Nichts zu lachen

von Wilhelm Langthaler

Die Wahl Van der Bellens zum Bundespräsidenten ändert nichts am Niedergang des Regimes der Großen Koalition und am Aufstieg der FPÖ

 

Der Jubel der Medien über den Erfolg Van der Bellens ist lächerlich, ja geradezu grotesk. Als habe vor dem drohenden Armageddon doch nochmals das Licht über die Finsternis obsiegt. Das Geschrei sagt vielmehr etwas über die Medien selbst aus, nämlich, dass sie unkritische Stütze des bestehenden Regimes sind. Und es spiegelt sich die Kurzsichtigkeit, der Selbstbetrug und die Selbstgefälligkeit mehr noch der Zivilgesellschaft als der Spitzen der politischen Macht wider. Denn letztere spüren sehr wohl, dass sich da etwas gegen sie zusammenbraut. Jedenfalls will man den Unmut und die Wut, sie sich in den unteren Teilen der Bevölkerung aufstaut, vor allem auf das dumpfe Ressentiment der Proleten zurückführen („bildungsferne Schichten“). Die politischen Spitzen Kurz und Kern versuchen als letzte Rettung dieses Ressentiment zu bedienen. Dass es jedoch handfeste sozioökonomische Gründe für den Hegemonieverlust gibt, hält man im Hintergrund. Dazu brauche man nur mehr Marktreformen – die letztendlich den Abwärtstrend und die Ungleichverteilung nur beschleunigen werden.

Gehen wir zurück zum Ausgangspunkt: VdB war unterwürfig für das ancien régime eingesprungen, das im ersten Wahlgang schwer gedemütigt worden war. Die Grünen waren nie ganz im Zentrum der Macht angekommen, obwohl sie sich sehr bemüht hatten sich anzudienen. Statt ihre vermeintliche Sauberkeit zu nutzen und gewisse Distanz zur Großen Koalition zu halten, sprangen sie als deren Vertreter ein, wenn sie sich auch als gute Seite der Macht darzustellen versuchten.

Hinter dem moralisierenden Theaterdonner wollen wir lediglich auf drei realpolitische Festpunkte hinweisen, die VdB klar als Retter des Regimes festmachen: Erstens die Tabuisierung der EU, die ja ihrerseits der Organisator des Neoliberalismus ist. Zweitens die klare Befürwortung der Sanktionen gegen Russland, die die Spannungen im globalen System verstärken und die Kriegsgefahr erhöhen. Drittens der Wille zu autoritären Maßnahmen gegen den Aufstieg der FPÖ, auch wenn VdB das im zweiten Wahlgang nicht mehr nannte.

Bei Hofer ist es übrigens nicht viel anders: Im Vordergrund die Kultur- und Werteblase, die sich als Gegenbild zum Politisch-Korrekten der Grünen geriert: Gegen die Hautevolee stehe das einfache Volk, das gegen Islamisierung mittels Massenmigration und die Privilegien der politischen Eliten eintrete. Wie VdB ließ auch Hofer eine autoritäre Interpretation des Präsidentenamtes anklingen, ebenso im Dienste des Volkes. Ein politisches und sozioökonmomisches Programm im Interesse der Unteren lässt sich nicht finden, nur Sozialneid auf Flüchtlinge. Im Hintergrund gab es indes das klare Signal an die Eliten, die EU nicht anzutasten. Bereits die neoliberale Koalition im industriellen Kernland Oberösterreich und die Zäune-hoch-Zusammenarbeit im Grenzland Burgenland haben unter Beweis gestellt, dass sich die Eliten von der FPÖ nicht fürchten müssen. Zudem hat die Situation der Stichwahl zu einer weiteren Moderation geführt, um über die angestammte Klientel hinauszukommen und einen Teil der ÖVP anzusprechen.

Der liberale Oligarch Haselsteiner (Besitzer der Strabag) gab mit seinem Komitee gegen den Öxit der FPÖ ungewollt plebejische Schützenhilfe. Gemeinsam mit Conrad (ehemaliger Raiffeisen-General), Ederer (ehemalige Siemens Österreich-Chefin und SPÖ) sowie Fischler (ehemaliger VP-Landwirtschaftsminister und EU-Kommissar) ordnete er Hofer und der FPÖ eine Anti-Euro/EU-Position zu, die sie in Wahrheit gar nicht vertraten. Damit konnten sie zusätzliche Stimmen bekommen ohne den politischen Preis dafür zahlen zu müssen.

Der Wahlausgang zeigte dann doch einen erheblichen Vorsprung VdBs von 350.000 Stimmen oder 8 Prozentpunkten.

Als Muster für das Wahlverhalten kann man drei Polpaare hernehmen, wobei die Stichwahlsituation doch einen erheblichen Unterschied zu Nationalratswahl bildet: Stadt vs. Land, Wohlstand vs. Niedergang (nicht ganz kongruent mit reich vs. arm), Liberalismus vs. Konservativismus. (Hier die grafisch dargestellten Ergebnisse auf Ebene der Bundesländer, der politischen Bezirke und der Gemeinden.)

VdB konnte praktisch alle Städte sowie deren Speckgürtel für sich gewinnen, wobei die suburbanen Regionen meist Hochburgen der ÖVP sind. Bezeichnend ist da vor allem das Wiener Umland, das sich fest in der Hand von VP-Landeskaiser Pröll befindet – alles satte VdB-Bezirke. Durch den Wohlstand sind sie Verteidiger des Regimes. Politisch lehnen sie die proletarischen Kulturreste der SPÖ mehr ab, als den Liberalismus der Grünen. Die wenigen Städte, die Hofer wählen, sind alles SP-Stammterritorien. Zum Beispiel Villach, die rote Eisenbahner-Hochburg Kärntens (während die bürgerliche Landeshauptstadt Klagenfurt gemeinsam mit dem traditionell politisch-katholischen Bezirk Kärntens, Hermagor – das sich eher wie Tirol verhält, die zwei Bezirke des südlichen Bundeslandes waren, die für VdB stimmten). Oder die Schwerindustriestädte der Mur-Mürz-Furche in der Steiermark und sogar Eisenerz, die Bastion der KP. Währenddessen sind die Städte entlang der Westachse, die mit der deutschen Industrie verwoben sind, allesamt mit VdB.

Das wohlhabende Westösterreich, wo es wenig sozialdemokratische Tradition gibt und sich der Liberalismus erst in den letzten zwei Jahrzehnten als innere Differenzierung der ÖVP entwickelte, hat mit den Grünen kein Problem – zudem stammt VdB aus Tirol. Das aufgrund der Agrarstruktur historisch sozialdemokratische Burgenland weist mit 60% Hofer den höchsten Wähleranteil eines Bundeslandes auf, auch weil Hofer von dort stammt. Das sich entvölkernde und niedergehende Land der Randbezirke Niederösterreichs, der Steiermark und Kärntens ist wiederum festes Hofer-Territorium. Da kombiniert sich traditioneller Konservativismus mit sozialer Marginalisierung. Dort ziehen auch noch Argumente aus dem Kalten Krieg – Hofer bezeichnete VdB als Kommunisten. In Pröllistan, das genauso antikommunistisch war und ist, hat der machiavellistische Landesvater die ehemals kommunistischen Künstler und Intellektuellen lieber auf der Payroll – zu beiderlei Vorteil.

Wie erklärt sich nun der spezifische Unterschied zwischen dem zweiten (annullierten) und dem dritten Wahlgang, der von einem fast linearen Zuwachs für VdB geprägt war?

Das Regime hat nochmals alle Kräfte mobilisiert und war dabei erfolgreich. Die Wahlbeteiligung stieg sogar um 3 Prozentpunkte auf 75%. Im Unterschied zu den südeuropäischen Ländern verfügen die Eliten noch über die Mehrheit. Zudem repräsentiert auch Hofer keine harte Opposition, sondern bietet das lediglich als eine Variante an. Noch haben sie die Mehrheit, auch wenn sich diese parlamentarisch über die Große Koalition immer weniger abbilden lässt. Trotzdem geht die Abwendung der unteren Schichten zügig weiter. Der Wahlsieg VdBs ändert daran nichts, eher im Gegenteil.

Die SPÖ befindet sich auch unter Kern am Nasenring der Raiffeisen-Partei ÖVP. Der Bundeskanzler wollte mit der Anti-Ceta-Stimmung spielen, doch musste er schließlich klein beigeben. Jede Form von staatlichen Investitionen werden von der ÖVP mit Hinweis auf die von der EU vorgeschriebene Austerität unterbunden. Nicht einmal eine bundeseinheitliche Höhe der Mindestsicherung konnte durchgesetzt werden, was zu einem enormen Zug der Flüchtlinge nach Wien führt. Kern blinkte etwas links, repräsentiert aber keinen Linksschwenk. Er setzt auf den traditionellen Manager-Stil, auf Enttabuisierung der FPÖ um nicht zu sehr an die ÖVP gebunden zu sein, sowie auf Migrationsbeschränkung. Gemeinsam mit Kurz schlägt er auch den chauvinistischen Unterton gegen die Türkei an, den man sonst von der FPÖ kennt – wo es nur vordergründig um die Demokratie geht. Ob sie mit der Nachahmung Straches Stimmen machen können, bleibt zweifelhaft und abzuwarten.

Es ist wahrscheinlich, dass bei den nächsten Nationalratswahlen die FPÖ die stärkste Partei werden wird, so dass der Ausschluss der Freiheitlichen aus der Regierung kaum mehr möglich sein dürfte. Strache wird wohl versuchen Avancen gegenüber der SPÖ zu machen, um eine plebejische Koalition zu formieren.

Der SP-Flügel um die Gewerkschaften und den Staats- und Repressionsapparat könnte sich sogar damit anfreunden, doch der liberale städtische Mittelstand nicht. Dessen Mantra der letzten 25 Jahre war der Ausschluss der FPÖ und damit die sich daraus ergebende Unterordnung unter die ÖVP. Sie selbst und der Medienapparat bezeichnet das gerne als linken Flügel. Eine Spaltung der Partei würde drohen, zumal die SPÖ als Juniorpartner in ein gemeinsames Kabinett müsste. Die Variante bleibt also unwahrscheinlich. Doch allein der Versuch der plebejischen Einheitsfront von rechts würde der FPÖ weitere Unterstützung von unten bringen.

Wahrscheinlicher ist letztlich eine schwarz-blaue Raiffeisen-Regierung in Tradition Schüssels, so wie sie bereits in Oberösterreich am Werken ist, allerdings mit Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse. Zu erwarten sind die Fortsetzung des Neoliberalismus, kombiniert mit kulturchauvinistischer Symbolpolitik und autoritärer Umbau – alles in voller Kontinuität zum bestehenden Regime.

Eigentlich keine schlechte Konstellation, um den Rechtspopulismus zu entzaubern – würde man meinen. Die Haider-Partei musste damals nach nur wenigen Jahren Regierung ums Überleben bangen.

Doch das Problem ist die zu erwartende mistige Anti-Schwarz-Blau-Opposition, die einen auf Antifa macht und zu nichts Anderen dient, als das alte Regime zurückzuholen. Statt das Sozioökonomische in den Vordergrund zu rücken und sowohl politisch als auch symbolisch gegen die neoliberalen Institutionen zu richten, einschließlich der EU, sehen sie die Globalisierung als Schutz vor dem drohenden Nationalismus und Faschismus an.

Ohne eine echte soziale und demokratische Systemopposition, die den Bruch mit dem neoliberalen Regime in Österreich wie der EU sich zum Ziel setzt und sich die Volkssouveränität im Rahmen des Nationalstaates gegen die Globalisierung auf die Fahnen schreibt, kann der jämmerlichen österreichischen Dichotomie aus neoliberalem EU-Regime von SP/VP/Grünen und identitärem Rechtspopulismus der FPÖ nichts entgegengesetzt werden.

Chancen des italienischen Nein

von Wilhelm Langthaler

 

Es war abermals ein Klassenvotum. Die Unterschichten und die Arbeiterschaft sowieso, aber auch weite Teile des Mittelstands haben Renzi abgewählt. Aber anders als beim Brexit wollte gerade die Jugend den neoliberalen Bonaparte losbekommen, genauso wie die präkarisierten Gebildeten. Im armen Mezzogiorno gab es überhaupt eine Zweidrittelmehrheit, auf den Inseln Sizilien und Sardinien über 70% No.

Umso interessanter ist es zu verstehen, wer Renzi verteidigte: Soziologisch (demografisch?)besehen sind es die Pensionisten, die überwiegend Si sagten – so viel zum „Modernisierer“. Regional sind es die roten Hochburgen Toskana und Emilia Romagna, wo nicht nur die klientelistischen Netzwerke der Partito Democratico wirken, sondern wo auch die soziale Katastrophe durch die Reste des Sozialstaates noch gedämpft werden. Gegenfolie ist Venetien, Region der gefeierten, neoliberalen, entgewerkschafteten, hochspezialisierten Kleinindustrie, die von der Krise schwer angeschlagen ist. Dort stimmten 62% mit Nein. Die Zentren der Großindustrie Lombardei und Piemont votierten mit ca. 55% gegen Renzi, deren reiche Stadtbezirke oft sogar mit Si. Die mit Abstand meisten Befürworter hat Renzi in Südtirol, nicht nur wegen der hohen Einkommen, sondern auch weil Renzi im Gegenzug zur parlamentarischen Unterstützung der Abgeordneten der Region dessen autonomen Sonderstatus nicht anzutasten versprach.

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Entzauberung des Elitenpopulismus

Wenn in den hiesigen Medien im Zusammenhang mit Italien vom Populismus die Rede ist, meint man den Schuldigen benennen zu können. Doch das eigentliche populistische Projekt repräsentiert Renzi selbst, nämlich als letzter Retter des zerfallenden politischen Systems. Er trat mit einem modernistischen neoliberalen Narrativ an und sprach insbesondere die entpolitisierte Jugend an. Er feierte sich als Rottamatore, als Verschrotter des alten Systems, das von Korruption und klientelistischen Privilegien geprägt sei. Tatsächlich setzte er mit dem „Jobs act“ eine ultraliberale Arbeitsmarkt-Konterreform durch, die die Löhne weiter senkte und die Arbeitslosigkeit erhöhte – ganz nach den Rezepten der EU-Institutionen. Doch sein Meisterstück war die Verfassungsreform. In der Propaganda schoss er sich auf den Senat ein, der mit so bizarren Einrichtungen wie den Senatoren auf Lebenszeit verbunden wird. Er warb gegen Politikerprivilegien und für die Verbilligung des parlamentarischen Systems. Tatsächlich ging es jedoch darum einen De-facto-Präsidentialismus ohne institutionelles Gegengewicht zu etablieren (daher die Entmachtung des Senats, der zweiten Parlamentskammer). Das Ergebnis wäre schlimmer als in den USA gewesen, in Europa nur mit Frankreich vergleichbar. Alles war auf seine Person zugeschnitten. En passant sollten gleich die Unterordnung unter die neoliberalen Vorgaben der EU verankert und die sozialistischen Elemente der Verfassung getilgt werden.

