat ihren Charakter als Wurmfortsatz der Grünen noch einmal betont. Sie hat weiter verloren. Aber verloren hat sie auch dort, wo sie wirklich Politik macht, in Graz z. B. Die steirische KP wird sehr darauf achten müssen, dass sie nicht in den Untergang dieser Partei hinein gezogen wird.

Düringer ging ebenso unter in diesem Kampf der „drei Lager“.

Wir müssen immer wieder darauf verweisen: Der Abbau des Sozialstaats in Österreich geht nicht in der kämpferischen Weise vor sich, welche die Eliten der BRD gewählt haben, und die eine Zeitlang dort ja bestens funktioniert hat. In Österreich hat die politische Klasse eine ganz andere Rhetorik. Hier heißt es stets, dass der „Sozialstaat gerettet“ werden muss, indem man ihn von ungerechtfertigten Auswüchsen reinigt. Dazu kam in den letzten Jahren noch der Hinweis auf die Kosten der „Flüchtlinge“, also der Immigration. Beides hat gegriffen. Über­dies war bisher der Sozialabbau tatsächlich eingebremst. Er hat in erster Linie die Pensionis­ten betroffen. Auch das Gesundheitssystem bröselt sehr stark – deswegen hat sich ja in Wien die Frau Wehsely davon gemacht. Aber bisher hat dies einigermaßen noch gehalten. Die Pensionisten und vor allem die Pensionistinnen kann man offenbar ziemlich leicht befriedigen und ruhig stellen, wie sich zeigt. Die Angst und damit die Unzufriedenheit wachsen zwar, haben aber noch verhältnismäßig wenig an handgreiflichen Belegen aufzuweisen.

Die Frage ist, ob sich dies in Hinkunft ändert. Es sieht sehr danach aus. Die jungen Hyänen nicht nur der ÖVP sind ungeduldig geworden. Sie wollen jetzt endlich Resultate auf der Hand sehen. Aber noch sind wir bei weitem nicht in Griechenland und werden auch nicht so bald dahin kommen. Wir sind in einer Situation, die man seinerzeit, vor vielen Jahrzehnten mit „Arbeiteraristokratie“ beschrieben hat. Wir leben ziemlich gut, und zwar nicht zuletzt von den Billig-Produkten aus China und Vietnam. Mit anderen Worten: Wir leben stärker von der Dritten Welt als je zuvor. Es gibt Leute, die dies regelrecht zur Ideologie ausbauen und uns einreden, dies würde auf Dauer so halten. Sind doch ohnehin nur Kanaken, die dort…

Solange dies aber wirklich hält – und ein paar Jahre wird es schon noch gehen – dürfte eine Linke in Österreich keine Chancen haben. Wir sind Teil des Zentrums einer ziemlich brutal globalisierten Welt. Wenn wir auch von unserer eigenen politischen Klasse, nicht nur den Voggenhuber und Lunaceks, sondern auch den Swobodas, Leichtfried und Doskozil inzwischen zur politischen Peripherie der BRD, Westeuropas und der NATO gemacht wurden, noch kommen materielle benefits der zentralen Position auch den österreichischen Unterschichten zugute. Das ist die eigentliche strukturelle Erklärung dieses Wahlausganges.

Albert F. Reiterer, 16. Oktober 2017

Abschlusskundgebung der FP am Victor-Adler-Platz

Gestern habe ich mir zum ersten Mal im Leben die FP-Schlusskundgebung am Viktor-Adler-Markt angetan. Zunächst, der Platz ist klein, er schaut auch mit ein paar Hundert Leuten gesteckt voll aus, weil er de facto die Vorgängerzone sperrt, die Freitag Nachmittag im Altweibersommer extrem frequentiert ist. Darum drängen im Herzen des türkischen Wiens am Rand unzählige Kopftuchträgerinnen vorbei.

Größter Renner sind die Plüschtiere. Ich sehe eine traditionelle arabische Frau mit Fast-Vollverschleierung (vermutlich Irak, wegen Tätowierung in der Nähe der Augen), die unbedingt ein Viecherl haben will. In den Seitengassen des Marktes beobachte ich eine vermutlich serbische Familie, die die Beute einsackt – ca. zehn Plüschtiere. Auch ein paar Asiatinnen haben eine Rießenfreude.

16h Beginn, 18h spricht HC. Anfangs sehr wenige Leute, vielleicht 250. Als die Reden beginnen, ist es vorne sehr gedrängt, ich glaube aber nicht, dass die 1000 erreicht sind, selbst als Strache spricht.

Von der sozialen Mischung: Der „Bodensatz“ an Alkoholkranken ist sowieso immer dort. Der hat seinen Sitz an der Lokalzeile zur Fußgängerzone hin. Die hatten wir beim Jugoslawien-Krieg, als wir dort regelmäßig unsere Kundgebungen machten, auch als Zuhörer. 20% vielleicht stellen die extremen Verlierer und Sozialfälle. Dann gibt es schon einen konsistenten Teil von 50% Hakler und untere Schichten, der sozialdemokratische Kern der FP. Vom Alter her stark durchmischt, repräsentativ. 20% reaktionärer Mittelstand, wenig Schmisse, eine Glatze habe ich gesehen. 5% vielleicht Serben (ein befreundeter Funktionär des alten Jugoslawischen Dachverbandes, mit dem ich vor 20 Jahren demonstrierte, der seine betagte Mutter ausführte), ganz vorne eine ungarische Nationalflagge.

Gudenus macht nur auf Chauvinismus, da ist wenig Soziales dabei. Hofer gibt den Moderaten, er nochmals zum Präsidentenamt kandidieren will. Er spricht zur Dämpfung davon, dass jeder „von uns islamische Freude hat“, aber insgesamt sind sie zu viel.

Ich habe keine Vergleichswerte zu früher, aber Strache hat das Soziale im Mittelpunkt, Löhne, Mieten, Pensionen müsse man für Unsere anheben – das wird direkt gegen die Flüchtlinge gewendet, die ohne Arbeit gleich mehr einkassieren würden. Für diese Verknüpfung gibt es auch immer aus der Menge die größte Zustimmung. Dann halt das übliche gegen den Islam und insbesondere den Politischen. Aber dafür braucht man nicht zur Kundgebung zu gehen. Ich musste vorzeitig gehen. Wirklich gesessen hat die Anklage an die SP, dass sie gegen den Turbokapitalismus sprächen und sich selbst mit Turbokapitalisten einlassen würden (Silberstein-Gusenbauer-Steinmetz). Nach mehr als 30 Minuten hat er von der Erbschaftssteuer, die überall als unsozial plakatiert ist, nicht gesprochen. Soviel Gespür scheint er für das Publikum zu haben.

Ganz interessant die Betonung der Frauenrechte. Wie aus dem linken Lehrbuch, dass dies vor allem gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Anrechnung der Kinderbetreuungszeiten für die Pension, Anhebung der Mindestpension usw. heißen müsse. Um dann auf die Moslems einzuschlagen. Im krassen Widerspruch auch die schmierige Kärntner Band, die anlassige Bierzeltatmosphäre produziert.

Eine Freundin macht Interviews, wo ich bei einigen mithöre. Das Soziale und der Verrat der SP überall im Mittelpunkt. Einer sagt, dass er entweder FP oder Pilz wählen werde.

Insgesamt: die Moderation, die Hofer im Präsidentenwahlkampf und nun auch Strache für die Nationalratswahlen hingelegt hat und de facto sich als Partner und Mehrheitsbeschaffer für eine ultraliberale VP-Regierung positionierte, ist nicht durchschaubar. Am Viktor-Adler-Markt ist die FP einfach eine SP + Moslems raus. Wenn Strache den Hampelmann für Kurz machen sollten, sind die Leute weg (was bei den Bundesland-Altreaktionären nicht der Fall sein wird). Identitäre Maßnahmen gegen Muslime können vielleicht für eine gewisse Zeit als Kit dienen, aber irgendwann wird das verbraucht sein. Ein zweites Knittelfeld (FP-Spaltung unter Haider) wird möglich.

