Ein Sturm im deutschen Wasserglas. Varoufakis und sein „Plan C“

[Vorbemerkung: Der ursprüngliche Artikel hat Kritik auf sich gezogen. Ich habe ihn ihn somit in einigen wenigen stilistischen Punkten geändert]

Varoufakis hat Blut geleckt. Ein halbes Jahr war er nicht nur Minister. Sein originelles Auftraten damals hat ihn in den Vordergrund gespielt, es hat ihn, wie es heute so stereotyp heißt: zur Ikone gemacht. Es war ja auch erfrischend, den Finanzminister auf einem Motorrad und in der Lederjacke zu sehen, mitten unter den flanellgrauen Marionetten des Finanz­kapitals in ihren Uniformen, geistig wie auch in der Kleidung.

Das dürfte wohl auch sein größtes Verdienst gewesen sein. Denn als Finanzminister in einer akuten Krisen-Situation war Varoufakis so unfähig, dass es schon wieder schmerzte. Das würde an sich noch nicht gegen seine intellektuellen Fähigkeiten sprechen. Nicht jeder Mensch muss ein guter Politiker sein, i. S. der Fähigkeit zu organisieren und sein Ziel zu erreichen, selbst wenn er vielleicht ein guter Analytiker wäre. Aber bedauerlicher Weise trifft letzteres nicht zu auf Varoufakis. Und das ist das Problem.

Tsipras hat seinen Freund in die Wüste geschickt, als er seine 100 %-Kehrtwende vorberei­tete. Seit damals weiß Varoufakis nicht recht, wie er Aufmerksamkeit erregen soll. In Grie­chenland will niemand mehr was von ihm wissen. Zu unstet und zu „erratisch“ ist dieser „Marxist“. Bei der Abstimmung über das dritte, das Tsipras’sche Memorandum, war er beim ersten Mal abwesend. Bei der zweiten Abstimmung stimmte er dagegen, und bei der dritten dafür. Der eitle Professor wusste also eine Zeitland nicht, was er eigentlich machen sollte. Das zog sich noch bis in die unmittelbare Gegenwart.

Und jetzt: Zuerst scheint er auf beim „Plan B“ der Marke Lafontaine und Fassina. Nun ist ihm dies zu radikal. Jetzt versucht er einen „Plan C“ zu verkaufen, der in Wirklichkeit aber nur der gescheiterte Plan A ist, die auf Grund gelaufene Politik der SYRIZA Jänner bis Juni. Aber er hofft offensichtlich, in Deutschland anzukommen. Dort hat die reformistische Linke panische Angst hat vor dem Vorwurf, sie würde einen deutschen „Sonderweg“ anstreben. Und dort scheint er manchen aus der LINKEN ins Kalkül zu passen. Es geht also weder um Varoufakis noch um Griechenland. Es geht um deutsche Politik. Mit diesem „Popstar der Politik“ hoffen die Minister-Aspiranten offenbar auch, in das BoBo-Milieu der Grünen einzudringen.

Das Neue Deutschland und sein Chefredakteur Tom Strohschneider dienen diesmal als Pfad­finder. Den hat ein Kollege – von wo? Von der taz, dem Zentralorgan der Grünen! – als „sehr gewandt“ beschrieben. In Zusammensetzung mit dem Wort Wende fielen mir da noch andere Wörter ein…

Worum geht es?

Wie schon seit Jahren, murmelt Varoufakis düster was von reaktionärer und faschistischer Gefahr. Das Projekt EU dürfe nicht in die Binsen gehen. Denn nur das sei ein Bollwerk gegen den Ultranationalismus, den Rassismus und schließlich die Rückkehr der Neonazis. Daher müsse man den Zerfall der EU verhindern. Er schämt sich nicht, bei Tsipras eine Anleihe zu nehmen: Man müsse das retten, was man grundsätzlich bekämpfe, um noch Schlimmeres zu verhindern. Konkreter wird er nicht. Sein Vorschlag: Er möchte von oben herab, nicht etwa von der Basis in den Nationalstaaten, eine neue „radikal-internationalistische Bewegung“ aufbauen. Erst wenn auf übernationaler Ebene diese gewünschte Organisation steht, dürfe es auch weiter unten eine Bewegung geben, dürfen sich Leute anschließen.