Im Rausch des Erfolgs verknüpfte Renzi sein Krönungsstatut in verständlicher Logik mit seiner Person. Doch sehr schnell wandelte sich die fast notwendige Personalisierung in einen enormen Hebel gegen sein populistisch geschminktes neoliberales Diktat – hauptsächlich, weil sich die soziale Situation der der Bevölkerungsmehrheit immer weiter verschlechterte.

In der verzweifelten Endphase des Wahlkampfes sah sich Renzi gezwungen soziale Elemente seiner Gegner demagogisch einzubauen. So spielte er sich als standhafter Verteidiger Italiens gegen Merkel und Junker auf, um letztlich ein paar Promillepunkte höheres Budgetdefizit zugestanden zu bekommen. Er versuchte als Retter der nationalen Souveränität zu posieren und die Realität in abstruser Weise auf den Kopf zu stellen: dass nämlich ein NO die Rückkehr der alten Bürokraten (seiner eigenen Partei) und ihre Unterordnung unter Brüssel bedeuten würde. Doch das nahm ihm niemand mehr ab.

 

Verfassungspatriotismus: die Wiederentdeckung des Sozialen

Es ist bekannt, dass die Bewegung Fünf Sterne (M5S) die Kampagne für das Nein anführte, ja deren Motor war. Die Lega Nord schloss sich unverzüglich an. Die Linke außerhalb der PD (Partido Demokratico) blieb zögerlich, sah sich jedoch gezwungen schließlich auf den Zug aufzuspringen. Als der von Renzi gestürzte Chef des PD-Parteiapparats Bersani sich dann auch für das Nein aussprach, musste das als Zeichen gelesen werden, dass die Massenstimmung selbst in der herrschenden Oligarchie so spürbar geworden war, dass sie als Werkzeug der Machtintrigen benutzt werden konnte. Als dann selbst der ultraliberale Ex-Premier Monti von Gnaden der EU-Kommission das Ja verweigerte, war es um Renzi geschehen. Monti kritisierte vor allem das Referendum selbst. Quintessenz: notwendige Entscheidungen müssten allein von der Oligarchie getroffen werden und man dürfe sich nicht durch Plebiszite gefährden. Die einzige parlamentarische Kraft, die schwieg, war die Berlusconi-Gruppe. Denn Renzi war auch sein Kind. Hinter Renzi blieb nur die Großindustrie, die EU, Merkel und Obama. Zu guter Letzt erwies sogar noch Schäuble dem Möchtegern-Präsidenten seinen Bärendienst.

Doch um die Bedeutung des Neins zu verstehen, muss sich der Blick über das enge parlamentarische politische Spiel hinaus richten, in das eine große Mehrheit kein Vertrauen mehr hat. Sehen wir uns die Zivilgesellschaft im ursprünglichen Gramsci’schen Sinn an, nämlich als nicht direkt staatlich-repressiv organisierte Vermittlungsinstitution der Macht der sozialen Eliten:

Während der Medienapparat praktisch geschlossen für das Si schrieb und berichtete, entwickelte sich auf der anderen Seite eine richtiggehende politische Bewegung in Verteidigung der Verfassung, die erhebliche Breite und Selbständigkeit aufweist. Die Fünf Sterne sind zur Führung dieser Strömung weder fähig noch gewillt. Sie handeln praktisch immer unilateral und sind zu keinen Bündnissen bereit. Vor allem im Zentrum des Landes entstanden viele unabhängige Nein-Komitees, die sich auch aus der Kultur der Linken speisten. Ihr Handlungsspektrum reichte von Straßenaktionen, über Diskussionsveranstaltungen bis hin zu öffentlichen Stellungsnahmen von Rechtsanwälten, Juristen sowie Partisanenverbänden – also tief in bisher von der PD kontrolliertes Terrain hinein.

Neben dem Wahlrecht und dem Zweikammernsystem rückten in einer breiten Öffentlichkeit auch tiefgreifende historische Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung ins Zentrum der Aufmerksamkeit: Die aus der Periode unmittelbar nach dem Krieg stammende Verfassung weist der Arbeit die zentrale Stellung in der Gesellschaft zu. Arbeit ist ein jedem zustehendes Recht und Vollbeschäftigung ein explizites Ziel (§4). Das Soziale steht im Allgemeinen über dem Eigentum. Damit passt sie wie die Faust aufs Auge der neoliberalen Konterreform, die nicht nur Eigentumsrechte über formale Demokratie und soziale und kollektive Rechte stellt, sondern in Form der „Schuldenbremse“ die Austerität sogar verfassungsmäßig festschreiben will. Entsprechend finden sich in der Neufassung auch typische Kodewörter wie Kosteneffizienz oder Förderung der Konkurrenz. Oder in Merkels euphemistischer Diktion: es geht um die marktkonforme Demokratie. In der Referendumskampagne wurde somit totes Wort wieder zu Leben erweckt. Viele Menschen wurden sich bewusst, dass die italienische Verfassung im offenen Gegensatz zu den Regeln des Euro, der EU und dem globalen Freihandelsregime im Allgemeinen steht.

Die italienische Verfassung ist dazu noch stark von der antifaschistischen Partisanen-Tradition geprägt. Diese bezog sich auf die italienische Nation und richtete sie gegen die deutsche – im Ansatz auch gegen die amerikanische Besatzung, während sie die faschistische und reaktionär-chauvinistische Interpretation in den Hintergrund drängte. Daraus ergeben sich heute Anknüpfungspunkte gegen die Globalisierung und insbesondere das neoliberale suprastaatliche Gefüge der EU.

Zusammengedacht ergibt sich daraus ein linksdemokratischer und sozialer Souveränismus. Damit ist der Versuch Renzis, die protosozialistische italienische Verfassung mit dem Filz und der Kultur der Ersten Republik, im Ausland versinnbildlicht durch das unsäglichen Muppet-Show-Paar Craxi & Andreotti, zu assoziieren, nach hinten losgegangen.

Auch die Rechte hat sich ein Stück weit auf neolinkes Territorium begeben müssen. Sie konnte die klassischen linken Argumente gegen Autoritarismus und für soziale Gerechtigkeit nicht gänzlich in Xenophobie und Chauvinismus ertränken. Das ist wichtig, denn die hiesige Medienkampagne versucht das Nein-Lager und auch die Cinque Stelle gerne ins rechte Eck zu rücken und mit Front National oder FPÖ in einen Topf zu werfen.

Die verfassungspatriotische Bewegung oder ihr politisches Sediment könnte dabei helfen, dass „Piraten-artige“ Internet-Sektierertum der Fünf Sterne abzuschleifen und aufzuweichen – auch weil die Verteidiger der Verfassung mehr eine Strömung oder gar eine Stimmung sind, aber keine parteiförmige, bei Wahlen konkurrierende Formation darstellen. Die Grillini bleiben der Dreh- und Angelpunkt jeder substantiellen politischen Änderung weg vom neoliberalen Elitenregime, zumindest in der näheren Zukunft.

 

Das Wahlrecht und der Machterhalt der Oligarchie

Nach der schweren Niederlage Renzis und seines Rücktritts konzentriert sich die Auseinandersetzung auf das Wahlrecht. Denn früher oder später werden Wahlen stattfinden müssen und es steht so gut wie fest, dass die M5S die meisten Stimmen wird auf sich vereinigen können – aber gleichzeitig von der absoluten Mehrheit weit entfernt bleibt.

Seit den 1990er Jahren geht es darum, dass Wahlrecht zugunsten der Oligarchie zu gestalten und so deren wackelige Herrschaft autoritär zu panzern, ohne einen demokratischen Anspruch aufgeben zu müssen. Mit dem Mehrheitswahlrecht wurde 1993 das Ende der Ersten Republik eingeläutet (Mani pulite, Tangentopoli). Daran schlossen Berlusconi (Porcellum) und Renzi (Italicum) in ihrer jeweils spezifischen Art daran an, für sich selbst die Hauptrolle zu sichern. Das führte angesichts der sozialen Dauerkrise immer wieder zu Gegenschlägen der unterlegenen Kontrahenten innerhalb der Oligarchie, so auch jetzt wieder.

Derzeit gibt es zwei Lager: Einerseits der alte Parteiapparat der PD, Berlusconi, der Präsident Mattarella und scheinbar auch die Mehrheit der Oligarchie, die eine „technische“ Regierung bilden wollen und Wahlen möglichst hinauszuzögern versuchen. Leider vertritt auch Stefano Fassina, der ehemalige Vizefinanzminister unter Letta, der heute mutig eine Anti-Euro-Position einnimmt, mit seiner Sinistra Italiana diese Position. Er erhofft sich taktizistisch von einem parlamentarischen Kompromiss eine für ihn günstige Nische im Wahlrecht.

Die Renzi-Regierung selbst war ja bereits nicht aus Neuwahlen hervorgegangen, sondern setzte nach der Palastrevolte gegen die Regierung Letta mit dem bestehenden Parlament fort. Einen solchen Coup will man nun wiederholen. Eine verlängerte Übergangsregierung soll erstens ein genehmes Wahlrecht basteln und zweitens die unpopuläre Bankenrettung durchsetzen sowie die von der EU vorgeschriebene Austerität fortsetzen. Vorzugsweise soll daran auch Renzi beteiligt werden, der damit gänzlich verbraucht werden würde.

Aber so leicht wird es Renzi seinen Feinden in der eigenen Partei nicht machen. Er betreibt eine Art Vorwärtsverteidigung und hat sich der Forderung der Fünf Sterne und der Lega Nord nach baldigen Neuwahlen angeschlossen. Damit meint er, das retten zu können was zu retten ist. Wer will sich nicht in Geiselhaft seines PD-Apparats begeben müssen. Man darf Renzi noch nicht als tot erklären, denn er hat das Zeug für allerlei populistisches Verwirrspiel. Diese gegensätzliche Koalition der Neuwahlbetreiber ist das zweite Lager.

Nächstes Wort hat am 24. Januar der Verfassungsgerichtshof, der über das derzeit bestehende Wahlrecht Italicum entscheidet. In der Logik vergangener Urteile liegt, dass die Stichwahl fällt und die Mehrheitsprämie herabgesenkt werden wird. Andererseits sind die Höchstrichter natürlich auch Teil der Machtelite und werden versuchen möglichst Hürden gegen Grillos Partei zu erhalten.

Aber es gibt noch eine Möglichkeit. Um einem für die Grillini günstigen Urteil der Verfassungsrichter zuvorzukommen, könnte ein „Technokraten“-Kabinett im Eiltempo ein Anti-Cinque-Stelle-Wahlrecht verabschieden. Für den Fall eines solchen Coups hat Grillo mit Massenmobilisierung gedroht.

Ohne auf die Details der Wahlrechtsdebatte einzugehen, geht es um folgende Elemente: Mehrheits- versus Verhältniswahlrecht. Die Höhe der Prämie für den Erstplatzierten. Das Verhältnis von Parteien zu Parteienverbindungen. Die Einteilung der Wahlkreise. Die Beziehung der zwei Kammern, des Abgeordnetenhauses und des Senats, zu einander. (All das verdiente eine gesonderte Betrachtung.)

 

Die Chancen: Fünf Sterne, latente Revolte, Souveränismus

Vehikel jedes substanziellen Wandels ist die unaufhaltsam wachsende Oppositionspartei Cinque Stelle. Ihre Stärken und Schwächen beschreiben nicht nur die Partei selbst, sondern bis zu einem gewissen Grad auch die Widersprüchlichkeit ihres Milieus und der Opposition der Subalternen überhaupt.

Ihr politisches Programm im engeren Sinn ist wenig ausgearbeitet. Es richtet sich gegen die Eliten, gegen Korruption, für direkte Demokratie unter starker Verwendung des Internets und der sozialen Medien. Ökonomisch spricht es dem Staat eine größere Rolle zu, betont die Wichtigkeit der öffentlichen Leistungen und tendiert zu stärkerer Regulierung. Grillo selbst hat sich zuletzt gegen den Euro ausgesprochen und fordert eine diesbezügliche Volksabstimmung, will das aber nicht als antieuropäische Haltung verstanden wissen. Er tritt für die Begrenzung der Migration ein, allerdings ohne chauvinistische Töne. Hinzu kommt ein Kulturliberalismus wie beispielsweise die Befürwortung der Home-Ehe. Mit Rechtspopulismus, wie man die Fünf Sterne hierzulande gerne zu verunglimpfen versucht, hat das also wenig zu tun, auch wenn hinter der dominanten Führungsfigur eine große Heterogenität zum Ausdruck kommt.

Vielmehr könnte man von sozialdemokratischen bis kulturkritischen Mittelklasse-Konzeptionen sprechen, die bisweilen ins Utopisch-illusorische reichen. Das drückt sich auch im modus operandi aus: Da ist ein sehr starker Elektoralismus und prinzipieller Respekt vor den Institutionen. Die Kehrseite dessen ist der untergeordnete Stellenwert von Massenmobilisierungen, von systematischer Basisarbeit und von den Institutionen selbst in Frage stellenden Brüchen im Denken und Handeln der Grillini. Entsprechend gibt es auch wenig Parteiorganisation, kaum Kader und Aktivisten, keine demokratischen Versammlungen. Das alles ersetzende Zauberwort heißt Internet als prozeduraler Modus und als Medium. So wird auch verständlich, warum sie zu keinen Koalitionen und einschließenden breiteren Initiativen fähig sind. Diese Selbstgenügsamkeit hat den Vorteil sie gegen die Oligarchie abzuschotten, die schon mehrere Verführungsversuche unternommen hat. Auf der anderen Seite macht es aber auch nach links hin die Kooperation sehr schwer bis unmöglich.

Strategische Aufgabe ist es, die M5S in eine breitere Oppositionsfront zu bringen und den Bruch mit der Oligarchie und dem mit ihr verbundenen Euro-Regime vorbereitet – und zwar auf der Basis eines demokratischen und sozialen Souveränismus. Man kann nicht damit rechnen, dass den Grillini die Macht über das parlamentarische System in die Hand fällt. Die Eliten werden es nicht nur verstehen ausreichende Hürden beizubehalten oder gar neu zu errichten, sondern die Cinque Stelle sind auch weit davon entfernt die absolute Mehrheit hinter sich zu haben. Sie brauchen Bündnisse inner- und außerhalb des Parlaments.