Ein gewisser Teil der Leute wäre auch für unsere sozialradikale Alternative ansprechbar, aber das geht nur, denn man eine kritische Masse erreicht hat und selbst kandidiert. „Ursprüngliche politische Akkumulation“ mit Basisarbeit ist in diesem Milieu nicht möglich.

DER „WIRTSCHAFTS-NOBELPREIS“ UND DER FINANZKAPITALISMUS: Die Schwedische Reichsbank dekoriert Richard Thaler und rettet die postmoderne Ökonomie

Die Schwedische Reichsbank lenkt den Blick wieder auf das globale Kasino: Sie prämiiert einen mainstream-Analytiker der Finanz-Spekulation. Das tut sie nicht zum ersten Mal. Bisher aber hat sie die harten Ideologen bevorzugt. 2013 gab sie den Nobelpreis an Eugene Fama (und einige andere). Der behauptete sein Leben lang: Finanzmärkte seien „rational“ und „effizient“. Was immer dies bedeutet, die Aussage sollte sein: Wir leben in der besten aller Welten – Fama als ein neuer Candide. Das Verhalten der Spekulanten führt zu einem „Optimum“, zum Wohlstand, vielleicht nicht gerade für alle, aber immerhin für das System, ob national oder global.

Heuer geht sie einen dialektischen Schritt weiter. „Behavioral Finance“, im Deutschen meist schief mit Verhaltens-Ökonomie wiedergegeben, anerkennt immerhin: Akteure auf den spekulativen Märkten gehen nicht ganz rational („less than fully rational“) vor. Das könnte als ein Angriff auf die Grundlagen der Neoklassik gesehen werden. Eilends fügt man also hinzu: Man kann aber Regeln heraus finden, wie die Prozesse ablaufen: Es gibt Über- und Unter-Reaktionen an präzisen Punkten des Ablaufs; über lange Frist kann man auf dem Aktien-Markt jedenfalls voraussagbar Gewinne machen; das Risiko-Bewusstsein der Spekulanten, pardon: der „Investoren“, nimmt stark ab, wenn sie sich „dem Markt voraus“ glauben; man kann auch primitive Aussagen aus dem Labor auf die große Welt übertragen; usf.

So konnte man Richard H. Thaler für solche Erkenntnisse den „Nobelpreis“ geben, ohne die Ökonomie ganz zu desavouieren. Denn einerseits sind inzwischen alle Beobachter an den realen Wahnsinn der Finanzmärkte gewöhnt – auch an ihre Irrationalismen. Andererseits aber wird die Behauptung der Rationalität der Märkte nicht wirklich aufgegeben. Und das ist der Punkt, wo auch wir genauer hinschauen sollten.

Denn, nach der Aussage des Preisträgers hängt die Bedeutung des irrationalen Verhaltens davon ab, in welchem Ausmaß Rationalverhalten davon profitieren kann. Das ist ein ganz geschickter Kniff. Ökonomie als Disziplin wurde seinerzeit definiert als Rationalverhalten, als das Erreichen von Zielen mit geringst möglichen Mitteln, oder anders herum, als das Errei­chen von maximalen Zielen bei gegebenem Einsatz (Robbins 1949). Und das steht heute noch in (fast) allen Lehrbüchern. Gäbe man das Rationalverhalten auf, zöge man der Ökonomie den Teppich unter den Füßen weg und den Boden gleich mit.

Damit stellt sich für uns die Frage: Was hat dies für einen theoretischen und für einen politi­schen Sinn? Hier müssen wir einmal festhalten: Es ist durch die Bank üblich, auf der Linken sowieso, aber bis weit in den liberalen mainstream hinein, den homo oeconomicus als reine Ideologie abzulehnen. Der h. oeconomicus ist aber das konstitutive Element der Neoklassik. Nur der Neoklassik?

Keineswegs. Auch die Klassik baut auf dem Konzept des „Rationalverhaltens“ auf. Bei Adam Smith heißt dies Eigennutz: „It is not from the benevolence of the butcher, the brewer or the baker that we expect our dinner, but from their regard to their own interest“ (Smith 1991, 119). Er steht damit voll in der britischen Tradition des Utilitarismus. Ricardo übernimmt dies und abstrahiert es stärker. Von Ricardo aber übernimmt es Marx. Der wichtige Unterschied ist: Smith und Ricardo und sodann die Neoklassik bis in die Gegenwart – eine Ausnahme ist interessanter Weise Hayek – ist dieser Eigennutz und der daraus resultierende Rationalismus eine anthropologische Konstante. Bei Marx aber ist es das Resultat einer langen historischen Entwicklung: „In dieser [bürgerlichen] Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Ein­zelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zube­hör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats machten… Den Propheten des 18. Jahrhunderts schwebte dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert neuentwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangene sei. Nicht als Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das Naturgemäße Individu­um, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich bestehendes, sondern von der Natur gesetztes“ (Marx o. J. [1857], 5 f.).

Rationalverhalten konstituiert also das ökonomische System und treibt die Entwicklung wei­ter. Aber Rationalverhalten ist eine Klassenfrage. Der Kapitalist und sein Geschäfts­führer streben nach dem höchst möglichen Profit und müssen dies tun. Anderwärtig können sie das Unternehmen auf die Dauer nicht erhalten. Und der gewöhnliche Mensch im Alltag?

Hier setzt die Ideologie, die moderne wie die postmoderne ein. Denn aus diesem unternehme­rischen Verhalten wird, erstens, ein allgemeines menschliches Verhalten; und, zweitens, eine Norm, die besagt, wie man sich verhalten soll. Den Kindern von Coca Cola und Maggie Thatcher braucht man dies gar nicht mehr zu sagen. Der erste Teil kommt bei Thaler, wenn er darauf hinweist: In vielen ökonomischen Entscheidungen spielt der Markt nicht – und dann nennt er die Paarbildung. Wenn ich die falsche Partnerin gewählt habe, gibt es niemanden, der meinen Ehekontrakt short verkaufen könnte. Der „Heiratsmarkt“ aus der Soziologie ist also ein Metapher, kein Markt. Wenn man über Homogamie schreibt, dann stößt man permanent auf diesen Begriff. Auch der Ausdruck Human-Kapital, kulturelles Kapital, ist ganz naiv aus der Markt-Ideologie übernommen. Damit ist Thaler mit seiner Anmerkung analytisch weiter als viele Soziologen. Und hier setzt der zweite Teil ein, die normative Aussage.

Denn Thaler scheint dies, das Fehlen des Markts zu bedauern, wenn vielleicht nicht den des „Heiratsmarkts“, so doch in vielen anderen Bereichen. Je mehr Markt, umso besser. Und das ist tatsächlich eine Tendenz der „Wissenschaft“ – mir läuft es oft kalt über den Rücken, wenn ich höre, wie unreflektiert die „Wissenschaft“ gerade in dogmatisch-marxistischen Kreisen immer wieder angerufen wird. Andererseits wird dies direkt in die Politik übersetzt und dient dort zur Rechtfertigung des Markt-Fundamentalismus – bzw. aus der „Wissenschaft“ her der Expertokratie, der Tech­nokratie, also der Bürokratie. Der Markt ist die einzige Institution, die in dieser Sicht über­haupt legitim ist. Die Bürokratie aber beansprucht, den idealen Markt aufzubauen und „die Wissenschaft“ im Sachzwang zu aktualisieren.