Es gibt eine vielsagende Anekdote: Nachdem sich die Eliten am 20. April 2013 auf keinen neuen Präsidenten einigen konnten und den alten Amtsinhaber Neapolitano für eine zweite Amtszeit vereidigten, rief Grillo spontan gegen den kalten Putsch zu einem Marsch auf Rom. Die Vorstädte sollen sich bereits in Bewegung gesetzt haben und die Piazza Montecitorio (der Sitz der Abgeordnetenkammer) füllte sich. Doch plötzlich blies Grillo zum Rückzug. Gerüchte sagen, dass ihn die Polizei vor der Unkontrollierbarkeit einer solchen Protestbewegung gewarnt haben soll. Wie dem auch immer sei, die politische Moral von der Geschichte ist, dass es einerseits sowas wie eine latente Revolte der Unterschichten gibt, andererseits Grillo und seine Partei Angst oder großen Respekt vor dieser hat.

Warum gibt es dann keine signifikante soziale Bewegung? Die Tiefe der sozialen Krise macht Arbeitskämpfe in traditionellen Formen wie Streiks und Demonstrationen aussichtslos. Der klassische linke Aktivismus befindet sich im freien Fall. Für die breite Masse gibt es nur eine allgemeine, politische Lösung und die heißt Cinque Stelle. Doch das heißt nicht, dass die Partei ihre Wählerbasis kontrollieren würde oder über ein freies Mandat verfügte. Es gibt ihr gegenüber massive Erwartungen. Wenn sie ihren Versprechungen zuwiderhandeln oder diese nicht erfüllen können, könnte es auch zu schnellen Abwendungen oder auch unerwarteten Entwicklungen kommen. Als die neugewählte Römer Bürgermeisterin Virginia Raggi für die Schlüsselpositionen der Stadtregierung Figuren des alten Establishments nominierte, die in der Folge eine De-facto-Sabotagehaltung einnahmen, musste Grillo persönlich einschreiten und jene wieder entfernen. Nur so vermochte er es eine interne Rebellion abzuwenden.

Auch im unmittelbar bevorstehenden Konflikt um das Wahlrecht und um Neuwahlen bedarf es nur eines Funkens, um die Straßen zu füllen. Grillo hat die Zünder in der Hand. Doch ob er damit etwas anzufangen und die Dynamik eines solchen Schrittes zu steuern weiß?

Die sich nach dem Nein ergebene neue politische Phase eröffnet bisher nicht gekannte Möglichkeiten. Ein potentieller Oppositionsblock um die M5S ist nur mehr wenige Schritte von der politischen Macht entfernt. Doch um diese zu erreichen, muss sie sich transformieren und entwickeln. Es bedarf einer breiten sozio-politischen Allianz mit einem vielen klareren Programm des Bruchs: Entmachtung der Oligarchie; Bruch mit dem Euro, dem Binnenmarkt, der Globalisierung und zurück zur nationalen Souveränität; keynesianische staatliche Eingriffe in die Wirtschaft im Sinne von Vollbeschäftigung und Verteilungsgerechtigkeit; Wiederherstellung der sozialen Verfassung und der demokratischen Beteiligung der Mehrheit. Und es bedarf der Mobilisierung, Politisierung und Aktivierung der breiten Massen. Denn ohne deren Druck wird ein solcher Konflikt mit den herrschenden Eliten weder führbar, geschweige denn gewinnbar sein. Zudem sind die Cinque Stelle keine einheitliche Bewegung. Im Zuge eines solchen historischen Zusammenstoßes mit der Oligarchie wird sie wohl auch einen kompromissbereiten Flügel herausbilden, der auf den Spuren Tsipras wandeln könnte. Auf der anderen Seite befindet sich ein radikaler linkssouveränistischer Pol in der Entstehungsphase.

Die historische Linke Italiens indes spielt in diesem Prozess kaum eine Rolle. Sie befindet sich im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung noch immer in der europäistischen Blase und im De-facto-Schlepptau der PD.

 

Der Beitrag wurde erschient auf makroskop.eu.

PLEBEISCHER PROTEST: Was hat der Bauernkrieg mit der Anti-EU-Bewegung zu tun?

1850: Die bürgerliche Revolution in Wien, Paris und in Deutschland war niedergeschlagen. Die Truppen der Reaktion hatten das Frankfurter Professoren-Parlament ebenso nach Hause geschickt, wie den Wien-Kremsierer Reichstag. Die meisten der konsequenten Protagonisten hatten sich gerettet. Sie waren z. B. in die USA geflohen. Da fiel dem jungen Engels, der selbst einem revolutionären Freikorps beigetreten war, ein dickes Buch in die Hände. Wilhelm Zimmermann, einer der bürgerlichen Linken von Frankfurt, hatte den „Deutschen Bauernkrieg“ dargestellt. Engels begann Parallelen zu ziehen zwischen dem damaligen Geschehen und seiner Gegenwart. Die Revolution von 1848 war an der Unentschlossenheit der Bürger gescheitert, ebenso wie sich 1525 die Bürger letztlich mit den Fürsten, Bischöfen und Äbten verbunden hatte, als es hart auf hart ging. Engels zog seine Schlüsse: Das Proletariat kann sich nur auf sich selbst verlassen. Wenn es solche Katastrophen vermeiden will, muss es konsequent seine Ziele verfolgen.

Aber wer oder was ist das Proletariat?

Die Unterschichten und die unteren Mittelschichten heute wenden sich gegen die Brüsseler Vernunft der Eliten, Oberen Mittelschichten und Intellektuellen. Deren Stabilitäts- und Wachstums-Versprechen haben sie inzwischen am eigenen Leib erlebt. Und die Berlin-Brüsseler Bürokratie ist ganz erstaunt über so viel Unvernunft: Ihr seid gegen den Fortschritt! Die EU ist der Weltgeist in Europa. Die Globalisierung ist unabwendbar. CETA und TTIP sind notwendig für unsere Wohlfahrt! Und wo gehobelt wird, fallen Späne. Wir lassen Euch ohnehin nicht verhungern, geben Euch 850,- Euro Grundversorgung, wenn Ihr brav seid, oder auch Hartz IV. Warum wollt ihr dies nicht endlich einsehen und brav für Renzi und Schäuble stimmen? Und auch die Mehrheitsfraktion der LINKEN nickt zustimmend. Wie auch nicht? Sozialisiert im DDR-Marxismus, hält sie die Sklaverei für einen Fortschritt gegen die Urge­sellschaft, und den bürgerlich-absolutistischen Staat für einen gegenüber dem Feudalismus.

Bleiben wir noch kurz bei den Bauern, den Plebeiern. Als im 19. Jahrhundert Großbürger und Beamte aus Paris das flache Land mit ihren Segnungen der hohen Steuern und des allgemei­nen Militär-Diensts überzogen, da wehrten sie die französischen Bauern gegen diesen Forts­chritt. Sie misstrauten zutiefst den Gaben der städtischen Kultur. Für sie stellten sie nur Mehr­belastungen und intensivierte Ausbeutung dar. Dabei liefen sie einem Messias in die Hände, der ihnen gerade das verstärkt brachte: Napoleon III. war der erste Rechtspopulist.

Als ein halbes Jahrhundert zuvor die Bauern der Vendée und manche andere auch sich gegen gerade diese Segnungen schon geweht hatten, wandten sie sich um Unterstützung ausgerech­net an jene, die bisher ihre extremsten Ausbeuter waren, den Klerus und den Adel. In anderen europäischen Regionen, die in den Krieg gegen die Revolution und Napoleon hinein getrieben worden waren, verlief es vielfach ganz nach demselben Muster. Auch in Österreich gab es eine Vendée. Sie wird in den hiesigen Schulbüchern als Tiroler Freiheitskampf geführt. Spä­ter haben deutschnationale Ideologen einen nationalen Befreiungskrieg daraus gemacht. Das war besonders grotesk – richtete sich der Aufstand doch gegen die Bayern. Wieder warfen sich die Bauern der schwärzesten Reaktion in die Arme, dem Klerus und Habsburg. Und in der Toskana, in Arezzo, verlangte Viva Maria nach dem gütigen Pietro Leopoldo, als Habs­burger Kaiser Leopold II: Überall sehen wir dasselbe Muster: Das städtische Bürgertum behauptete, den Gang der Weltgeschichte zu verkörpern. Das war keineswegs naiv. Das lag in seinem ureigensten Interesse. Und die Bürger wussten ganz genau, dass andere Klassen dafür zu bezahlen hatten. Die Bauern aber wandten sich in ihrer Verzweiflung an die Feinde ihrer Feinde. Sie wurden so zu den Verbündeten der schwärzesten Reaktion.

Als im 15. Jahrhundert die Bauern in Süddeutschland, in der Schweiz, in Kärnten der Steier­mark und in Krain („Windischer Bauernkrieg“) sich gegen die Folgen des frühmodernen Staats-Aufbaus wandten, da wollten sie als Ziel das Alte Recht / Stara Pravda und nicht etwa eine neue Gesellschaft.

 

Großbritannien – Italien – Österreich – Griechenland – Spanien?

„All diese vielen kleinen Aufstände, Unruhen und Streitigkeiten … sind für sich genommen geringfügige örtliche Ereignisse. Erst durch ihre Vielheit erhalten sie Gewicht. So verschie­denartig auch die örtlichen Voraussetzungen sein mögen, überall kämpften die Bauern für das alte Recht gegen die neu aufkommende Staatsgewalt. … Verbote über Verbote, die, so vernünftig sie sein mochten, doch für den einzelnen empfindliche Hemmungen bedeuteten, … eine Vielregiererei, die in alle Verhältnisse eingriff…“

Klingt ziemlich bekannt. – Franz, Günther (1965 [1933]), Der deutsche Bauernkrieg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 19.

Heute sind die Bauern in den hoch entwickelten Ländern weitgehend aus der Geschichte verschwunden. Doch die plebeischen Schichten sind tendenziell sehr breit geworden. Und wieder stellt sich die alte Frage: Stellen sich nicht die Plebeier von M5S oder auch, kulturell eine ganz andere Tradition, die Anhänger des Nigel Farage oder der Marine Le Pen gegen jeden Fortschritt, wenn sie sich, ebenso wie die österreichischen Unterschichten, immer klarer gegen die übernationale Integration, die EU stellen? Immer klarer? Kaum sieht Bepe Grillo die Möglichkeit eines Wahlsiegs am Horizont, ist seine Opposition gegen das betrügerische italienische Wahlrecht schon nicht mehr gegeben. Die Stellung gegen Euro und EU war ohnehin nie so ganz eindeutig. Als künftige Ministerpräsidenten einer Grillini-Regierung werden in den Zeitungen zwei Abgeordnete genannt (Luigi di Maio und Alessandro di Battista), die ein klare Anti-EU-Politik vermutlich nicht verfolgen würden, weil sie vor allem schnell zum politischen Establishment zählen möchten.

Aber ist denn nicht ganz vernünftig, sich dem Fortschritt größerer Integration nicht zu verschließen? Kann man gegen das eherne Gesetz des historischen Fortschritts auftreten?

Die Grundfrage ist: Kann man auf einem plebeischen Schichtverband eine revolutionäre, oder auch nur eine transformistische Strategie aufbauen? Die Antwort lautet nüchtern: Entweder man schafft es; oder aber man muss jede Ambition begraben, diese Gesellschaft in Richtung Demokratie und Gleichheit umzubauen. In gewisser Weise ist die Frage auch ein Scheinprob­lem. Der spätmarxistische Mythos vom Proletariat verdeckt nämlich zwei essenzielle Punkte. „Proletariat“ war in der sozialen Wirklichkeit stets ein plebeischer Schichtverbund. Politisch aber war „Proletariat“ in der Hochzeit der Arbeiter-Bewegung ein Verbund, in welchem Intel­lektuelle auf sehr autoritäre Weise eine zahlreiche plebeische Gefolgschaft kommandierten. Das galt für die Sozialdemokratie, und wir können dies nachvollziehen an der tiefen Enttäu­schung mancher Linker über die autoritären Strukturen der Sozialdemokratie, in Österreich wie in Deutschland. Aber es galt ebenso für die Bolschewiki. Der Verbund von Intellektuellen und Volksschichten ist unabdingbar. Es kommt nur darauf an, wer wen kontrolliert.

Die Entwicklung von Macht und Herrschaft ist solange ein Naturgesetz, solange sich keine organisierte Kraft, keine Gegenmacht dem entgegen stellt. Das gilt geradezu definitorisch. Woher beziehen die Eliten ihre Macht, vor allem in Gesellschaften der Gegenwart? Sie haben sich in effizientester Weise organisiert und diese Organisation, ihre Netzwerke auf die gesam­te Gesellschaft ausgedehnt. Sie beherrschen dabei vor allem auch die Hegemonie-Apparate, die Schulen, die Medien, die akademischen Institutionen. Das sind die wichtigsten Organisa­tionen, welche die Ausbeutung und Unterdrückung absichern und rechtfertigen. Dabei spielt das Vokabel „Fortschritt“ stets eine ganz zentrale Rolle. Wenn aber eine Gegen-Organisation sich damit zufrieden gibt, dass die Ausbeutung nur nach altem Muster abläuft, dass Ausbeut­ung eben ein bisschen milder sein soll, ist ihr Scheitern schon angelegt. Das „sozialdemokrati­sche“ 20. Jahrhundert war kurzfristig ein Riesen-Erfolg reformistischer Strategie. Es war längerfristig die akute Niederlage der Unterschichten, wie die neoliberale Politik der Gesell­schaftsspaltung zeigt. Das ist das notwendige Ergebnis, wenn man sich mit „ein Bisschen“ zufrieden geben will.

Die plebeische Bewegung gegen die EU in ganz Europa ist immer noch sehr zaghaft. Aus der Eurozone ausscheiden? Lieber doch nicht. Man droht uns doch mit geringerem Wachstum und sonstigem Ungemach. Aus der EU austreten? Oh Gott, das wollen wir nicht – lieber gemeinsam statt einsam. Kommt uns das nicht recht bekannt vor, wenn heute naive (?) Unzufriedene ein soziales Europa möchten und ausgerechnet die EU das sein soll?

Genau hier liegt der Unterschied zwischen Revolutionen und Rebellionen. Rebellionen scheitern und haben meist eine schlimmere Situation zur Folge, als sie vorher gegeben war. Beispiel gefällig? Sehen wir nach Griechenland!

Den Bauernkrieg hier heranzuziehen, mag wie die Marotte eines ältlichen Sozialwissenschaf­ters klingen. Aber es war kein Zufall, dass der junge Engels diese Tradition einführte. Als Linke stellen wir uns bewusst in sie hinein. Heute ist es ja schon ein politischer Akt, Engels oder gar Marx zu zitieren oder positiv zu nennen. Aber es ist diese Tradition, die uns hilft, die Situation zu reflektieren. Und die Parallele der heutigen Plebeier und ihrer Illusionen zu den bäuerlichen Plebeiern vor einem halben Jahrtausend ist sprechend. Ja, wir stellen uns gegen diese Art von Fortschritt! Sie meint, Produktivität und Entfaltung nur über den Umweg von mehr Unterdrückung und Ausbeutung gewinnen zu können. Das ist die berüchtigte Trickle down-These: Den Eliten muss es sehr viel besser gehen, damit auch unten einige Brosamen ankommen.