Bei Thaler allerdings kommt noch etwas Anderes heraus, das für die globale Struktur der Gegenwart viel wichtiger ist. Es kann hier nur angetippt werden: Die Ökonomie der Finanz­märkte wird mit aller Selbstverständlichkeit zur Ökonomie des Weltsystems generell aus­gerufen. Dies ist es wert, ein anderes Mal eigens behandelt zu werden. Denn auch hier haben wir die fundamentale Dialektik: Einerseits kümmern sich die Spekulanten überhaupt nicht um die Realwirtschaft; und die Realwirtschaft ist in der Einzelentscheidung auch völlig getrennt von den Finanzmärkten. Andererseits hantieren die Spekulanten mit Geld. Und Geld ist nun einmal das Steuer-Medium der Gesamtwirtschaft. Damit beeinflussen sie die Entwicklung massiv, wie die Finanzkrise seit 2007/08 drastisch gezeigt hat.

Der „Nobelpreis“ an Richard Thaler ist eine Ermunterung an alle Spekulanten, ihr Unwesen weiter zu treiben. Allerdings sollten sie bitte dabei ein wenig aufpassen, auf die „Irrationalismen“. In diesem Sinn hat dieser Nobelpreis voll und ganz das erfüllt, was man von Nobelpreisen verlangt: Sie legitimieren das System und versuchen, es zu stabilisieren.

Albert F. Reiterer, 12. Oktober 2017

Thaler, Richard H. (2005), ed., Advances in Behavioral Finance. Vol. II. Princeton, N.J.: Univ. Press. Thaler als Hg. hat in diesem dicken Band auch eine Reihe von umfangreichen eigenen Beiträgen aufgenommen. – Weiters hier erwähnt:

Marx, Karl (1857/58 [1939 bzw. 1941]), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf). Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt.

Ricardo, David (1971 [1817]), Principles of Political Economy and Taxation. Harmondsworth: Penguin:

Robbins, Lionel (1949 [1932]), An Essay about the Nature and the Significance of Economic Science. London: Macmillan.

Smith, Adam (1971), An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations. (1776) With an Introduction by A. Skinner. Harmondsworth: Pinguin.

EIN ANTIHEGEMONIALES PROJEKT: Die konsequente Linke und der „Sozialismus“

Das Ende der Geschichte lässt sich am deutlichsten an Deutschland, dem Kern des neolibera­len Europa beobachten. Da ist die Linke ganz und gar furchtsam geworden. Von „Sozialis­mus“ und einigen seinen zentralen Themen, von Gleichheit, Planung, usw., reden nur mehr versprengte Grüppchen. Radikale Opposition ist eine Rhetorik der weit rechts Stehenden geworden. Und in Österreich ist es nicht anders, vielleicht noch ein bisschen trister.

Am deutlichsten zeigt sich dies in der EU-Frage. Bis weit in die kargen Reste der radikalen Linken hinein wird „Europa“ beschworen. Die Genossen begreifen oft nicht einmal, dass dies nur ein abstraktes Wort für die EU ist, die als solche denn doch anrüchig geworden ist.

Ironischer Weise ist dies in den USA deutlich anders. Auf dortigen Universitäten sind „European Studies“ eindeutig ein konservatives intellektuelles Gegen-Pro-gramm zu „Subaltern Studies“, die es im Übrigen auch kaum mehr gibt.

Was kann man der bleiernen, erdrückenden Hegemonie entgegensetzen? Und wo? Vor vier Jahrzehnten, im Gefolge der Studenten-Bewegung, schien die intellektuelle Welt ganz auf Sozialismus orientiert. Aber mit dem Wort „Studenten-Bewegung“ ist auch klar: Das war eine Intellektuellen-Bewegung. Dagegen war Josef Bachmann, der Rudi Dutschke 1968 abschoss, ein junger Hilfsarbeiter.

 

Die Krisen und ihre harte Dialektik:

„Das Kapital [konnte] immer schon auf soziale Eingriffe in den Markt, die ihm zu weit gingen, mit Krisen reagieren“ (Streeck 2013, 94).

„Alle Krisen legen den Kern der Erscheinungen oder der Prozesse bloß. … Nichts offenbart so gut die wirklichen Beziehungen zwischen den Klassen, die wirkliche Natur der modernen Gesellschaft“ (Lenin, Werke 17, 175).

 

Gehen wir in die Gegenwart.

Das Volksbegehren für den EU-Austritt 2015 erhielt 261.000 Unterschriften, obwohl von einer fast sektenhaften Mikropartei organisiert. Das Volksbegehren gegen TTIP und CETA erhielt heuer 563.000 Unterschriften. Viele Menschen wollen sich organisieren, und wenn die Aktion institutionell noch so sinnlos ist, wie es Volksbegehren eben sind. Und beide Initiati­ven richteten sich gegen globalistische Kapitalismus-Projekte. Sie strebten beide keineswegs den Sozialismus an.

Sozialismus war im Sprachgebrauch der an der Sowjetunion orientierten Kommunistischen Parteien ein Leitbild zur Mobilisierung der Massen im Kampf um die politische Macht. Es war ein abstraktes Versprechen eines dauerhaft gesicherten guten Lebens – durchaus i. S. der antiken Moral-Philosophie – in einer fernen Zukunft. Es war, m. a W., ein Sorel’scher Mythos.

Die Konkretisierung dieses abstrakten Versprechens in der realen Politik folgte zwei Pfaden. Die Idealisierung des „realen Sozialismus“, nämlich der sozialen und politischen Strukturen in der Sowjetunion, war basal für die meisten der Kommunistischen Parteien; aber sie war in den 1920ern auch in einigen Sozialdemokratischen Parteien ansatzweise gegeben, auf der Ebene der Mitglieder jedenfalls, wenn schon nicht auf der Ebene der Führung. Daraus wurde abgeleitet eine kämpferische System-Opposition, welche die Grundzüge des herrschenden Systems attackierte und versuchte, sie in ihren Folgen für das Alltagsleben der Unterschichten begreiflich zu machen. Diese ständige politische Agitation und Kontestation machte diese Parteien und Gewerkschaften denn auch in einigen Ländern Westeuropas zu wesentlich progressiven Kräften.

Außerhalb Europas war dies weniger eindeutig. Da nannten sich einfach Entwicklungs-Diktaturen sozialistisch, wenn sie nur kritisch zur USA standen. So wurden derart blutige und schmutzige Regime wie das Äthiopien des Mengistu Haile Marjam zu „sozialistischen Staaten“. In ihrem Macht-Bereich unterdrückten sie jede sozialistische Regung systematisch auf das Brutalste und rotteten die Kommunisten aus, wenn sie ihrer habhaft werden konnten. Doch sie wurden konsequent unterstützt von der SU oder einem ihrem Satelliten – Äthiopien beispielsweise von der DDR.

Dass diese Art von „Sozialismus“ die kommunistische und sozialistische Ideen und Bewe­gungen schließlich von Grund auf diskreditierte, kann nicht verwundern. Wir weinen ihnen keine Träne nach, im Gegenteil. Wir bedauern bisweilen, dass sie nicht mehr existieren. Aber das hat einen ganz anderen Grund: Sie bildeten doch ein Gegengewicht gegen die USA und deren Satelliten und Unterstützer, u. a. die EU.

Aber wenn wir heute von Sozialismus sprechen, müssen wir tiefer schürfen. Sozialismus oder Kommunismus, der Mythos und der Bezugs auf die weltpolitische Erfahrung der Sowjetunion oder Chinas, kann heute für progressive, für sozialistische, für kommunistische Kräfte kein Ziel mehr sein. Sozialismus als Mythos ist ein Appell an den Irrationalismus. Der marxisti­sche Sozialismus war aber stets die konsequenteste Strömung und Praxis des historischen Rationalismus. Der Verlust des Pathos im postmodernen politischen Prozess hat überdies den Appell an diesen Mythos für einen Großteil der Bevölkerung völlig ineffektiv gemacht. Und mit Recht: Die Überschätzung der Politik und die Unterschätzung des Privaten war einer der Hauptmängel der Studenten-Bewegung. Es ist der Versuch, der Gesellschaft als Ganzes die Wertewelt von Intellektuellen aufzudrängen.