Diesmal wenden wir die Sache eben politisch: Der Fortschritt der Menschheit geht nur über den immer größeren und immer autoritäreren Staat, so hämmert man uns Tag für Tag ein: erst die EU und dann der ultimative Große Bruder, der Weltstaat.

Aber Ihr schlagt doch die Rückkehr zur nationalen Souveränität vor. Ihr seid Nationalisten!

Wir müssen es uns im Ernst überlegen: Ist das nicht das Rufen nach dem Alten Recht, an der schon so viele Rebellionen gescheitert sind? Wollen wir zurück zu einer überholten Gesellschafts- und Staatsstruktur?

Nehmen wir den Einwand als Stimulus! Wir müssen wirklich über solche Fragen nachdenken. Was ist also unsere Idee?

Der Nationalstaat, der formell noch besteht, besitzt einen gegebenen institutionellen Rahmen. Der ist bekannt und vorstellbar und hat sich eine historisch kurze Zeit lang bewährt. Nun wollen wir eine Re-Demokratisierung, gegen die Tendenzen der Eliten. Dafür brauchen wir einen solchen vorläufigen Rahmen. Unsere Idee ist also keineswegs, dass der Nationalstaat der makellose nicht veränderbare Rahmen ist. Aber im Kampf gegen den fortschreitenden Demokratie- und Wohlfahrtsabbau durch die EU brauchen wir einen Neustart. Auf diesen neu-alten Ausgangspunkt können wir uns in einer breiten Koalition einigen.

Wir von der Linken wollen aber nicht auf den alten Umständen sitzen bleiben. Trotzdem sind der Nationalstaat und die Renationalisierung jetzt ein strategisches Ziel. Über das dann fol­gende zuerst nationale und dann ernsthaft internationale Projekt werden wir uns auseinander setzen, wenn es aktuell ist, wenn es soweit ist. Die Eliten wollen uns in einen Streit hinein hetzen, der uns spaltet. Das würde ihnen eine Garantie bieten, dass wir das strategische Zwischenziel nicht erreichen. Denn das ist mehrheitsfähig.

Der folgende politische Konflikt muss dann ausgetragen werden, wenn es sinnvoll ist, wenn das erste Ziel erreicht ist. Die politische Debatte mit all ihren Widersprüchen kommt bald genug. Wir müssen sie nicht jetzt forcieren, wo sie die Massen nur spaltet. Wenn das vorher in den Mittelpunkt rückt, stiftet dies nur Verwirrung und ist eine Behinderung.

Das strategische Zwischenziel ist die nationale Selbstbestimmung. Das ist nicht eine taktische Frage. Darüber können wir mit einer Mehrheit der Bevölkerung auch heute bereits überein stimmen. Auf dieser Grundlage beginnt die Politik für die Zukunft neu.

Albert F. Reiterer – 9. Dezember 2016

Oben und unten bei der Präsidentenwahl … und nichts davon wählbar.

Wenn man in die liberale Mittelschicht, die „Gebildeten“ und „Aufgeklärten“, hineinhört – etwa an den Universitäten – dann spürt man eine Weltuntergangsstimmung: Brexit, Trump und nun vielleicht bei uns Norbert Hofer und dann HC Strache. An den Elfenbeinturm der Wenigen, die noch ihre individuelle Freiheit in Berufs- und Alltagsleben ausleben können, schlägt die Brandung einer um sich greifenden Unzufriedenheit, die mittlerweile Mehrheiten von den etablierten Parteien des Systems abfallen lässt. Diese Polarisierung versinnbildlichen auch die österreichischen Präsidentschaftskandidaten: der grüne Professor Van der Bellen ist Symbol für Intellektualität und Liberalismus, der blaue Hofer Repräsentant des Wutbürgers. Sozial ist Van der Bellen das Liebkind von allen mit Mittelschulbildung aufwärts, Hofer von jenen mit Pflichtschule abwärts.

Die Gebildeten mögen einwenden, dass doch liberale Freiheiten und Demokratie Errungenschaften für alle seien. Nun meine Lieben: früher hatten sich Euresgleichen noch dafür aufgeopfert, dass die schmutzige Unterschicht einmal die Chance bekommt, sich frei und demokratisch selbst zu bestimmen und nicht nur die sozial Bessergestellten. Heute ist euer Ruf nach Panzerung des Systems nicht mehr zu überhören. Darum die Liebe zu Van der Bellen, der einer Partei (FPÖ), die angeblich mit dem EU-Austritt liebäugelt, nicht die Kanzlerschaft geben würde, auch wenn sie die Wahlen gewinnt. Die demokratischen Werte sind ins Gegenteil verkehrt: zu ihrer Verteidigung wird die Demokratie zugunsten des Zensus der Gebildeten abgeschafft. Wenn es um die EU geht, würde der ruhige Professor wohl schon von seiner Position als Oberbefehlshaber des Bundesheers Gebrauch machen, um die den Kanzler fordernden FP-Wähler von der Straße zu fegen. Ist man sich da eigentlich bewusst, dass so ein Szenario (Nicht-Angelobung eines HC Strache mit fast 10 % Stimmenvorsprung; Öxit-Hysterie aus Brüssel) ein Spiel mit dem Feuer und ein Bärendienst an der FPÖ ist?

Der Hofer wählende Wutbürger wiederum wird fragt, was denn gegen die FPÖ einzuwenden sei, spreche sie doch offenbar die Sorgen der Mehrheit an. Leider sind diese Sorgen nun einmal ein chauvinistisch überprägtes Empfinden, dass man aus dem bröckelnden klassenübergreifenden Haus der westlichen Mittelschichtgesellschaft in ein neues Unterklassendasein hinausgeworfen wird. Der reale und/oder bevorstehende soziale Abstieg hat noch kaum neues Klassenbewusstsein mit neuer politischer und kultureller Identität hervorgebracht, das in die Lage versetzt, zwischen Profiteuren aus der globalisierten Elite und Opfern der Globalisierung zu unterscheiden. Und diese Blindheit der Unterschicht bestärken die erneuerten Altrechten mit ihrer Ausländerfeindlichkeit natürlich. (Die Rauschers, Ortners und anderen Kommentatoren der liberalen Presse sollten sich übrigens über diese Stimmung am wenigsten wundern: sie haben ja seit fast zwei Jahrzehnte die Verteidigung „unserer“ Werte gegen die rückständigen, demokratieunfähigen Moslems gepredigt. Heute ernten sie ihre Saat.)

Die wichtigste Tatsache aber bleibt: Van der Bellen ist der Kandidat jener (nationalen und supra-nationalen) Eliten, die den Weg in die gesellschaftliche Sackgasse anführen, in die uns das neoliberale (Euro-)Regime gebracht hat: Zerstörte sozialstaatliche Sicherheitsnetze, aufgekündigte Arbeits- und Pensionsrechte, abgeschaffte demokratische Regulationsmöglichkeiten. Mit der verlängerten Wirtschaftskrise seit 2008 hat die Ideologie, dass dies alles für nachhaltiges Wachstum und Wohlstand nötig sei, heute ihre Glaubwürdigkeit verloren. Das ist die Strömung, auf der der Rechtspopulismus daher schwimmt, aber auch die neuen Alternativen von links, die zumindest in Südeuropa Hoffnung machen.

Natürlich verhindert in Österreich und den anderen Zentrumsländern Europas eine kleine, linke Alternative, die die Wut der Menschen gegen die Eliten ernst nimmt und aufgreift, noch nicht die gegenwärtige Hegemonie der Rechtspopulisten über die Globalisierungsverlierer. Die liegt sozial und ideologisch tiefer begraben. Aber wer versucht die Rechten mit einer Stimme für den Kandidat der Eliten aufzuhalten, der zeigt vor allem seine sozialdarwinistischen Vorurteile, dass ihm das neoliberale Establishment letztlich doch näher steht als dessen Verlierer. Gerade in einer Zeit, wo diesem Establishment die Kontrolle über sein System aus den Händen zu gleiten beginnen, verbaut das mit Sicherheit alle Möglichkeiten auf eine Alternative.

Gernot Bodner (Dozent an der Universität für Bodenkultur; als Verortungshilfe: kulturell fortschrittlich, politisch linksorientiert).

 

Vom Internationalismus des Subalternen zum Globalismus der Eliten

von Wilhelm Langthaler

 

Metamorphosen eines Begriffs und die Notwendigkeit des Kampfes um den Staat

Der Internationalismus stammt historisch klar von der Linken ab und richtete sich dementsprechend gegen die kapitalistischen Eliten, die sich im Gegensatz dazu des Nationalismus bedienten. Allerdings konstatieren wir eine Umdrehung und Adoptierung durch die Herrschenden. Es erscheint daher sinnvoll sich die einzelnen historischen Stufen der Umwandlung nachzuverfolgen Drehung geführt haben. Im Kern ist diese Metamorphose, dieses Auf-den-Kopf-Stellen, auf die Architektur des kapitalistischen Weltsystems selbst zurückzuführen, die sich im vergangenen Jahrhundert grundlegend verändert hat.

Der industrielle Kapitalismus entstand nicht monokristallin, sondern war von heftigen zwischenstaatlichen Spannungen gekennzeichnet, die ihre Kulmination im Weltkrieg fanden. Der spät gekommene deutsche Kapitalismus, der kaum mehr Kolonien und organische Expansionsmöglichkeiten abbekommen hatte, forderte das britische Weltreich mittels Krieg heraus. Die begleitende ideologische Mobilisierung fand auf Basis eines sich immer mehr aufschaukelnden Nationalismus statt, einschließlich eines rassistisch-exterminatorischen Zugs. Was zuvor gegen die Kolonisierten angewandt worden war, richtete sich nun auch wechselseitig gegen die europäischen imperialistischen Nachbarn.

Dagegen stellte die Arbeiterbewegung den Internationalismus: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land“ konzipierte ihr radikaler Flügel als Weg zur sozialen Revolution. Diese gelang erstmals – auch aufgrund der weiterbestehenden innerimperialistischen Gegensätze – und sollte das 20. Jahrhundert prägen.

Die Marxsche Bewegung vom Zentrum in die Peripherie sollte umgekehrt werden und das revolutionäre Russland als Funke für die Weltrevolution einschließlich der Zentren dienen. Die russischen Soldaten hatten die Waffen umgedreht und gegen den Zarismus gerichtet, die deutschen sollten es ihnen gleichtun. Kurz kam die nicht näher spezifizierte Idee der sozialistischen Weltrepublik auf, die jedoch sehr schnell einem globalen, jedoch im nationalen Rahmen ausgefochtenen Stellungskrieg Platz machen sollten. Es blieb unbestritten, dass die Arena dieses Kampfes der Nationalstaat war, so veränderlich dessen Grenzen auch sein mochten und so flexibel Nation zu definieren war. Dabei bildeten international(istische)e Brigaden wie in Spanien und Jugoslawien für die demokratische und soziale Revolution im nationalen Rahmen keinerlei Widerspruch. Internationalismus bedeutete die Verdrängung der kapitalistischen Eliten von der Macht im jeweiligen Staat und die Kooperation mit anderen sozialen und nationalen Befreiungsbewegungen gegen den Imperialismus im Rahmen eines gemeinsamen globalen Projekts der Emanzipation.

Die Konsolidierung der Sowjetunion auf der einen Seite sowie die Unterwerfung Deutschlands unter das Diktat der westlichen Siegermächte auf der anderen führten dazu, dass die Eliten sich der nationalistisch-antikommunistischen Raserei des Nationalsozialismus bedienten. Der deutsche Kapitalismus unternahm den zweiten, noch blutigeren Versuch, die anglosächsische Herrschaft über die Welt durch ihre eigene zu ersetzen.

Der Stalin-Hitler-Pakt kam als totaler Schock für den Internationalismus und veranschaulichte wie sehr die vermeintlich russisch-nationalen Interessen auch in der Sowjetunion die Überhand gewonnen hatten.

Der totale Sieg über die Nazis sowie die außerordentliche Stärkung, die die UdSSR durch ihren entscheidenden Beitrag dazu erfuhren hatte, veranlasste die nun dominante kapitalistische Macht USA zu einem grundlegenden Umbau des Weltsystems. Gegen den neuen Hauptfeind Kommunismus und Sowjetunion sollte der Kapitalismus unter ihrer Herrschaft vereinigt werden. Marshall-Plan statt Versailles, also Eingemeindung statt Unterwerfung der unterlegenen Konkurrenten. So ideologisch konservativ dieses System auch war (McCarthy, Adenauer, etc.) so sehr musste es unter dem Druck der Sowjetunion und der Arbeiterbewegung ungeahnte soziale und demokratische Zugeständnisse machen. Paraxoderweise ermöglichte der Systembipolarismus gleichzeitig das goldene Zeitalter des Kapitalismus.

Es war zugleich auch die höchste Entwicklung der Nationalstaaten. In der UN-Charta und dem Völkerrecht geronnen das neue Kräftegleichgewicht zu einer internationalen Ordnung. Wenn sich die jeweiligen nationalen Eliten der Führungsmacht USA unterordneten, konnten sie mit günstigen Bedingungen rechnen. Verlangten die unteren Klassen soziale und nationale Selbstbestimmung, konnten sie von der UdSSR im Gegenzug zur politischen Unterordnung Unterstützung erwarten. Diese allgemeine Entkolonisierung bedeutete einen enormen Schub in Richtung Emanzipation. Durch die Amalgamierung mit den geopolitischen Interessen im Kalten Krieg bekam der Internationalismus den Beigeschmack eines willfährigen Werkzeugs zur Einmischung.

Unter dem Eindruck der Befreiungsbewegung und in Wechselwirkung mit sozialen Kämpfen entstand ein autonomer, antiimperialistischer Internationalismus in Solidarität mit Vietnam, Nikaragua, Anti-Apartheid usw. Doch das Roll-back setzte unmittelbar ein. Der Zerfall der Ordnung von Bretton Woods führte zu einem massiven Schub der Globalisierung und einen Angriff auf die Errungenschaften der Subalternen. Der Neoliberalismus war geboren. Wo an der Peripherie die Befreiungsbewegungen an die Macht gekommen waren, wandelten sie sich unter dem Druck oft zu Vollstreckern des Washington Consensus, ohne jedoch die äußere Hülle zu ändern, ähnlich der institutionellen Linken im Westen.

Der weitgehende Sieg der kapitalistischen Eliten über die Arbeiter- und Befreiungsbewegungen, die Niederlage des Kommunismus und die Implosion der Sowjetunion ermöglichte die exorbitante Beschleunigung der Globalisierung auf Grundlage der nunmehr monopolaren Weltordnung.

Eine radikale globale soziopolitische Wendung nach rechts wurde ideologisch jedoch von einem Linksschwenk gedeckt. Nun konnte man den Konservativismus, der untrennbar mit dem alten Elitennationalismus verbunden war, entsorgen. Zuvor war man in antikommunistischer Funktion auf dieses noch angewiesen gewesen. (Die Erhebung des Antifa zur deutschen Staatsideologie erfolgte beispielsweise erst Ende der 1980er Jahre.) Der Sieger zeigte sich generös und übernahm von der Linken, war immer zu integrieren war. Alle Grenzen für das Kapital sollten eingerissen werden, der Sozialstaat, die Souveränität der Nationalstaaten mit ihren Regulierungen, das Völkerrecht – alles im Namen des Internationalismus.

Die geschlagene Linke vermochte dem nichts entgegenzusetzen, außer der abstrakten „Globalisierung von unten“. Die etatistischen Konzepte waren gescheitert. Jetzt suchte man das Heil in der „Zivilgesellschaft“ „jenseits des Staates“. Die bösen Geister der Vergangenheit sollten ausgetrieben werden. Laut Negri war das Empire nicht mehr staatlich-territorial, sondern konnte durch einen inneren psychopolitischen Akt emanzipativ gewendet werden. Eigentlich ein genialer ideologisch-kultureller Schachzug, den alten Imperialismus der Starken als Fortschreibung der Aufklärung und der Linken darzustellen. Das antinationale Ideologem im weitesten Sinnen ist in den 1990er Jahren entwickelt worden und blieb bis vor wenigen Jahren hegemonial.

Materieller Hintergrund mag die längste, auf einer Kreditblase aufgebaute Expansionsperiode des Kapitalismus sein, die rund zwei Jahrzehnte andauerte und die globalen Mittelschichten verzauberte. Ein besonderer Aspekt davon ist die chinesische Erfolgsgeschichte. Statt Bauernrevolte war nun der Ritt auf dem Rücken des neoliberalen Tigers angesagt. Auch die Mittelschichten der Peripherien konnten endlich den Kapitalismus umarmen und trotzdem auf Entwicklung hoffen.

Wer indes sehen wollte, konnte den wachsenden Widerstand an der globalen Peripherie betrachten. Die kriegerische und auch kulturalistische Reaktion der Neocons, die den liberal-universalistischen Versprechungen zuwiderliefen, verwiesen auf deren Brüchigkeit. Aber auch die wachsende Armut der Unterschichten in den Zentren selbst wurde sichtbar und zeigte zunehmende Risse in der globalistischen Ideologie an.

Die globalistischen Mittelschichten sind nicht auf das vielbeschworene „eine Prozent“, auf die Gesellschaft von Davos und das WEF der Top-Eliten zu reduzieren. Sondern es handelt sich vielmehr um eine breitere „Golden billion“, die die Gewinner der zunehmenden Ungleichheit sind, die der Sozialstaaten nicht bedürfen und sich ihrer Last entledigen wollen, die fest an den Kapitalismus glauben, die sich in der Weltsprache Englisch ausdrücken, die überall arbeiten und verdienen zu können glauben, die nicht konservativ, sondern liberal sind. Sie repräsentieren die Kultur der Globalisierung. Sie wollen nicht wahrhaben, dass es sich letztlich um eine amerikanisch-nationale Vorherrschaft handelt, denn sie sehen den liberalen Kapitalismus als universale Perspektive für die Welt. Doch mit der Weltwirtschaftskrise und dem permanenten Krieg um die monopolare Weltordnung haben sie die Hegemonie verloren.

Die Europäische Union ist die spezifisch europäische Form der Globalisierung und damit eines ihrer Herzstücke. Ursprünglich war die EG ein antikommunistischer Staatenbund, der jedoch im Sinne von Bretton Woods Umverteilung nach unten sowie die Entwicklung der europäischen Peripherie ermöglichte. Der staatlich organisierte Kapitalismus führte zur bisher nicht gekannten sozialen und politischen Einbindung der unteren Klassen. Es war die Hochzeit nicht nur des Sozialstaats, sondern auch des formaldemokratischen Nationalstaates.

Die supranationale Entwicklung ab den 1980er Jahren hatte die Niederlage der Arbeiterbewegung und der unter ihrem Druck unternommenen linkskeynesianischen Versuche zur Voraussetzung. Der Binnenmarkt war nach seiner Verfassung neoliberal, die verschiedenen Staaten traten zunehmend ihre regulierenden und umverteilenden Kompetenzen ab. Die supranationale Brüsseler Bürokratie, gestützt von den dominanten Staaten, diente und dient dazu, die Herrschaft der stärksten Kapitalgruppen durchzusetzen und das neoliberale Rollback durchzuführen. Ohne die Festlegung auf die Austerität und die deutsche Hartwährungspolitik hätte es keinen Binnenmarkt und keine Abtretung von Kompetenzen der nationalen und vor allem der deutschen Eliten an den supranationalen Parastaat gegeben. Der eigentliche Zweck der supranationalen Zentralisierung war es, die Macht der Eliten der Kontrolle der formaldemokratischen Nationalstaaten, die den Klassenkompromiss der Nachkriegszeit repräsentierten, zu entziehen – versteckt hinter dem vermeintlichen Sachzwang der Globalisierung.

Das Ende des Eisernen Vorhangs brachte nicht nur eine enorme Beschleunigung der Zentralisierung, sondern auch nicht eingeplante Zugeständnisse an die von der Clinton-Ideologie gemachten Versprechungen. Kohls „blühende Landschaften“ suggerierten demokratische und soziale Konvergenz über den gesamten historisch geschundenen und zerrissenen Kontinent bis nach Russland und über das Mittelmeer. Der entfesselte Kapitalismus schien endlich die historischen Versprechungen des Kommunismus einlösen zu können – von daher auch die Idee des Endes der Geschichte.

Dieses Zeitgeistes Kind war die rapide Erweiterung der EU, die die äußerste Peripherie in die gleiche politische Struktur einband wie die reichen Zentrumsstaaten. Krone dieser Entwicklung war der Euro, mit dem Frankreich die nach der Wiedervereinigung zu befürchtenden Großmachtambitionen des Nachbarn zähmen wollte. Die Eliten der Peripherie aber drängten, entgegen den ursprünglichen deutschen Plänen, in die gemeinsame Währung, weil sie am Klub der Wohlhabenden teilhaben wollten. Gleichzeitig konnten sie die strengen Regeln des Euro-Regimes als Instrument zur Abwehr der Ansprüche ihrer eigenen Subalternen verwenden.

Auf Basis der Kreditblase schien der kapitalistische Traum Wirklichkeit zu werden, die EU und ihre Krönung, der Euro, ein Erfolg, der einst in einem nicht näher definierten europäischen Suprastaat münden sollte („ever closer union“). Damit grub sich die europäistische Ideologie noch tiefer ein, als der allgemeine Globalismus, hinter dem sich der Freihandel nur mit einem dünnen Schleier versteckt. Soziale Konvergenz, europäischer Rechtsstaat, Teilhabe am und Interessensausgleich mit dem Zentrum: das sind die Elemente, welche das Ideologem der EU als Friedensprojekt speiste, und sich kontrafaktisch unter den linksliberalen Mittelschichten als unantastbares Dogma weiter hält.

Die Weltwirtschaftskrise, verstärkt durch das Goldstandard-Surrogat Euro, wurde für die Peripherie zur sozialen und auch demokratischen Katastrophe. Die EU-Institutionen und noch mehr das Euro-Regime erwiesen sich als Hebel der Zentrumseliten und vor allem der Industrie- und Gläubigernation Deutschland, die sich zum Zuchtmeister Europas aufschwang. Um die sozialen Angriffe auf die Unterklassen durchführen zu können, wurden einige Länder unter Kuratel gestellt, die nationale Souveränität in einer Weise aufgehoben, wie es nicht einmal während des Kalten Krieges der Fall war.

Das Scheitern der EU-Versprechungen ist für die Unter- und weite Teile der Mittelklassen offensichtlich geworden. Der Europäismus hat die Hegemonie verloren. Nur mehr die Eliten und mit ihnen die linksliberalen Mittelschichten halten an ihr fest. Wie man am Brexit-Referendum sehen kann, verläuft diese Auseinandersetzung auch (nicht nur) an der Linie Arm gegen Reich. Die Subalternen wollen „zurück“ zur nationalen Souveränität, die es als Souveränität der Mehrheit auch unter dem Bretton-Woods-System nie gab, wenn dann nur als Kompromiss.

Das Euro/EU-Regime mit seinem nicht nur extremen neoliberalen Programm, sondern auch der von ihm befeuerten Ungleichheit der Nationen, der Verschärfung der Zentrums-Peripherie-Struktur ist heute Hauptmotor der sozialen und auch nationalen Konflikte in Europa – das Gegenteil eines Friedensprojekts. Es versucht sich als über den Nationen, eben supranational, zu tarnen, erweist sich aber als Diktatur der stärksten Nation, die eine einschlägige Vorgeschichte der Herrschaft aufzuweisen hat. Sozialer Widerstand wird daher unweigerlich nicht nur nationale Elemente einschließen, sondern auch Nationalismus wiederbeleben.

 

Globalismus und Aufstieg der Rechten

An der globalen Peripherie schließt Widerstand gegen den Washington Consensus, gegen das Freihandelsregime der reichen Zentrumsstaaten, selbstverständlich den Kampf um die nationale Souveränität ein. Soziale und demokratische Rechte bedürfen eines Staates, der seine Souveränität gegen das Zentrum und seine Institutionen wie IWF, Weltbank usw. durchsetzt. Die nationalstaatliche Verteidigung ist untrennbar mit der historischen Linken verknüpft (Beispiel Vietnam).

In Europa dauerte es recht lange bis sich der soziale Unmut in Widerstand umwandelte. Und noch immer steht der Stärke der Bewegungen in keiner Relation zur Dramatik der sozialen Angriffe seitens der Eliten. „Nackter“ sozialer Widerstand, den es durchaus auch gab, hat sich angesichts der Kräfteverhältnisse als wenig wirkungsvoll erwiesen. Er ist dazu gezwungen direkt politisch zu werden, das Ganze ins Ziel zu nehmen, sei es am Rande des vorhandenen politischen Systems oder ganz außerhalb dessen, da er keine Repräsentanz mehr hat. Die Unter- und Mittelschichten richten sich immer mehr gegen die supranationalen neoliberalen Institutionen und verlangen ein Zurück zur nationalen Souveränität, von der sie sich mehr Teilhabe erhoffen. Denn sie fühlen sich ausgeschlossen und sind es mit Aufkündigung des Klassenkompromisses auch.

Gleichzeitig hält die linksliberale Mittelschicht, trotz Transformation Erbin der Arbeiterbewegung, am globalistischen und vor allem europäistischen Dogma fest. Sie setzt nationale Souveränität automatisch und immer in Eins mit dem traditionellen Nationalismus und ordnet ihn damit der historischen Rechten zu. Das gilt nicht nur für New Labour Blairs oder Schröders, sondern auch weite Teile der radikalen Linken, die weiter an der „sozialen EU“ festhalten. Damit ist nicht nur Syriza oder Podemos gemeint, die die alte Sozialdemokratie zu beerben versuchen und sich den Bruch mit den Eliten nicht getrauen, sondern ebenso die deutsche LINKE oder auch die italienische Rifondazione Comunista (PRC). Letztere beteiligte sich an der linksliberalen Prodi-Koalition und hält dem Euro und der EU bis heute die Stange. Zwar lag der Niedergang der Linken im Trend der Zeit und war bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich, doch hätte PRC eine radikale Position gegen die neoliberale Regierung und gegen die EU-Institutionen eingenommen, hätte sie überleben können und würde heute vermutlich eine Rolle im Widerstand spielen können, den heute die Fünfsterne dominieren.

Das allgemeine Bild in Europa zeigt, dass die historische Linke den Protest gegen die neoliberale Politik der EU, die etwas verschwommen und unbestimmt die Forderung nach nationaler Souveränität mitführt, ablehnt. Sie besteht auf den Weg der EU-Reform, die in Griechenland katastrophal gescheitert ist und auch in Spanien und Portugal Gefahr läuft das gleiche Schicksal zu erleiden. Sie überlässt damit das Feld, ja das immer größere politische Vakuum, der historischen Rechten, die vielerorts über organisatorische Kerne verfügt und den sozialen Schwenk zu den Unterschichten, die ihr oft fremd waren, wagt.

Gerade das Beispiel Italiens zeigt, dass die Opposition gegen das bestehende Regime nicht organisch rechts ist, obwohl es in Italien sehr effektive rechte Kerne aller möglichen Schattierungen und zugeschnitten auf die diversen Klientele gäbe. Indes ist es die Fünf-Sterne-Bewegung, die die Opposition anführt. Man könnte sie als radikalen Versuch betrachten, die linksliberalen Mittelstandswerte wirklich ernst zu nehmen.

In Griechenland, Spanien und Portugal bleibt eine europäistische Illusion auch weiter hinunter bestehen, sie hat aber ihre Bastion eindeutig in den politischen Führungen, die auch einen anderen Kurs einschlagen könnten, wenn sie nur wollten. Bestes Beispiel: das griechische Nein gegen das EU-Programm hätte die Tsipras-Führung auch als Mandat für den Bruch lesen können.

So könnte man die verschiedenen, sehr unterschiedlichen Länder Europas durchgehen, wobei die allgemeine Regel gilt, dass je reicher, je stärker die chauvinistischeren und imperialistischen Traditionen, desto bessere Bedingungen findet eine „soziale Anti-EU-Rechte“ vor. Aber auch in Großbritannien gab es die linke Kampagne für den Brexit, in Frankreich Nuit Debout und in Deutschland hat die LINKE das verdammte Glück, dass die Rechte kein soziales Moment zu entwickeln vermag, sondern Altkonservativismus und Ordoliberalismus nicht überwinden kann.

Flaggschiff der Rechten ist überall der chauvinistische Kampf gegen die Immigranten, identitätsstiftend gegen den Islam. Die Linke verteidigt richtigerweise die Immigranten. Doch der politische Fehler besteht darin, damit die globalistischen Paradigmen, die EU-Realverfassung der kapitalistischen Freiheiten nach unbegrenzter Bewegung des Kapitals, von Waren und von Arbeitskraft mit zu verteidigen. Soziale und demokratische Kontrolle muss indes politisch-staatliche Regulierung der Produktionsfaktoren und damit auch des Arbeitsmarktes heißen.

Der politische Schild gegen den rechten reaktionären Chauvinismus ist der entschiedene Kampf gegen das globalistische Regime. Der Staat muss in die Wirtschaft eingreifen und Industriepolitik betreiben, er muss für Umverteilung sorgen und die Interessen der Schwachen schützen –Protektionismus von unten und der peripheren Staaten. So gibt man Entwicklungschancen zurück und bekämpft die Ursachen der Migration, nicht die Migranten. Natürlich, und das wird meist vergessen, gibt es im Konflikt mit der Peripherie auch direkt politische Forderungen wie die Selbstbestimmung der Palästinenser, die wirkungsvollste Maßnahme gegen die islamistische Mobilisierung.