Aber verzichten können wir auf den Begriff nicht. Wir müssen im Gegenteil sein kontestatä­res Potenzial für jede ernsthafte und konsequente Opposition nützen. Und dazu müssen wir Sozialismus ohne Scheu vor den üblichen Anwürfen neu definieren. Dabei haben wir Vor- und Nachteile.

Wir Sozialisten sind alt geworden.

Aber wir Alten Sozialisten haben auch Einiges anzubieten. Und vieles davon stößt gerade heute wieder auf erhebliche Resonanz. Die journalistischen Sprachrohre der Eliten und der politischen Klasse, wie immer sie sich selbst punzieren, wundern sich: Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn, weit jenseits der 60, auch Luc Melenchon, etwas jünger, Stephan Hessel, der mit deutlich über 90 geschrieben hat, stoßen gerade bei jungen Leuten auf Begeisterung. In den letzten Jahrzehnten sind sie die einzigen Politiker, die aus der Tradition kommen, die überhaupt noch junge Menschen zu bewegen verstehen. Dabei ist ihr Geheimnis so einfach. Mit einer gewissen Authentizität vertreten sie („alt“-) bewährte Ideen und Thesen, die in den letzten Jahrzehnten von der Dampfwalze der hegemonialen Ideologie, ob konservativ, sozial­demokratisch oder grün, platt gefahren und beerdigt wurden. Und nun kommen auch Jüngere, die weniger von den Tabus des mainstreams belastet sind und stellen fest: Darum geht es uns doch in Wirklichkeit! Es geht um ein besseres Leben für Alle; es geht um mehr Gleichheit und weniger Profit; es geht um eine menschliche Zukunft.

Das so offenkundige Scheitern, die Verlogenheit der neoliberalen Versprechungen von stei­gendem Wohlstand, dem guten Leben und der Selbstbestimmung allein im Konsum macht den mainstream unglaubwürdig. Und nun reiben sich viele den Sand aus den Augen, welchen ihnen die Eliten und ihre Propagandisten hinein gestreut haben und weiter streuen.

Aber hat dies was mit Sozialismus zu tun? Ja. Denn Sozialismus ist sicher nicht eine fixe Struktur, ein- für alle Male entworfen und gültig.

Hier aber wird es dialektisch. Wir können nicht ständig Amerika neu entdecken. Wir brau­chen eine intellektuelle Tradition. Wir akzeptieren nicht dogmatisch alles, was Marx, Lenin und andere geschrieben haben. Aber wir können auf ihnen aufbauen. Dazu kommt, dass dies mittlerweile Symbol-Namen für die radikale Alternative sind. Es ist heute bereits eine politi­sche Aktion, Marx und vor allem Lenin zustimmend zu zitieren. Gerade Lenin ist als Person und Theoretiker der lebendige Widerspruch für die Gegenwart. Als Theoretiker war er in der Analyse genial. Zugegeben: Er ist gleichzeitig so dogmatisch, dass er für uns heute oft schwer lesbar ist, wenn wir von ihm strategische Auskunft wollen und ihn nicht nur als Figur der Ideen- und Dogmengeschichte, also akademisch, behandeln. Als Politiker war er in vieler Hinsicht die Vorurteilslosigkeit und die Innovation schlechthin. Doch er hat auch den Grund gelegt zur Diktatur über das Proletariat, auf dem Stalin weiterbauen konnte.

Was macht also heute Sozialisten, nicht Populisten, nicht linksliberalen Intellektuellen, aus?

Es sind aus meiner Sicht drei Züge, die im dritten Punkt zu vier werden:

(1) der Egalitarismus; (2) die Notwendigkeit der politischen Steuerung von Gesellschaft; (3) Selbstbestimmung und Demokratie im Rahmen hochkomplexer Gesellschaften; (3a) hier müssen wir über die politischen Institutionen sprechen: „Rätedemokratie“.

Der Egalitarismus ist die Aussage, dass alle Menschen die Chance haben müssen, ihre Fähig­keiten umfassend zu entwickeln. Dazu bedürfen sie einer entsprechenden Ausstattung mit materiellen Ressourcen. Solange wir nicht in einer globalen Überfluss-Gesellschaft leben, heiist dies auch, sich Gedanken machen, was im die Verteilungsfrage im Weltmaßstab bedeutet, und was dies für Folgen hat.

Die politische Steuerung ist die Einsicht in das labile „Gleichgewicht“ sozialer Prozesse mit dem Blick auf Macht und Ressourcen; sowie auch die Notwendigkeit bewusster Entscheidun­gen über die zukünftigen Entwicklungen. Es geht um Planung. Der erste Teil des Satzes be­deutet: Lässt man, als Paradigma, den Markt allein arbeiten, so beginnt denknotwendig und sofort ein kummulativer Prozess, der zur Ballung von Macht und Reichtum, zu skandalöser Ungleichheit, führt. Dem muss ein entsprechendes Institutionen-Gefüge gegenüber gestellt werden.

Der zweite Teil besagt: Selbst beim Risiko von Fehlentscheidungen über Entwicklungs-Rich­tungen ist es besser, solche Entscheidungen bewusst nach einer sorgfältigen und umfassenden gesellschaftlicher Debatte zu treffen, als sie einem anonymen Mechanismus zu überlassen.

Beide Feststellungen, die unverkennbar auf die Debatte über Plan und Markt zielen – das sei hier herausgestellt – , bedeuten keineswegs, dass Prozesse der Selbstregulierung („Markt“) ausgeschaltet werden müssen oder sollen.

Über Selbstbestimmung braucht man heute kaum sprechen. Sie ist scheinbar selbstverständ­lich geworden – scheinbar! Aber Demokratie bedeutet auch das Denken in Institutionen. Demokratie erschöpft sich keineswegs in Parlamentarismus – obwohl funktionierender Parlamentarismus ein historischer Fortschritt sondergleichen ist, Scheinparlamentarismus wie in der EU mit ihrem EP aber ein massiver Rückschritt zum bürokratischen Autoritarismus.

Dass inzwischen die bisherigen Institutionen der Partizipation, insbesondere der pure Parlamentarismus, fragwürdig wurden, springt allen in die Augen. Der völligen Ablösung politischer Repräsentanten von ihrer Grundlage ist mit einem neuen Institutionen-Verbund begegnet werden. Ausgangspunkt für eine fruchtbare Debatte könnten die seinerzeitigen Überlegungen zur Räte-Demokratie werden: die Möglichkeit der Festlegung eines Auftrags, also des imperativen Mandats ebenso wie die Möglichkeit einer Widerrufbarkeit des Mandats.

Hier haben wir den Ansatzpunkt zu einem Bündnis mit anderen Kräften. Bürgerliche Anti-EU-Kräfte sind nicht sozialistisch. Sie sind nicht selten sogar konservativ. Aber sie wehren sich gegen den Abbau jeder Möglichkeit zur Selbstbestimmung, Damit sind sie ein Ansprech-Partner. Das ist, m. E., die eine Richtung einer möglichen politischen Arbeit.

Daneben aber können wir auf die intellektuelle Debatte nicht verzichten, auf die Debatte mit der Mehrzahl der Intellektuellen, welche aus dem hegemonialen Hauptstrom kommt. Der ist heute globalistisch-liberal. Das ist also die zweite Richtung, in welche sich politische Aktivität bewegen muss.

Ich möchte hier zwei Bemerkungen anhängen, eine taktisch-allgemeine und eine persönliche.

Beide Richtungen einzuschlagen, birgt einen Widerspruch in sich. Wir müssen uns klar sein: Die bürgerlich-konservativen Anti-EU-Kräfte werden von den liberalen Intellektuellen gehasst und verachtet. Auf sie zuzugehen heißt fast automatisch, sich bei den Intellektuellen ins Out zu stellen.

Was aber die bürgerlich-liberalen Intellektuellen, also die Leute von Attac Österreich, die akademisch etablierten und saturierten Bobos oder auch die reuigen Gefolgsleute von Wien andas und ähnlichen Organisationsversuchen betrifft: so betrachte ich sie persönlich nicht als meine Ansprech-Partner, obwohl ich die unbedingte politische Notwendigkeit sehe. Aber nicht jeder Mensch ist für Alles geeignet. Ich persönlich sehe meine Rolle eher als undogma­tischer Dogmatiker, welcher stets auf die Kernanliegen einer linken Politik in der Tradition des altlinken Sozialismus hinweisen wird. Denn auch das ist notwendig.

Albert F. Reiterer, 30. September 2017

Der Erfolg der AfD als Scheitern der Linken

Eine Leipziger Sicht: die Bundestageswahlen in Sachsen

Von Pascal Hillgärtner, antifaschistischer und antimilitaristischer Aktivist

Die AfD ist in Sachsen mit 28% zur stärksten Kraft geworden. Die PdL (Partei die Linke) landen auf Platz drei mit 16,1%. Leipzig ist zwar nicht repräsentativ für Sachsen. (In Wahlkreis Leipzig II ist die PdL mit 22,5% die stärkste Kraft und die AfD mit 16% auf Platz drei.) Trotzdem können wir aus der Betrachtung der Stadt einiges für Sachsen schlussfolgern.

Leipzig ist die größte und älteste Studentenstadt in Sachsen und damit sehr beliebt bei mehrheitlich westdeutschen Studenten. Auch nach dem Studium lassen sich Teile von ihnen hier, in den als „Zeckenkieze“ bekannten Stadtteilen, nieder. Dabei gibt es kaum einen Austausch zwischen den alten und den neuen Leipzigern. Die Stadtteile, aber auch Kneipen etc., in denen die alten Leipziger verkehren, sind meist als „Nazikieze“ verschrien.

Ausdruck dieser Demographie sind die Konflikte um die Demonstrationen des Leipziger Pegida-Ableger Legida. Auf der Seite von Legida handelten die Reden regelmäßig von der Hartz-IV-Gesetzgebung, Sozialabbau oder Kriegsgefahr. Es wurden Flaggen in den St.-Georg-Farben [Symbol des russischen Verteidigungskampfes gegen Nazi-Deutschland] geschwenkt oder Transparente mit „Russians Welcome“ gehalten. Die „Antifaschisten“ sonnten sich hingegen in ihrer moralischen Überlegenheit und titulierten die Teilnehmer als dumm, barbarisch oder bemängelten eine fehlende Weltoffenheit. Dass man dabei ein breites Bündnis mit den Parteien des Kriegs und des Sozialabbaus einging, ist dabei nur konsequent.

Die Front verläuft hier also, verallgemeinert, zwischen den kleinbürgerlichen Studenten und abgehängten ostdeutschen Arbeitern und Arbeitslosen.

Dass die Weltoffenheit der Linken nur ein Lippenbekenntnis ist, zeigte sich weiter im Oktober letzten Jahres, als das links-autonome Kulturzentrum Connie Island einen Text veröffentlichte, in dem sie vor der „Welle der Willkommenskultur“ kapitulierten. Darin schreiben sie, dass es durch ihre zu sanfte Flüchtlingspolitik (Flüchtlinge dürften jede Veranstaltung für 50 Cent besuchen, alleinerziehende Mutter auf Hartz IV oder der deutsche Arbeitslose natürlich hingegen nicht) vermehrt zu sexualisierten Übergriffen und Eigentumsdelikten gekommen wäre. Dafür gab es selbstverständlich von der rechten Seite massiv Applaus. Dass die PdL während des Wahlkampfs an diesem Ort Plakate mit der Aufschrift „Refugees Welcome“ aufgehängt hat, ist in diesem Zusammenhang nicht nur zynisch, sondern dient einzig und allein der moralischen Selbstvergewisserung.

Die PdL kam im gesamten Wahlkampf nicht über diese stark moralisierenden Argumentationen hinaus. Auch weil sie ihre Basis in den linken Stadtteilen nicht verprellen wollten (bzw. weil sie es einfach aus der Struktur ihrer Partei gar nicht können). So ist es z.B. eine AfD-Basis, die in Teilen sich positiv auf die DDR bezieht. (Hier im Ost ein sehr wichtiges Thema!)

Aber auch Themen wie Antiimperialismus sind ein totales No-Go, weshalb nicht nur der ostdeutsche Arbeiter ein wesentlicher Feind der Linken hier ist, sondern auch alle nicht-antideutschen Linken oder auch muslimische Migranten.

Bei einer Veranstaltung der Chefredakteurin der Melodie&Rhythmus, Susan Witt-Stahl, die regelmäßig zu antideutschen Ausfällen und der israelischen Besatzung referiert, kam es zu Flaschenwürfen auf die Teilnehmer der Veranstaltung und zu Anzeigen gegen z.B. einen von Abschiebung bedrohten muslimischen Flüchtling.

So eine Linke kann keine Wahlalternative für den durchschnittlichen Ostdeutschen sein.

Wenn dann noch regelmäßig „Antifaschisten“, nach rechten Gewaltorgien gegen Flüchtlinge, in die Gemeinden des Umlands einfallen und unter Randale Parolen wie „Bomber Harris do it again“ und „Scheiss Drecksnest“ skandieren, spielt das nicht nur der rechten Ideologie zu, sondern zerstört auch die letzte Vermittelbarkeit von zivilgesellschaftlichen Engagement für Flüchtlinge in diesen Städten und Dörfern.

Wir müssen den Aufstieg der AfD unmittelbar aus der Schwäche einer antagonistischen Linken erklären. Ohne eine klare Kante gegen, nur im Ansatz, pro-imperialistische und pro-kapitalistische Kräfte, werden wir nicht die Köpfe der Bevölkerung im Osten gewinnen können.

Erfolg der AfD wegen jahrelanger Regimekonformität der Linken

von Wilhelm Langthaler

Globalistische Exportmaschine produziert reaktionär-nationalistischen Protest

Dämpfer für das Regime

Der Kern des deutschen neoliberalen Regimes, das Europa fest im Griff hat, verlor fast 15 Prozentpunkte. Das ist ein Zeichen dafür, dass das „Erfolgsmodell Deutschland“ eben doch nicht von allen als solches wahrgenommen wird. Man muss aber gleichzeitig einräumen, dass die FDP rund 10% erreichte, ähnlich die Grünen. Die Herrschaft der liberalen Oligarchie ruht also nach wie vor auf einer satten Zweidrittelmehrheit, das darf man nicht vergessen.

AfD reaktionärer Protest gegen Globalisierung

Die AfD hat nicht nur im Osten (und da besonders am Land), sondern auch in den niedergehenden Industriezentren an der Ruhr und selbst unter den saturierten süddeutschen Reaktionären Erfolge eingefahren. Ihr Feindbild ist der „Moslem“, der an allem schuld ist, ganz nach dem Muster des historischen Antisemitismus.

Es ist kein direkter sozialer Protest, sondern seine gebrochene und vermittelte Widerspiegelung in einem peripheren Mittelstand, der von Zukunftsängsten geplagt ist. Es gibt das „Wirtschaftswunder“ der Nachkriegszeit nicht, das alle, Bürger und Arbeiter, Nazis, Konservative und Linke unter der Herrschaft der Kapitalisten hochzog und vereinigte. Die „blühenden Landschaften“ haben sich einfach nicht eingestellt, sondern im Gegenteil, die Globalisierung droht den sozialen Kompromiss zu zermalmen, von dem sie auch profitieren, ihn aber eigentlich ablehnen. Symbolisiert wird diese Bedrohung von den Immigranten, die so zum Hauptfeind werden.