Die unter den Subalternen weitverbreitete Forderung nach Begrenzung der Migration ist nicht automatisch rassistisch oder nationalistisch. Man kann nicht abstreiten, dass es den Lohndruck in den unteren Segmenten gibt. Es geht darum, die Forderung nach der Regulierung des Arbeitsmarkes in ein soziales und demokratisches Programm im Interesse der (globalen) Mehrheit einzubetten und so der Rechten ein Mobilisierungsinstrument zu nehmen.

 

Die Rolle des Staates in der Entglobalisierung

Ausgangspunkt muss die Enttabuisierung der verschiedenen Maßnahmen und Wege in Richtung Deglobalisierung sein.

Die automatische Assoziierung der Begriffe Nation, Staat, Nationalstaat mit Nationalismus muss dekonstruiert werden. Der Nationalismus ist nur eine mögliche und historische Variante der Interpretation. Es gibt einige andere Ausgestaltungen des Nationalstaates, vor allem in konkreten Kontext der Globalisierung und dem Internationalismus der kapitalistischen Eliten.

Mit dem Kampf für die Demokratisierung, für die Mitbestimmung der ausgeschlossenen Unter- und Mittelschichten, stellt sich die Frage des Demos, der politischen Kollektivs, das die demokratischen Institutionen konstituiert. Die Antworten der 1990er und 2000er Jahre, die den globalistischen Eliten ein gänzlich abstraktes globales Von-unten, die „multidude“ entgegenstellten, müssen überwunden werden. Die realpolitisch etwas konkrete „Zivilgesellschaft“ ist sozial und politisch allzu begrenzt auf den westlichen Mittelstand, oft eng verbunden mit dem Linksliberalismus der Eliten. Abgesehen von der Öffnung zu den Subalternen, geht es darum zu verstehen, dass es kollektive und historisch gewachsene Identitäten gibt, oft Nationen aber nicht notwendigerweise (nicht zu vergessen die Rolle der gemeinsamen Sprache), die den Demos bilden und um deren Gestaltung gekämpft werden kann und muss. Man darf die Nationen nicht an essentialistische Konzepte, ob klassisch-reaktionär biologistisch-rassistisch oder modern-liberal kulturalistisch, verloren geben, sondern es geht darum sie demokratisch-einschließend zu verändern.

Die Organisationsform der kollektiven Identitäten sind die Staaten. Sie gestallten Gesellschaft im Inneren sowie ihre Beziehung zu anderen. Der Kampf um den Staat muss rehabilitiert werden, was nicht gleichbedeutend mit etatistischen Konzepten ist. Die Überreaktion das Scheitern letzterer, die noch immer nachwirkende Illusion „jenseits des Staates“ muss jedoch überwunden werden. Die Volkssouveränität, die Herrschaft der Mehrheit und damit der Einschluss der Subalternen, kann nur über die Staaten erreicht werden und meint auch den sozialen Ausgleich.

Das kapitalistische Weltsystem ist auf ein Zentrum-Peripherie-Verhältnis aufgebaut. In einem emanzipatorischen Konzept, das dessen Überwindung zum Ziel hat, kommt den peripheren Staaten eine wichtige Rolle in der Verteidigung gegen die überbordende Macht der Zentren zu. Internationalismus der Subalternen hat die Momente des Widerstands gegen die Eliten des Zentrums zusammenzuspannen.

Ein bedeutendes Ideologem des Linksliberalismus ist die Angst vor der Rechten, die Beschwörung der Gefahr des Faschismus ausgehend vom heutigen Rechtspopulismus. Dieses Phänomen der Antiberlusconite ist vielschichtig und soll hier nicht erschöpfend behandelt werden. Es vergisst grundlegend, dass die traditionellen Eliten ihre politische Macht nur deswegen an die faschistischen Bewegungen abtraten, weil sie akut von links, vor der Arbeiterbewegung in Bedrängnis geraten waren. Heute gibt es diese Bedrohung der Eliten nicht, sie bedürfen keines Faschismus. Autoritäre Regimeänderungen kann es immer geben und gibt es auch laufend, doch werden diese durch innere Transformationen sowie Kooptationen durchgeführt. Die Beschwörung der faschistischen Gefahr gerät da zur Selbstlegitimation, als Verteidigung der bestehenden Ordnung und sei es auch als kleineres Übel. Uns scheint es vielmehr, dass der Rechtspopulismus vielmehr von der Abwesenheit der Linken bei den Subalternen lebt und über kein konsistentes Programm verfügt. Die alten rechten Kerne sind mit tausend Fäden an die reaktionären Teile der Eliten gebunden. Die sozialpopulistischen Elemente bedürfen indes des Bruchs mit den Eliten. Diesen Widerspruch kann man zur ihrer Bekämpfung einsetzen.

 

… sind nicht wählbar!

von Hannes Hofbauer, Publizist

 

Wieder einmal stehen angeblich Schicksalswahlen an. Die Wiederholung derselben macht sie gleichwohl nicht wichtiger. Der österreichische Präsident hat im internationalen Kontext angesichts der von Brüssel aus administrierten Durchsetzung der stärksten Kapitalinteressen nichts zu melden. Innenpolitisch birgt seine Machtfülle indes eine politische Gefahr. Die Abschaffung des Amtes wäre sinnvoll.

Stattdessen wetteifern zwei Männer darum, es einzunehmen, weshalb ich mich zu dieser kurzen Stellungnahme herausgefordert sehe. Vorneweg: Beide sind für mich nicht wählbar.

Norbert Hofer repräsentiert eine gefährliche Mischung aus Rechtsradikalität und Liberalismus, dessen vielfach geäußertes Amtsverständnis einem autoritären Staat den Weg ebnen könnte. Die der Rechten eigene inhaltliche Geschmeidigkeit gegenüber der Herrschaft des Kapitals führte schon im Vorfeld der Wahlwiederholung zu einem Bekenntnis zur Europäischen Union, womit die FPÖ an die Zeit als heftigste Befürworterin eines österreichischen EG-Beitritts in den 1980er Jahren anschließt. Seiner Haltung zur aktuellen Migrationsfrage wohnt ein ausländerfeindlicher Grundton inne, der für Linke ebenso indiskutabel ist wie das gesamte Weltbild der FPÖ.

Alexander van der Bellen repräsentiert Kapitalherrschaft und politische Klasse über alle Parteigrenzen (außer jener der FPÖ) hinweg, was ihn angesichts zunehmender Krisen und Kriege gefährlich werden lässt. Sein Zugang zum NATO-Krieg gegen Jugoslawien war ein bellizistischer und sein Drängen auf eine Fortsetzung wirtschaftskriegerischer Sanktionen gegen Russland steht dem Vertreter eines neutralen Landes nicht zu. Im Amtsverständnis gleicht er sich seinem Kontrahenten an, wenn er mit der Auflösung des Parlaments im Falle eines rechten oder EU-feindlichen Wahlsieges droht. Das von ihm betriebene Spiel mit seiner Vergangenheit als Flüchtlingskind ist geschmacklos, wenn man weiß, dass seine aus Russland stammende Adelsfamilie 1941 vor der Roten Armee aus Estland zu den Nationalsozialisten und 1944 vor der Befreiung Wiens nach Tirol geflohen ist.

 

Weder Hofer noch van der Bellen! Das Amt muss weg!

Trump-Wahl: Eliten erschüttert

Die Große Erzählung der neoliberalen Globalisierung verfängt immer weniger

Von Wilhelm Langthaler

 

Die Kandidatin der die Welt beherrschenden Elite wurde geschlagen – gegen die geballte Macht ihres Herrschaftsapparats. Diese gewaltige Erschütterung kann gar nicht anders, als weitere Schockwellen zu produzieren. Selbst in seinem Mutterland glauben immer weniger dem Narrativ des liberalen Kapitalismus. Dass sie dabei einem chauvinistischen Milliardär ihre Stimme gaben, ist zunächst zweitrangig. Denn die Infragestellung der Macht der kapitalistischen Oligarchie in den Zentren hat nach vier Jahrzehnten der Friedhofsruhe gerade erst wieder begonnen. Der Ausgang dieses Kampfes ist keine ausgemachte Sache.

 

Niederlage der Herrschenden

Das Entsetzen der Oligarchie und seiner Regimemedien könnte nicht größer sein und sagt alles. Wichtige Teile des Volkes in den USA und in den reichen Ländern des Westens im Allgemeinen haben das Vertrauen ins System verloren. Nicht nur in die Regierungen, sondern in das ganze Regime des Freihandels. Sie wollen weder Kriege für die US-Weltherrschaft führen und dessen Kosten begleichen, noch wollen sie die am unmittelbarsten sichtbare Folge der Globalisierung, die Massenimmigration, gegenwärtigen. Sie rufen nach Schutz, nach Protektionismus – und da ist gerade von einem sozialen Standpunkt aus ein richtiger Kern enthalten.

„Make America great again“ klingt nach dem altbekannten imperialen Chauvinismus und will diesen auch ansprechen. Doch gleichzeitig verdeckt er eine wichtige Nuance. Trump hat von einem Ausgleich mit Russland gesprochen und deutet den in vielen Teilen der Bevölkerung gewünschten Rückzug aus der Funktion des Weltpolizisten an. (Siehe die sensationelle Infragestellung der Nato.) Jedenfalls wird auch der diffuse Wunsch nach Rückkehr zum Nachkriegsamerika mit seinem Wohlstandsversprechen an einen überbreiten Mittelstand bedient. Trump gibt auch erste Schritt an – das Ende des Freihandelsregime und Infrastrukturinvestitionen. Absolut notwendige, aber keineswegs hinreichende Maßnahmen.

 

Destabilisierung durch eine Opposition mit reaktionären Momenten

Dass die von Trump mobilisierte Opposition, die nicht nur aber tendenziell in der unteren Hälfte der Gesellschaft angesiedelt ist, starke reaktionäre Charakterzüge trägt, ist offensichtlich.

Da ist der Milliardär und Steuertrickser, der sogar noch dazu steht und weitere Steuersenkungen fordert. Da ist die typische Feindschaft zu Gewerkschaft und Arbeiterbewegung. Da ist die Kampagne gegen den Sozialstaat, symbolisiert durch das mickrige Obamacare-Programm usw.

Nicht zu sprechen vom ungezügelten weißen Chauvinismus, gegen Muslime, Schwarze und Immigranten im Allgemeinen, die in aller Regel zu den untersten Schichten zählen. Und natürlich die machistisch zur Schau gestellte Frauenfeindlichkeit.

Die Trump-Wahl ist keine explizit soziale Revolte, sondern sie ist organisch verquickt mit einem politisch-kulturellen Zitat der White Supremacy als Gegenposition zum Obamismus der Eliten. Diese proklamierten die Emanzipation der Unterdrückten, um gleichzeitig die Macht der Oligarchie noch weiter zu verfestigen. Anders gesagt: Der weiße Mittelstand greift in seinem sozialen Abstieg nun selbst zum Heroin (zuvor eine weitgehend schwarze Sucht-Flucht) und spuckt dabei auf die soziokulturellen Minderheiten. Desto mehr sie auf deren Status herabgedrückt werden, desto mehr wollen sie sich von ihnen absetzen. Geht die soziale Überlegenheit verloren, wollen sie sich zumindest die vermeintliche kulturelle Überlegenheit sichern. Dieser weiße Mittelstand will zurück zur Welt der 1950 und 1960er, doch die Eliten spielen da aber nicht mit. Damals war die Wirtschafts- und Sozialpolitik keynesianisch (vulgo links), die Kultur weiß, reaktionär und konservativ (vulgo rechts). Heute ist es umgekehrt. Die Elitenkultur gebärdet sich linksliberal, während die soziale Verteilung ultraelitär ist – so wie im sozialdarwinistischen 19. Jahrhundert.

Was ist so viel schlimmer daran, wenn Trump das ins Positive wendet, was die Oligarchie als soziale Realität produziert: WASP-Chauvinismus, Ungleichheit der Geschlechter und der sozialen Schichten, sowie globalen Krieg und Imperialismus?

Beim Lackmus-Test sind sie sowieso wieder vereint: beide haben sich fest auf die Seite Israels gestellt, dem wichtigsten Vorposten des US-Imperialismus.

Nein, wir machen bei der Austreibung der Fratze nicht mit, sondern zielen auf die Veränderung der gesellschaftlichen Realität selbst: In diesem Sinn ist die Destabilisierung der Oligarchie, so partiell sie auch sein mag, grundsätzlich positiv.

Man darf sich nicht von den Faschismus-Schreiern einlullen lassen, die letztlich das Spiel des Regimes spielen. Denn es besteht die Gefahr des Faschismus nicht. Die herrschenden Eliten, auch wenn sie eine Schlacht verloren haben und schwächeln mögen, sind noch immer an der Macht. Und sie bedürfen keiner reaktionären Massenmobilisierung, denn die ist nur die ultima ratio der Herrschenden. Noch haben sie viele andere Optionen. Trump & Co sind unsere Gegner, doch der Hauptfeind bleibt das liberale Zentrum.

 

Den Tsunami der Rebellion reiten und lenken

Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wohin Trump geht. Nimmt er im Sinne der Eliten Vernunft an oder kann ihn der allmächtige Staatsapparat zumindest zügeln? Nachdem Trump sozial Teil der Elite ist und mit den Instrumenten des Herrschaftsapparates ins Amt gekommen ist, spricht vieles für eine solche Zähmung.

Doch auf der anderen Seite gibt es einen wachsenden Druck der Unzufriedenen. Und die Wahlmonarchie gibt dem Präsidenten eine außerordentliche Machtfülle, die Obama als letztlich treuer Diener der Oligarchie für seine Reformprojekte nicht einsetzen wollte. Es sind seitens Trump durchaus auch Überraschungen möglich, zumal reaktionäre Antielitentendenzen sehr breite Verankerungen in Teilen der USA haben, auf die er für Kampagnen sich stützen könnte.

Entscheidend ist, dass die Bevölkerung politische Erfahrungen mit rechtspopulistischen Kräften machen kann. Dabei ist die zentrale Aufgabe in allen westlichen Ländern die implizit vorhandenen sozialen und auch demokratischen Interessen der unteren Schichten gegen die reaktionären populistischen Führungen stoßen zu lassen. Die Massen müssen in der Praxis sehen, erfahren, begreifen, was Trump & Co machen.

Nicht, dass keine Veränderungen im System durch Rechtspopulisten möglich wären. Im Gegenteil, das ultraliberalistische Regime ist auf die Dauer nicht zu halten. Partielle Verbesserungen für ihre Klientel wären durchaus möglich, insbesondere in den Zentrumsländern. Aber sie schaffen keine für die Mehrheit der Subalternen akzeptable Verbesserungen, sondern heizen die Konflikte unter diesen nur weiter an.