Die AfD kann dabei knallhart wirtschaftsliberal sein. Es interessiert nicht, dass es genau dieser Neoliberalismus ist, der zur Zerstörung ihrer Welt und vor allem des Bildes von dieser führt. Für die Pegida-Wutbürger reicht es, den Wirtschaftsliberalismus national zu beschränken, denn der Feind kommt von außen.

Politisch wird das geführt von der alten konservativen und nationalistischen Rechten. Sie ist EU-skeptisch, nicht weil die EU der deutschen Exportindustrie und den Reichen dient, sondern weil die Rechten auch die minimalsten Transfers zur Weißglut bringen. Sie wollen keine „Solidarität“ mit den ärmeren Nationen, auch wenn es in Wirklichkeit nur Almosen sind, die den systemischen Transfer von der Peripherie ins deutsche Zentrum verdecken.

Die AfD ist über viele Fäden mit dem Milieu der CDU und insbesondere der CSU gebunden. Es handelt sich eher um holpriges Kontinuum, als um einen scharfen Gegensatz. Besonders in Bayern ist die Welt der Reaktionäre nur ideologisch-kulturell bedroht und nicht sozial, wie es im Osten oder auch in NRW der Fall ist.

Systemische Linke

Insbesondere im Osten ist die Linke eine Systempartei. Sie repräsentiert das bestehende Regime und hat die soziale Konterreform über zwei Jahrzehnte mitgetragen und organisiert. Ihre „politisch-korrekte“ Ideologie wird mit der Herrschaft identifiziert, während der rechte Chauvinismus als gegen das System gerichtet erscheint.

Im Westen ist das sicher weniger der Fall, entsprechend ist die Linke als soziale Opposition auch noch glaubwürdiger.

Doch als Kraft des Bruchs erscheint die Linke dennoch nicht. Dazu müsste sie radikal und offensiv gegen das Euro/EU-Regime auftreten und sozial ein Programm der staatlichen Umverteilung und Investitionen propagieren. Da reichen ein paar Fernsehauftritte von Wagenknecht nicht. Schluss mit der Globalisierung und dem Freihandel – dem Süden Entwicklung ermöglichen. Austritt aus der Nato. Frieden mit Russland. Ende mit der Unterstützung für Israels Kolonialismus.

Es wäre ein naives und falsches Versprechen, würde man behaupten, damit die harte, reaktionäre und nationalistische Rechte knacken zu können. Aber ihr wäre der Sozialprotest wegzunehmen, der sich zumal im Osten darin vermittelt widerspiegelt. Die Rechte könnte als das entlarvt werden, was sie ist: als Anhängsel es Liberalismus mit Reminiszenzen alten nationaler imperialistischer Vorherrschaft.

(Man kann übrigens von Glück reden, dass die AfD das Soziale so ausspart. Würde sie sich gegen den ungebremsten Wirtschaftsliberalismus aussprechen, so könnte sie in den unteren Teilen der Gesellschaft noch viel tiefere Einbrüche machen.)

Ideologisch-kulturell muss verstanden werden, dass das Regime die alte Linke integriert, aufgesogen, zum Politisch-Korrekten als Herrschaftsinstrument umfunktioniert hat. Davon muss eine demokratische und soziale Opposition Abstand nehmen, gegen den Gesinnungsterror der Eliten stellungnehmen, die sich als Verteidiger der linken Werte aufspielen und das Gegenteil davon tun. Die Meinungsfreiheit muss unter allen Umständen verteidigt werden!

„Die Wirtschaft brummt““: Die soziale und die politische Krise

Auch das Zentrum ist nicht mehr sicher.

Kommentar zu den Bundestagswahlen von Albert F. Reiterer

Vor wenigen Tagen erschien im Berliner „Tagesspiegel“ folgende Karikatur (siehe nebenstehend). Die Karikatur wurde gestern Realität.

Man kann nicht gerade von einem Zusammenbruch sprechen. Aber wenn beide Regierungs­parteien ein Fünftel ihrer Stimmen verlieren, so ist das auch nicht Nichts. So weit von einer schweren Krise sind nun die Deutschen auch nicht, wie sie es mimen. Bei der SPD hat man das ja erwartet. Auch für die CDU/CSU haben sich in den Umfragen schwere Verluste abge­zeichnet, aber ihre Journalisten haben dies weggeredet und alle Aufmerksamkeit auf die SPD abgelenkt. Deren Schulz hat mitgeholfen. Was soll man von einem Menschen denken, der drei Tage vor dieser Wahl sagt, er biete Merkel den Vizekanzler-Posten in seiner Regierung an?

Aber nun sind es auch für die CDU nicht 37 % geworden, was für sie schon übel genug wären. Sie hat 33 % erhalten. Aber die CDU und ihre Journalisten sprechen noch immer vom Erfolg: „Wir haben unser Wahlziel erreicht!“ GRATULATION!!

Die Krise des Systems wird nun an der Oberfläche zur Krise der Parteien. In der Peripherie hat es bisher vor allem die Sozialdemokratie getroffen. Die PASOK ist nahezu verschwunden. Die Tsipras-Truppe wird ihr in den Orkus nachfolgen, sobald sie wieder Wahlen zulässt.

Doch nun ist die Krise im Zentrum angelangt. Bei Frankreich konnte man sich noch ein wenig unsicher sein. Ist das Land noch Zentrum, oder ist es auch schon Halb-Peripherie? Dort ging zwar auch die Sozialdemokratie, der PS, unter. Aber die Eliten und die europäische Büro­kratie waren soweit ganz zufrieden. Sie haben doch mit Macron dort ihre Marionette sitzen. Der wird versuchen, ihnen alle Wünsche zu erfüllen. Dass dieser Erfolg nur der besonderen Konstellation der französischen Wahlen und der dortigen Parteienlandschaft zuzuschreiben ist; dass er sich der Angst vor Marine Le Pen verdankt, das kümmert sie vorerst nicht. Für sie zählt nicht die Legitimität. Umso mehr pocht dieser neue französische Messias, dessen Lack gewaltig blättert, auf die Legalität. „Ich bin gewählt!!“

Aber nun beginnt es im Zentrum des Zentrums zu bröckeln, und das ist neu.

Und davon müssen die Eliten und ihre Journalisten ablenken. Alle sprechen von der AfD, und zwar in Wendungen, die wie maschinell von allen wiederholt werden, von Schwarz bis Grün. Alle weigern sich, mit gutem Grund, das Geschehen zu begreifen. Sarah Wagenknecht hat ein bisschen versucht, den Staub von der Oberfläche wegzukehren.

Aber die Linke hat ja selbst ein Riesen-Problem. Ihr Gewinn, einige Zehntel-Pünktchen hinter dem Komma, kann dies nicht überdecken, wenn man genauer hinschaut. Überall im Osten hat sie verloren, und zwar teilweise sogar schwer. Ein Wunder? In Berlin, in Potsdam, in Meck­lenburg-Vorpommern, auch in Thüringen tragen ihre Regierungspolitiker das neoliberale Programm der SPD mit. Der rechte, der neusozialdemokratische Flügel dominiert dort.

Im Westen wo die Parteilinken eher eine Stimme haben, hat sie tendenziell gewonnen. Aber ob da die Partei-Mehrheit, die doch schon aus opportunistischen Gründen aufmerksam werden sollten, hinschauen wollen, ist höchst ungewiss. Und dann fürchtet sich die Partei angeblich auch vor einer Spaltung.

Und was ist nun mit der AfD? In der Führungsgruppe sitzen da ohne Zweifel Figuren, die ohne weiteres aus der NPD kommen könnten und teils auch kommen. Aber den Wählern ist dies meist gleichgültig. Sie wählen ja nicht die AfD aus Achtung und aus Liebe. Während die (sinkende Zahl der) Wähler anderer Parteien zu fast 2 Dritte angibt, die jeweilige Partei aus Überzeugung zu wählen, sind das bei der AfD nur 29 %. Sie haben gemerkt, dass sich alle etablierten Kräfte offenbar vor dieser Partei besonders fürchten. Und denen, den Etablierten, wollen sie eine Ohrfeige verpassen. 59 %, etwa doppelt so viel wie bei den anderen Parteien sagt, sie würden sie „aus Enttäuschung über andere Parteien“ wählen.

Aber das gehört auch zum Spiel der Mächtigen. Denn diese Leute werden nichts verändern. Das wollen sie ja auch gar nicht. Damit ist die Enttäuschung für die Wähler programmiert, könnte man meinen. Aber selbst das ist vermutlich ein Irrtum. Denn diese Wähler können von der AfD nicht enttäuscht werden, weil sie von ihr nichts erwarten. Es ist der kennzeichnende Ablauf von Antipolitik im schlechtesten Sinn. Man semmelt den Etablierten Eines rein und ist dann eine Zeitlang damit zufrieden.

Die vorerst noch schleichende Krise der BRD, ihres sozio-ökonomischen und politischen Systems, wird weiter glimmen, solange nicht eine Kraft die allgemeine und diffuse Unzufrie­denheit zu organisieren und zu fokussieren willens und imstande ist. In der Linken, der Partei, gibt es Ansätze, aber sie sind äußerst minoritär. Wiesehr aber die Linke, die politische Richtung, diese Ansätze stützen und stärken kann, ist noch ganz unklar. Gerade in der BRD ist die Hegemonie des liberal-konservativen Hauptstroms so stark, dass selbst fast alle Linken glauben sie müssten sich anpassen: Sie müssten betonen, dass sie „Europäer“ sind; sie dürften von den eigentlichen Zielen nicht reden.

Linke Politik und Zielsetzungen haben noch einen sehr weiten Weg vor sich, bevor sie politik- und geschichtsmächtig werden.

  1. September 2017

 

Katalonien: Souveränität durch Unabhängigkeit?

Politische Ideen oppositioneller Minderheiten haben fast immer einen radikalen Kern, da nicht vom pragmatischen Druck der unmittelbaren Umsetzbarkeit belastet. Sie sind vom Hauch der Utopie getragen, wie Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“ darstellte.

Der Unabhängigkeits-Nationalismus im spanischen Staat, am prominentesten im Baskenland, ist dementsprechend eine radikale Geschichte des (bewaffneten) Kampfes für den Bruch mit dem Status Quo. Die faschistische Unterdrückung durch Franco und der globale Kontext der antikolonialen Bewegungen gab ihm seit den sechziger Jahren eine zunehmen linksradikale Ausrichtung der Verbindung von Unabhängigkeit und Sozialismus. Auch die Republik nach Franco demokratisierte das Verhältnis des Madrider Zentrums zu den Völkern im spanischen Staat völlig unzureichend und blieb, vor allem im Baskenland, durch Gewalt geprägt (GAL-Paramilitarismus).

Ein durchgehendes Markenzeichen der radikalen Unabhängigkeitsbewegungen war ihre Opposition gegen den kompromisslerischen Autonomismus der bürgerlichen Eliten ihrer „Nationen ohne Staat“: die PNV im Baskenland und die CiU in Katalonien waren nie interessiert, das Erdbeben zu riskieren, das ein Bruch mit Madrid bedeutet hätte; sie lebten gut von den Autonomiestatuten, die ihnen genügend Hoheit über Steuermittel gaben, um einen breiten klientelistischen Apparat zu füttern und hatten den Konsens der regionalen Bourgeoisien, die ökonomisch eng in den Gesamtstaat eingebunden waren. So vertraten die Unabhängigkeitsbewegungen nicht nur politisch ein radikales oppositionelles Projekt; der gute Schuss an Antikapitalismus entsprach ihrer sozialen Basis in den Unter- und unteren Mittelschichten.

Nun ist heute mit Katalonien, das die Basken seit dem Unabhängigkeitskurs seiner Regionalregierung an der Vorfront der „Problemnationen“ im spanischen Staat abgelöst hat, (fast) alles anders geworden. Konstant bleibt nur die Unnachgiebigkeit des spanischen Zentralstaats unter Mariano Rajoy‘s Volkspartei (PP, Partido Popular). Treu ihrer Tradition (Franco blickt ja immer noch von der Wand so manchen Parteibüros) pochen sie angesichts des bevorstehenden Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober kompromisslos auf die Einheit Spaniens, die notfalls von den Streitkräften zu sichern ist. Doch auf Seiten der katalanischen politischen Kräfte hat sich einiges verändert, seit Artur Mas 2004 den Alt-Vorsitzenden der Autonomisten und langjährigen Regierungschef Jordi Pujol abgelöst hat und ab 2010 eine nationalistisch orientierte Regionalregierung anführt.

Was waren die Gründe, dass die katalanischen Autonomisten der CDC (Demokratische Konvergenz Kataloniens, bei den Wahlen immer unter dem Namen Convergència i Unió, CiU, als Koalition angetreten; seit 2016 PDeCAT – Katalanische Europäische Demokratische Partei) – langjährige Mehrheitsbeschaffer im Madrider Parlamente sowohl für PP als auch PSEO-geführte Regierungen – auf den Konfrontationskurs des „Rechts zu entscheiden“ („Derecho a decidir“ als Synonym des Rechts auf Selbstbestimmung) umschwenkten?

Für die katalanische Bourgeoise war und ist der spanische Staat fraglos ein zentraler Markt: während die innerspanische Handelsbilanz für Katalonien ein großes Plus aufweist, so ist sie mit der Summe der Länder außerhalb Spaniens negativ. Dennoch fiel die Bedeutung des spanischen Marktes, vor allem seit der Wirtschaftskrise und dem Platzen der Immobilienblase, ab 2008 als Abnehmer für katalanische Exporte zunehmend unter die außerspanischen Abnehmer und liegt derzeit bei nur mehr etwa 40% zu 60%. Hier liegt offenbar ein Faktor, der Teile der wirtschaftlichen Elite für ein Unabhängigkeitsprojekt offener gemacht hat.

Dazu kam, dass die politisch-sozialen Momente der Krise, mit den Indignados auch auf den Plätzen Kataloniens, das regierende Establishment in allen Teilen Spaniens unter Druck setzte. Es drängte sich für die katalanische Regierung unter Artur Mas auf, den Finanzausgleich mit Spanien als externen Zwang für den Sozialabbau auszumachen. Zumal die mit der Wirtschaftskrise verknappten Staatsfinanzen die Fähigkeit der Autonomisten untergruben, ihren Klientelapparat zu alimentieren. Damit lag auch für die politische Elite Kataloniens ein Motiv vor, mit dem Unabhängigkeitsprojekt zu liebäugeln. Unterstrichen sei hier, dass die katalanischen CDC-Abgeordneten im Madrider Parlament 2011 allesamt für die EU-diktierte Schuldenbremse in der spanischen Verfassung stimmten (Reform des Artikels 135; Priorität der Schuldenbegleichung vor allen anderen Staatsausgaben). Um den Herren in Brüssel und Berlin zu gefallen, stimmte man so ohne mit der Wimper zu zucken für eine verstärkte Zentralisierung des spanischen Staates, denn die Schuldenbremse beinhaltet auch das Recht Madrids leichter in die Autonomiehaushalte einzugreifen, die einen wesentlichen Brocken in der Staatsverschuldung ausmachen!

Des Weiteren hoffte die CDC-Elite möglicherweise durch das Unabhängigkeitsprojekt den eigenen Niedergang aufzuhalten. Erschüttert durch Korruptionsskandale um illegale Parteifinanzierung und den allgemeinen sozialen Unmut der Bevölkerung verlor man zunehmend Stimmen an die Mittelinksnationalisten der ERC (Republikanische Linke Kataloniens). Mit den Wahlen zum Regionalparlament 2015 wurden dann noch die radikal-linken Unabhängigkeitsbefürworter der CUP mit 10 Mandaten zum Zünglein an der Waage. Die Hoffnung, mit dem Bündnis „Junts pel Sí“ (Zusammen für das Ja) die politischen Konkurrenten in einer breiten Koalition für das Unabhängigkeitsreferendum einzukaufen und die alte CDC-Eliten darin zu sanieren geht aber sichtlich nicht auf. Die CDC (bzw. PDeCAT) liegt nach einer Umfrage vom Juni 2017 mit nur mehr 9 % der Wahlintention klar hinter der ERC (30 %) an sechster Stelle nur wenig vor der CUP (derzeit bei 6 %).