Zudem würde ein Ende der harten neoliberalen Diktatur, selbst durch Rechtspopulisten, neue soziopolitische Spielräume eröffnen. Dieser Schritt scheint als notwendiger Durchgang bei der Ablösung sowohl von den Eliten und in der Folge auch von den Rechtspopulisten selbst. In diesem Spalt müssen und können sozialrevolutionäre Kraft gegen den Kapitalismus entwickelt werden. Dass selbst in den USA dafür Platz ist, hat die Kampagne von Bernie Sanders eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Wir können uns die Form des Hegemonieverlusts der Eliten nicht aussuchen und sie verläuft auch nicht überall gleich. Es ist aus historischen, sozioökonomischen und kulturellen Gründen auf der Hand liegend, dass er in den USA andere Formen annimmt als in Großbritannien (Brexit), Griechenland (Referendums-Nein und Syriza-Ja) oder Italien (Grillo). Aber es ist eine Ablösung: und das ist ein grundsätzlich notwendiger und unterstützenswerter Prozess.

Unsere Aufgabe ist es, das Aufbegehren wirklich gegen die Eliten zu lenken, es dabei zu formen, zu verändern und die reaktionären pro-kapitalistischen von den sozialrevolutionär-demokratischen Elementen zu trennen. Abseits zu stehen oder gar die Seite der Eliten zu beziehen, verfestigt die Funktion der gewendeten Linken als Ideologen und Apologenten des Systems, was die Massen so gegen sie aufbringt.

Den oppositionellen Tsunami zu reiten, darf nicht verwechselt werden mit einer Unterstützung für Trump & Co. Im Gegenteil: Es gilt das aufkeimende und eruptierende oppositionelle Potential der unteren Schichten, das in deren Basis vorhanden ist und dort gebunden wird, anzuzielen, abzuziehen und damit zu befreien.

Euro-Krise für türkisch-kurdische Leser

Özgür Politika-Interview mit Wilhelm Langthaler von Mustafa Ilhan

 

Im September dieses Jahres hat das dritte „Internationales Forum gegen den Euro“ in Italien stattgefunden. Was war sein Ziel?

Ziel des Forums war alle demokratischen Kräfte in Europa gegen das Euro-Regime zusammenzuschließen, das in einer sehr tiefen Krise steckt und sich mittels immer härterer Angriffe auf die sozialen Errungenschaften über Wasser zu halten versucht. Aber das ist nur der erste Punkt. Es geht auch darum, sich auf den unvermeidlichen Zusammenstoß mit der EU-Oligarchie vorzubereiten, für den Bruch bereit zu sein, denn auf den Austritt aus der gemeinsamen Währung folgt unweigerlich der Zusammenstoß mit der EU-Oligarchie, will man dem Neoliberalismus ein Ende setzen.

 

Ein Thema des Treffens: „Warum der Euro nicht reformiert werden kann, sondern aufgelöst werden muss”. Warum also?

Nehmen wir das Beispiel Griechenland. Die Linksregierung von Syriza hatte ein Ende der katastrophalen Abbaupolitik versprochen, wie sie die Bedingung für die Notkredite war. Sie setzte all ihre Hoffnung darauf, dass sie innerhalb der Euro-Institutionen Verbündete finden würde. Doch zu guter Letzt stimmten alle Länder unter dem Druck Deutschlands gegen Syriza. Die EZB drohte die Geldversorgung abzudrehen und erpresste Griechenland mit dem wirtschaftlichen Kollaps. Die Idee von der sozialen EU war gescheitert. Entweder die Bedingungen akzeptieren oder aus dem Euro austreten, die Schulden nicht bedienen, Kapitalverkehrskontrollen einführen, eine neue Währung herausgeben und die Banken verstaatlichen – was alles nicht nur gegen die Regeln des Euro, sondern auch jene des EU-Binnenmarktes verstößt.

Das ist nicht nur, weil Griechenland ein kleines und armes Land ist, sondern das gilt auch für viel größere Länder wie Spanien, Italien, ja sogar für Frankreich. Auch dieses hat sich nie gegen die ordoliberalen Konzepte des übermächtigen deutschen Nachbarn durchsetzen können.

Der EU-Binnenmarkt mit seiner supranationalen Behörde wurde Mitte des 1980er Jahre nach der Niederlage der französischen Linksregierung unter Mitterrand gegründet. Es war ein explizit gegen den Keynesianismus und alle fortschrittlichen soziopolitische Versuche gerichteter Pakt. Es ging im Sinne von Thatcher und Reagan um die Durchsetzung des neoliberalen Rollbacks gegen die sozialen Errungenschaften der 70er Jahre. Der Euro sollte die Herrschaft der kapitalistischen Eliten Westeuropas krönen. Er war als ultraliberales Brecheisen gedacht. Die Idee der „sozialen EU“ war von Anfang an entweder eine naive Illusion oder ein zynischer Betrug.

 

Die Thematik der Reform des Euro kennen wir von Griechenlands Ex-Finanzminister Varoufakis. Was halten Sie von seiner Politik?

Varoufakis ist neben Premier Tsipras der wichtigste Vertreter und Propagandist der gefährlichen Vorstellung gewesen, dass die Linksregierung ohne Bruch mit dem Euro ein Ende des Austerität bewerkstelligen könnte. Tatsächlich hatte er schon im Februar 2015 kapituliert, als er das Troika-Memorandum im Prinzip schon akzeptiert hatte. Im monatelangen Verhandlungspoker ging es nur mehr darum, über ein symbolisches Zugeständnis das Gesicht zu wahren. Aber selbst das wollten Juncker, Merkel und Schäuble unter keinen Umständen zulassen. Dann war er unehrlich, denn er wollte sich nach der Niederlage reinwaschen, indem er behauptete an der Vorbereitung einer neuen Währung gearbeitet zu haben. Aber das schlimmste ist, dass er seine Position immer wieder wechselte. Er hatte nach dem Referendum mehrmals für oder gegen die Regierung gestimmt. Dann hatte er gemeinsam mit Lafontaine und anderen einen Plan B verkündet, der suggerierte die Lehren aus dem Desaster gezogen zu haben. Nur um ein halbes Jahr später zu verkünden, dass es kein Zurück zur nationalen Souveränität gegen könnte, denn das sei reaktionär und schlimmer als die Herrschaft der EU-Oligarchie selbst. Stattdessen bedürfte es einer weiteren Zentralisierung der EU, eines wirklichen Bundesstaates um die soziale EU durchzusetzen. Varoufakis verkauft nach wie vor die gleiche Illusion wie Syriza, aber nun wider besserer praktischer Erfahrung. Welche Vermessenheit, der deutschen Exportmaschine mittels EU-Suprastaat eine soziale Politik aufzwingen zu können glauben. Das wäre wie den Bock zum Gärtner zu machen.

 

Was kann die Eurokrise alles in der EU auslösen?

Angesichts der Härte der Programme gegen die Peripherie ist es nur eine Frage der Zeit, dass eines der Länder des Südens Widerstand leistet, zum Beispiel in dem eine Regierungen an die Macht kommt, die sich dem Diktat des Zentrums widersetzt. Der Zinsenspread zu den deutschen Bundesanleihen würde innerhalb kurzer Zeit stark ansteigen und eine Situation wie 2015 in Griechenland schnell wieder da. Ein Austritt aus dem Euro kann verschiedene politische Formen annehmen – je nach Härte des Konflikts. Aber die Tendenz ist überall, dass an der Peripherie politische Kräfte an die Macht drängen, die die Oligarchie ablösen wollen. Es ist das erste Mal seit den 1970er Jahren, dass die Herrschaft der liberalen Eliten ernsthaft in Frage gestellt werden könnte.

 

Glauben Sie tatsächlich, dass EU aufgelöst werden kann?

Die Frage ist in welcher Art und Weise. Lafontaine, Fassina und andere schlagen eine einvernehmliche Auflösung des Euro vor, um die EU zu retten. Im Sinne der EU und ihrer Eliten wäre das nicht nur vernünftig, sondern die einzig mögliche Lösung ohne großen Schaden für die selbst. Doch danach sieht es nicht aus. Sie haben alles auf die Karte des Euro gesetzt und halten eisern an ihm fest. Von einem Hebel gegen die Massen wendet er sich nun zurück als Brecheisen innerhalb der EU selbst. Länder, die unter dem Druck der Volksmassen aus dem Euro austreten, können kaum umhin sich auch gegen die EU zu wenden, wollen sie überleben.

Und dann kommt noch der Domino-Effekt. Wenn Portugal austreten sollte, warum dann nicht auch Spanien, und Italien. Und schließlich, warum soll Frankreich als unter der Fuchtel Berlins verbleiben, wenn es genauso dringend einer Abwertung bedarf um seine Industrie wieder konkurrenzfähig machen zu können, ohne in der ewigen Spirale der Rezession zu versinken.

Damit wäre aber die deutsch-französische Achse, die die Grundlage der EU und der gesamten Nachkriegsordnung darstellt, gefährdet. Man sieht also die dramatischen Konsequenzen der Fortsetzung des Euro-Regimes.

 

Was kommt nach der EU?

Eines ist sicher: zuerst gibt es einmal einen heftigen Konflikt mit der herrschenden ultraliberalen und supranational organisierten Oligarchie. Da gibt es Kräfte von links aber auch von rechts. Derzeit hat die Linke in vielen Ländern das Problem, dass sie nach wie vor den Bruch nicht machen will. Wie wehrt sich dagegen, dass gegen die neoliberale Globalisierung die Volkssouveränität nur über die Nationalstaaten erobert werden kann. Damit überlässt sie das Feld des Protests der Volksmassen der Rechten. Aber die Rechte ist ihrerseits mit Tausend Fäden an die Eliten gebunden. Auch von denen kann ein wirklicher Bruch mit der Oligarchie nicht erwartet werden. Der Ausgang des Kampfes ist jedenfalls noch offen.

 

Für Menschen in der EU und vor allem in Deutschland gibt es die Sorge, dass eine Euro-Auflösung den Rassismus tendenziell stärken wird.

Es ist die EU selbst, die nationale Konflikte schürt, indem sie die Herrschaft des reichen Zentrums gegen die Länder der Peripherie etabliert. Griechenland befindet sich in deutscher Schuldknechtschaft, nämlich auf mehrere Generationen. Und das soll keine nationalen Gefühle und Ressentiments hervorrufen?

Zudem sind es die Staaten der EU, die die islamophobe Kampagne führen und die Migranten als Kriminelle und Sozialschmarotzer diskreditieren. Personenfreizügigkeit ändert am institutionellen Rassismus nichts, im Gegenteil.

Viele liberale Deutsche glauben, dass die EU vor Nationalismus und Konservativismus schützt. Sie merken nicht, dass es genau die ökonomische Herrschaft ihres Landes über den Kontinent, versteckt hinter den supranationalen Institutionen, die den Nationalismus befeuert.

 

Teilen sie diese Sorge?

Nein, im Gegenteil. Nur mittels Wiederherstellung der demokratischen und sozialen Rechte, der nationalen und Volkssouveränität, kann die Freundschaft zwischen den Nationen und Völkern gefestigt werden. Dafür muss aber die neoliberale EU zerschlagen werden.

 

Der IWF hat die türkischen Wachstumsaussichten für das Jahr 2017 von 3,4% auf 3,2% gesenkt. Gleichzeitig stufte die Ratingagentur Moody’s die türkische Bonität von B3 auf B1 herab. Da die türkische Wirtschaft stark von ausländischem Kapitalzufluss abhängig ist, hat die Herabstufung ein Warnsignal ausgelöst. Was bedeutet das nun? Könnte es eine Währungskrise heraufbeschwören?

Die Türkei hat die vergangenen Jahre immer ein signifikantes Außenhandelsbilanzdefizit aufgewiesen und ist daher strukturell auf Kapitalzufluss aus dem Ausland angewiesen. Die niedrigen Zinsen, wie sie derzeit in den Zentren vorherrschen und von den herrschenden Eliten politisch gewollt sind (was Erdogan „Zinslobby“ titulierte), sind für die Türkei wichtig. Würden sich diese erhöhen, könnte es zu gefährlicher Kapitalflucht kommen. Aber Zinserhöhungen sind politisch nicht zu erwarten. Man sollte die Aussagen der Ratingagenturen nicht überbewerten. Sie dienen mehr dazu Druck zu erzeugen, dass sich die Türkei an die Vorgaben der global financial governance hält. Doch wäre es besser, sich denen zu widersetzen, so wie wir es auch für Südeuropa vorschlagen. Auf ausländisches Kapital sollte man sich nicht verlassen, denn dessen Beitrag zur Entwicklung eines Landes ist meist gering.

VOM SOZIALISMUS IN EINEM LAND ZUM KEYNESIANISMUS IN EINEM LAND: EINE NOTWENDIGE DEBATTE?

Was ist Keynesianismus eigentlich?

Der Term wurde in der neuen neo-neo-keynesianischen Anstrengung, vor allem in der BRD derart diffus, das er mittlerweile schon fast Alles und sein Gegenteil bedeutet. In der Zweiten Nachkriegszeit wurde im Anschluss an Keynes eine Politik konzipiert und tastend verwirklicht, welche ein neuerliches Hineintappen in die Falle des „Gleichgewichts dauernder Unterbeschäftigung / Arbeitslosigkeit“ verhindern sollte. Als entscheidende Ur­sache hatte Keynes eine Nachfragelücke diagnostiziert. Bei einem neuerlichen Auftreten sollte diese in Hinkunft durch staatliche Ausgaben aufgefüllt werden. Die sollten über Kredit finanziert werden, schon um nicht anderswo wieder Kaufkraft abzuziehen. Das war der Kern einer aktiven Wirtschaftspolitik.

Als Zwilling trat von vorneherein der Beveridge-Vorschlag einer Absicherung der wichtigsten Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Altersvorsorge) hinzu. Halten wir fest: Diese Idee des Sozialstaats hatte von vorneherein mit dem originären Keynesianismus nichts zu tun. Der Beveridge’sche Sozialstaat wurde auch schnell zur umfassenden Aufgabe staatlicher Siche­rung auch der Mittelschichten – nicht nur die Grundsicherung der Unterschichten. Nicht zuletzt an diesem Punkt setzten die Neokonservativen taktisch mit ihrer Kritik an. Man kann dies mit Nutzen bei Milton Friedman nachlesen. Das wäre übrigens ein wichtiger Punkt für eine eigene Diskussion. Dabei ginge es ebenso um Systemstabilisierung wie um das Problem des „Gesamtarbeiters“ in einem hoch vernetzten System.