Zuletzt sei jedoch noch einmal betont: ein gewichtiger Grund für die Dynamik in Richtung Unabhängigkeit ist die Unnachgiebigkeit der PP in Madrid. 2010 wurden über das Verfassungsgericht 14 Artikel des 2006 reformierten Autonomiestatus als verfassungswidrig erklärt. Das heizte zusammen mit der ausbrechenden sozialen Krise die Rebellion in Katalonien an und brachte den Unabhängigkeitsbefürwortern 2011 erstmals eine Umfragen-Mehrheit. Der Sieg in dem bindenden Referendum am 1. Oktober ist dennoch zweifelhalt: von einem Höhepunkt der Ja-Stimmung mit einer Mehrheit von 47,7% zu 42,2% im Juni 2016 liegt das Nein nun seit Monaten voran, derzeit mit etwa 8 Prozentpunkten.

Die Unabhängigkeitsfrage Kataloniens ist heute keine abstrakte Idee einer radikalen Minderheit, sie muss sich am 1. Oktober konkret beweisen. Welche Szenarien sind denkbar? Eine Prognose ist nicht ganz einfach. Klar ist, dass die Polarisierung äußerst groß ist und keine der beiden Seiten, weder Barcelona noch Madrid, einen Rückzieher machen kann. Das Säbelrasseln der Madrider Gerichte und der Guardia Civil wird bis zum Referendum weitergehen (siehe Nachtrag am Ende des Artikels). Klar ist auch, dass sich die lächerliche Hoffnung der katalanischen Eliten, dass ihnen die EU entgegenkomme, nicht erfüllt. Puigdemont ist bei allen seinen Versuchen vor EU-Institutionen und Regierungen abgeblitzt. Die jüngste Argumentation spricht neuerlich Bände über die katalanischen Unabhängigkeits“kämpfer“: die Entscheidungskompetenzen in territorialen Fragen liege nicht beim spanischen Verfassungsgericht sondern beim Europäischen Gerichtshof und dieser habe daher in der Referendumsfrage zu entscheiden! Dementsprechend sind weniger als zwei Wochen vor der Abstimmung die Kräfteverhältnisse eindeutig zugunsten Madrids, das wiederum ganz im Sinne der PP-Tradition alles daran setzt, das Bild des „Völkergefängnisses Spanien“ unter den Katalanen zu festigen. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als notwendig, das demokratische Prinzip des Selbstbestimmungsrechtes zu betonen und das Recht der Katalanen auf eine freie und ungehinderte Abstimmung im Referendum, deren Resultat zu akzeptieren ist, zu verteidigen.

Aber es stellt sich unweigerlich auch die Frage des „danach“, wie auch immer das Referendum enden wird. Denn nach dem 1. Oktober muss es zu einer Normalisierung kommen, wenn diese auch angesichts der Polarisierung noch so schwierig wird. Gewinnen die Unabhängigkeitsbefürworter, was derzeit weniger wahrscheinlich scheint, fällt wohl die Madrider Regierung. Die PP wird keine militärische Lösung durchsetzen und die gesamte katalanische Regierung verhaften können. Dementsprechend würde die tiefe territoriale Krise ihr mit aller Wahrscheinlichkeit den Kopf kosten und das nächste Misstrauensvotum im spanischen Parlament dann zugunsten der Opposition ausgehen. Wahrscheinlicher ist freilich, dass das Nein gewinnt und damit die katalanische Regierung fällt. Tendenziell ist daraus eine Neuwahlkonstellation zu erwarten, in der trotzdem das Lager der linken pro-katalanischen Kräfte gewinnt (ERC, Catalunya Sí que es Pot) und auch die PSC (Sozialisten) zulegen, während die PDeCAT (ex-CDC) vernichtet wird und wohl auch die CUP an Konsens verliert (und sich intern der bündnisfeindliche sozialradikale gegen den bündnisbereiteren Unabhängigkeitsflügel durchsetzt).

Nach dem 1. Oktober gilt es in jedem Fall die Frage der „Souveränität Kataloniens“ neu aufzurollen. Die Idee der katalanischen Bourgeoise und politischen Elite, in Europa als ein neuer unabhängiger Staat aufgenommen zu werden, wird vernichtet sein wie eine kurze historische Anomalie in der katalanischen Geschichte: Im europäischen Establishment sind die Kräfte dafür zu schwach, zu groß die Angst vor den absehbaren Erschütterungen (Baskenland, Schottland, etc.). Und das katalanische Establishment wird sehr schnell seinen Übermut ablegen und von der Straße heim in die vertrauten Verhandlungssäle kommen. Hinter verschlossenen Türen einigt man sich schon, wenn der Pöbel einmal demobilisiert ist. Die unteren und Mittelschichten werden dann hoffentlich vom schädlichen Fiebertraum geheilt sein, dass denn nationale Selbstbestimmung und soziale Emanzipation durch das neoliberale Fiskalpakt-Gefängnis Europa erreicht werden könne.

Als konkrete Option bleibt die Neukonstitution Spaniens als plurinationaler Staat übrig. Diese Idee war über Jahrzehnte eine abstrakte Phrase der „españolistischen“ Linken gegen die baskische und katalanische Unabhängigkeitsbewegung. Die wirtschaftlich-soziale Krise hat in Spanien jedoch eine ungelöste Regimekrise des traditionellen Herrschaftsmodells (Bipartidismus mit PP und PSOE als Trägern) ausgelöst, deren Kernelementen der Aufstieg von Podemos als dritte Kraft und der Ausbruch der territorialen Konflikte sind. In diesem Kontext ist die Idee der Neukonstituierung des Staates real und potentiell mehrheitsfähig geworden. Eine soziale und demokratische Neukonstituierung, die das Selbstbestimmungsrecht anerkennt und im Dialog ein neues föderales Modell definiert, das den Konsens der Katalanen, Basken und anderen Völker Spaniens finden kann. Und zur Mehrheitsfähigkeit braucht es neben den nationalen Rechten in jedem Fall auch die ökonomischen Souveränitätsrechte, um die Sicherheit sozialer Zukunftsaussichten für die große Masse an Krisenopfern garantieren zu können. Das wäre ja dann durchaus eine Kontinuität der linken Unabhängigkeitstradition der Völker im spanischen Staat: nationale und soziale Befreiung gehören zusammen.

Gernot Bodner, Wien 19. September 2017

 

Nachtrag vom 20.9. 2017: Die Guardia Civil ließ heute 16 Regierungsmitarbeiter verhaften und durchsuchte Büros der Regionalregierung nach Stimmzettel für das Referendum. Madrid setzt offenbar darauf, das Referendum mit Gewalt zu verhindern. Die anti-demokratische Eskalation durch Rajoy ist ein durchaus mögliches Szenario, das aber den territorialen Aspekt der Krise des spanischen Regimes nur prolongiert und zeigt, dass das spanische Establishment keine konsistente Antwort hat, wie es eine Stabilisierung/Restauration schaffen kann. Eine Verhinderung des Referendums und der logische Trend zum Straßenprotest würde in Katalonien die radikaleren Kräfte (ERC, CUP; aber auch Podemos) stärken, die aber ohnedies die CDC schon überholt haben. Es würde wohl auch verstärkt auf das Baskenland ausstrahlen und damit die territoriale Auseinandersetzung in die nächste Runde tragen.