Kenesianismus war also konzipiert als Rettung des Systems und hat in diesem Sinn auch funktioniert. Es war ein geradezu klassischer Transformismus: „Alles verändern, damit Alles bleibt wie es ist.“ Allerdings hat auch jeder Transformismus seine Eigendynamik.

Der Sozialstaat beinhaltete gewisse Elemente der Umverteilung via Steuern, Sozialversiche­rungen und reale wie monetäre staatliche Leistungen. Noch aus der Kriegszeit hatte man ein ziemlich progressives Steuersystem in die Friedenswirtschaft und den Wiederaufbau herüber gezogen. Die Grenzsteuersätze für das Einkommen gingen in den USA bis auf 90 % hoch. Diese Zwillings-Politik der Nachfragestimulierung und der Sozialpolitik wurde in der politi­schen Debatte sehr bald zusammengefasst und als Keynesianismus angesprochen. Das war in gewissem Sinn berechtigt, denn das kam aus demselben, damals im Wesentlichen sozialdemokratischen, Impetus.

Bereits 1968, mit der Nixon-Präsidentschaft, setzte in den USA der Rollback ein. In Europa startete die neokonservative, neoliberale Offensive 1978/79 in Thatcher-Großbritannien und wurde sehr schnell auf dem Kontinent übernommen. Eine spezifische Rolle spielte das Scheitern der Mitterrand-Politik ab 1981, die tatsächlich ein ziemlich naiver keynesianischer Ansatz war. Aber hier zeigte sich: In schwächeren Wirtschaften geht der Nachfrage-Impuls sofort in den Import – wenn nicht entsprechende Regulierungen und Schutzmaßnahmen da vorkehren. Das war schon damals im Rahmen der EG nur mehr kurzfristig als Notmaßnahme machbar. In Frankreich kippte die Leistungsbilanz vollständig: 1979 hatte sie noch +0,83 % des BIP ausgemacht, 1981 stand sie bereits auf -0,8 %, und 1982 auf -2,1 % (Daten von der Weltbank enthalten auch Transfers). Auffallen sollte dabei aber auch, wie gering die Beträge eigentlich waren! Trotzdem wurden kurzfristig tatsächlich Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Dann aber kam mit der Delors’schen Politik die große Wende zur Austerität.

Doch, und das ist für die jüngsten Debatten wichtig, diese Ausreizung des Begriffs Keynesia­nismus, der einfach als anderes Wort für Sozialstaat eingesetzt wird, sorgt für Verwirrung.

Halten wir fest: Auch im Rahmen der heutigen EU sind noch gewisse enge Spielräume für unterschiedliche Ausformungen des Sozialstaats gegeben. Sie werden allerdings immer stärker eingeengt. Der Abbau des Sozialstaats war und ist schließlich eines der wichtigsten Ziele der EU. Alle die schönen Errungenschaften der letzten Jahre, vom Fiskalpakt über das „Europäische Semester“ bis zu den Vorgaben für den Defizit-Abbau verfolgen das Ziel, den Gestaltungsraum für eine eigenständige nationale Sozialpolitik zum Verschwinden zu bringen. Eine europäische Wirtschaftsregierung, wie sie vor allem auch von der Sozial­demokratie angestrebt wird, würde dies mit einem Schlag erreichen.

Aber was hat dies alles mit dem originären Keynesianismus zu tun?

Wenig bis gar nichts, wenn man Keynesianismus als wirtschaftspolitische Doktrin begreift. Denn die Spileräume, die für nationale sozialstaatliche Politik sehr wohl noch vorhanden sind, verschwanden inzwischen weitgehend für eine keynesianische Wirtschaftspolitik.

Das Hauptproblem der Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Gegenwart ist die Frage der sich ständig vergrößernden Ungleichheit, der immer schieferen Verteilung. Seit drei Jahrzehnten steigen die Gewinne und die gewinnnahen Einkommen (Management-Gehälter und Spitzen­einkommen überhaupt). Aber sie werden nur mehr zum Teil investiert. Sie gehen in den „Geldmarkt“, d. h. die Spekulation. Es tut sich also eine Nachfragelücke („Unterkonsum“) auf. Diese Nachfragelücke wurde durch die expansive Geldpolitik keineswegs aufgefüllt.

Dabei wirken offenbar sogar schon schwache Impulse. Die österreichische Politik der Gegen­wart gibt da einen gewissen Hinweis: Die österreichische Wirtschaft befindet sich bekanntlich seit Jahren auf der Kriechspur. Die sogenannte „Steuerreform“ in ihrer ganzen mickrigen Bescheidenheit hat zu einem ziemlich geringen Nachfrage-Plus geführt. Aber sogar der ist merkbar und belebt die Konjunktur. Es könnte wesentlich stärker wirken, wenn da nicht noch was Anderes wäre. Das zweite Problem der österreichischen Wirtschaft, des österreichischen Kapitals, ist nämlich die Exportschwäche. Das hat ihm die österreichische kriecherische Politik gegenüber der EU und der USA eingebrockt. Zuerst die Krise seit 2008 und sodann die feindlichen Maßnahmen gegen Russland haben die Hauptexport-Chancen beschädigt, den Osten und Süden Europas nämlich. Aus diesen beiden Ursachen, dem fehlenden Konsum und der Exportschwäche, kommt die schleichende Krise der letzten Jahre.

Eine linke Politik hat auf das allgemeine Problem sowohl der Krise als auch der Ungleichheit eine Antwort zu geben, die sich radikal von der („links“-) keynesianischen, transformisti­schen, unterscheidet. Da­bei müssen wir aber zwischen kürzer- und mittel- bis längerfristigen Strategien unterscheiden. Die linke Antwort würde im ersten Schritt – und das ist wichtig, wie wir gleich sehen – eine starke Versteilung der Progression im Steuersystem anstreben. Das bedeutete u. a. ein An­heben des ESt-Spitzensatzes auf (z. B.) 90 % und (mindestens) eine Verdoppelung der Kör­perschaftssteuer. Damit ist aber auch schon klar, warum dies nur der erste Schritt sein kann. Denn es müssten gleichzeitig Kapitalverkehrs-Kontrollen sowie Kontrollen des Geld­verkehrs etabliert werden. Usf.

Eine keynesianische Politik hingegen würde sich bemühen, mittels Kreditfinanzierung die Nachfragelücke zu füllen. Und dann? Wenn die Staatsschuld auf 120 % oder 140 % des BIP gestiegen ist? Dann kommt mit Sicherheit das „Sparprogramm“.

Fügen wir noch hinzu, dass üblicher Weise Staatsschulden Zinssubventionen an die obere Mittelklassen und an die Banken sind: die Alternative des Weg-Inflationierens der Schuld funktioniert nicht; außer bei galoppierender Inflation nach Kriegen bei den Verlierern. Sehen wir uns im Vergleich Großbritannien und das Deutsche Reich nach dem Ersten Welt­krieg an! Auch „Großbritannien“ hatte schwere Vermögensverluste im Krieg erlitten. Aber das Hauptergebnis war: Der britische Staat hatte während des Kriegs in hohem Ausmaß die bisherigen Auslandsguthaben der Eliten „übernommen“ und damit die kriegsnotwendigen Einkäufe gesichert. Anders und klarer ausgedrückt: Die Eliten hatten ihre Ansprüche an das Ausland, den Rest der Welt, von dem sie vorher als Rentner Einkünfte bezogen, gegen Staats­anleihen getauscht. Sie bezogen nunmehr ihre Renten vom britischen Staat. Für sie war dies wesentlich sicherer. Der britische Staat aber holte sich das notwendige Geld von den britischen Arbeitern. Der Bergarbeiterstreik, mit dessen Zerschlagung Churchill sich das im Krieg durch seine Unfähigkeit und Brutalität zerbröselte Ansehen bei den Eliten wieder aufpolierte, war ganz und gar kein Zufall. Analytisch noch deutlicher: Staatsschulden sind Ansprüche an den Staat. Aus Staatsschulden in den Händen der Elite entsteht also ein zusätzliches Herrschaftsverhältnis, eine zusätzliche Macht gegenüber dem Staat. Auch daraus wird wieder ein „Sachzwang“ konstruiert. Dieser Staat bedient die Eliten, wenn er nicht durch das allgemeine Wahlrecht und durch die entsprechenden nationalen Kompetenzen korrigiert wird.

Im damaligen Deutschen Reich aber verlor der Teil der Herrschenden, der bisher von Geld­renten gelebt hatte, diese Einkommen. Das war eine der Schichten, welche den Aufstieg des Faschismus beförderten.

In ihren Begleiterscheinungen trifft daher der Abbau der Staatsschuld wieder die unteren zwei Drittel der Gesellschaft und nicht das oberste Drittel. Nochmals das Weginflationieren. Selbst wenn in Friedenszeiten der Ertrag der Staatsschuld kürzerfristig (!, seit nun zwei, drei Jahren in ganz wenigen Wirtschaften) einen Negativzins ergibt, sagen wir einmal: -1 oder -2 %, kann sich jeder selbst ausrechnen, wie lange es dauern müsste, bis die Hälfte dieser Schuld weg wäre. So lange sind die Laufzeiten der Staatsanleihen bei weitem nicht.

Der Unterschied zwischen den möglichen Politiken ist eklatant. Man könnte, um zu provozieren, die erste Strategie in ihrer vollen Entwicklung auch als linken Monetarismus bezeichnen. Denn sie beinhaltet auch eine Kontrolle der verschiedenen Geldmengen. Sie werden als kurz- und mittelfristige Steuerungs-Instrumente erhalten.

Doch jenseits dieser Grundüberlegungen hat die jüngere Vergangenheit gezeigt, dass Keyne­sianismus auf der nationalen Ebene einfach nicht mehr funktioniert (siehe oben). Im Rahmen der EG / EU mit ihren „Freiheiten“ für das Kapital braucht dies nicht viel an Kommentar. Das muss im Rahmen einer sinnvollen Theorie diskutiert werden.

Der Saldenzauber Kalecki’schen Zuschnitts verdunkelt die Sachverhalte eher, als dass er das Verständnis fördert. Das erinnert stark an Hicks, welcher in einer „Einführung in die Volks­wirtschaft“ (dt. 1972 – eine solche Literatur gibt es heute gar nicht mehr; nur mehr 800 Seiten „Makro“- und ebenso lange „Mikro-Ökonomie“) zuerst die Begriffe der VGR durchdefiniert; und dann mehrmals festhält: „Wir haben also bewiesen,…“ Worum geht es eigentlich?

Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft. Diese triviale Selbstverständlichkeit müssen wir der mainstream-Ökonomie gegenüber immer und immer wieder betonen. Und zu dieser gehört in seinen Grundlagen der Keynesianismus. Wer dem widerspricht, der braucht nur in der „Allge­meinen Theorie“ nachzulesen, welche Konzepte und Ideen Keynes einsetzt. Und konkret auf die gegenwärtige Problematik der Stellung der BRD angewandt:

Außenhandelsüberschüsse entstehen aus einer Verteilungs-Situation des betreffenden Lan­des. Die in Kalecki- und Minsky-Manier getroffene Aussage, sie seien Profite, verdunkelt die kausale Richtung. Sie entstehen aus einer Wirtschafts-Politik, welche bewusst die Löhne drückt. Das Erreichen eines Außenhandelsüberschusses ist dabei ein Mittel und bisweilen auch ein Ziel unter anderen. Damit sind solche Überschüsse (und etwas komplexer gilt dies für Zahlungsbilanz-Überschüsse insgesamt) Indikatoren für das Verteilungsproblem, z. B. innerhalb der BRD. Sie als „Spielräume“ zu bezeichnen, ist geradezu widersinnig. Solche Indikatoren zeigen allerdings, gegen die offensive Propaganda des Kapitals und speziell des Export-Kapitals an: Selbst im Rahmen des bestehenden Systems wäre eine weniger schiefe Verteilung möglich, könnten die Löhne steigen und die durch Steuern auf Profite zu finanzie­renden Sozialleistungen ausgebaut werden. Mit Keynesianismus als Wirtschaftspolitik hat dies nichts zu tun. Der Unterschied ist wichtig. Denn er sagt was über Möglichkeiten aus.

Doch damit sind wir in mehrfacher Weise beim Kern-Thema angelangt. Warum, um Himmels willen, sollen sich Linke auf das Systemverträgliche beschränken?

Dass wir Schritt für Schritt vorgehen müssen, ist kein Argument, sondern eine Selbstverständ­lichkeit. Um im Jargon zu bleiben: Die „Primärverteilung“ ist natürlich das eigentliche Ziel bzw. Problem. Die Frage der „Sekundär-Umverteilung“ durch Steuern und Sozialleistungen taucht überhaupt nur auf, weil die derzeitige Organisation der Wirtschaft das Überleben der Arbeitskraft ohne politische Intervention zur Problematik gemacht hat. Das Steuersystem ist nur das erste Mittel einer solchen Politik. Gewerkschaften sind möglicher Weise zu schwach, um sich durchzusetzen. Doch gerade in Österreich und der BRD sind sie meist schlicht nicht willens, eine entsprechende Lohnpolitik zu führen. Wir wissen um die Möglichkeiten gerade in der BRD, die Gewerkschaften zu korrumpieren. Vergessen wir nicht: Hartz IV war die Erfindung eines Gewerkschafters im Auftrag eines sozialdemokratischen Kanzlers! Es gibt für einen Linken in Österreich und erst recht in der BRD keinen Grund, besonders gewerkschaftsfreundlich zu sein.

Wenn wir die eigentlichen Fragen nicht stellen, dann eiern wir nur um die wirklichen Probleme herum: Wie müssen die Bedingungen und Strukturen sein, um auf nationaler Ebene und sofort darüber hinaus eine expansive Wirtschaftspolitik treiben zu können, ohne dass diese sofort zum beggar-my-neighbour verkommt? Wie ist die Ungleichheit zu vermindern? Wie hat eine Transformation auszusehen, welche dieses Namens wert ist und die Situation für die große Mehrheit auf Dauer ändert?

Führende Funktionäre der „Linken“ in der BRD glauben diese Probleme mit dem grotesken Ansatz angehen zu müssen, man könne keinen „Keynesianismus in einem Land“ betreiben. Das kann man unter EU-Bedingungen tatsächlich nicht (mehr). Aber allein dieses Motto verrät den Geist dieser Figuren à la Riexinger. Wenn sie dies dann noch erweitern und behaupten, dass sie sehr wohl Keynesianismus auf EU-Ebene betreiben wollten, zeigt dies geradezu grell die Tradition, in der sie stehen, die sie nie kritisch reflektiert haben, und die nun auf sozialdemokratische Weise weiterwirkt. Die alte Gewohnheit der Dependenz von einem großen Bruder wird einfach auf einen neuen Großen Bruder übertragen, der diesmal im Westen sitzt.

Es ist hohe Zeit, solche Mentalitäten zu überwinden

Albert F. Reiterer, 8. November 2016