Für den Herrn Strohschneider, der das am 4. Jänner 2016 an prominenter Stelle im ND an­preist, ist dieses Projekt „anschlussfähig“. Und er lässt die Katze aus dem Sack: Er möchte einen „historischen Kompromiss“. Für manche der Jüngeren ist dieser Begriff wahrscheinlich nicht mehr sehr aussagekräftig. Es war die Strategie, mit der sich Enrico Berlinguer Mitte und Ende der 1970er an die reaktionären und korrupten Christdemokraten in Italien anhängte. Er führte schließlich zum Zerfall der KPI – da war Berlinguer freilich schon tot. D’Alema zerstörte zielstrebig die Partei und wurde Außenminister. In der weiteren Folge ergab das die reaktionären Politik in den 1990ern. Unauflösbar mit dem Namen Prodi verbunden, hat sie Italien weg vom Wachstumspfad und der europäischen Überholspur gebracht. Diese Politik hat das Land zum heutigen Problemfall gemacht. Erst der Historische Kompromiss machte Figuren wie Berlusconi möglich. Aber auch Monti und Renzi wurzeln direkt im Historischen Kompromiss. Renzi persönlich kommt aus der Democrazia Cristiana .Sie sind die unmittelbaren Abkömmlinge des Historischen Kompromisses.

Das ist also die Politik, die den Hintermännern und -frauen aus dem rechten Flügel der LINKEN so attraktiv erscheint. Denn es geht in diesem Stürmchen nicht um irgend einen Herrn Strohschneider. Der Schatten des Gregor Gysi wächst riesengroß über dieser Intrige des Yannis Varoufakis.

Varoufaki’sThesen haben sich nicht geändert, seit er sie in Zagreb einer staunenden Öffentlichkeit vortrug. Auch die Version, welche die spanischen Medien El Diario und Canarias Ahora zwei Tage vorher veröffentlichten, unterscheiden sich um keinen Deut davon. Es ist kaum notwendig, hier lange herum zu polemisieren.

Aber eine gewisse außergriechische Öffentlichkeit hat den Ex-Finanzminister nun entdeckt, da er nicht mehr aktiver Politiker ist. Es ist wohl kaum das an Gustav Gründgens und seinen Mephisto erinnernde Gesicht, das den „Stern“ dazu bringt, ein richtiges Photo-Feuille­ton des Ex-Politikers zu bringen. Obwohl: Auch das soll man in einer Zeit nicht vernachläs­sigen, wo Inhalte nur zu gerne hinter einer originellen und für viele attraktive Erscheinung versteckt werden. Aber es dürfte doch um was Anderes gehen: Die Propagandisten des EU-Imperiums suchen nach einer Gestalt, welche ihre Inhalte an Menschen verkaufen kann. Und dazu ist Varoufakis bestens geeignet. Immer öfter erscheinen kurze Schriften von ihm ins Deutsche übersetzt, die in einem zeitgemäßn Stil – wer den mag – seine Sicht verbreiten. Die Weltherrschaft der USA und ihre katastrophalen Folgen (im „Globalen Minotaurus“) – wer will da schon widersprechen. Dabei übersehen sie aber die Aussagen, die dabei mit transportiert werden. Oder vielmehr: Sie übersehen sie keinswegs. Sie wünschen sie. Es ist eine Rechtfertigung für sie: Der Bösewicht der Eurogruppe muss doch was Gefährliches sagen, wenn ihn Schäuble und Dijsselbloem gar so hassen. – Und das ist der Grund, warum ihn die deutschen rechten LINKEN so brauchbar finden.

Der wichtigste Punkt in diesaer Affaire ist ein Rat an die deutschen Genossinnen und Genossen. Einige von ihnen haben etwas aufgescheucht auf die Ankündigungen des Griechen reagiert. Das ist ganz unnötig. Aber gar nicht belanglos sind die Figuren dahinter, auf gut bundesdeutsch: die Strippenzieher. Sie sind offenbar auch bereit sind, jene Partei, welche vielleicht nicht mehr ganz nach ihrer Pfeife tanzen will, so zu zerstören, wie die rechten „Linken“ in Italien sseinerzeit ihre Partei zerstört haben. Varoufakis ist mit seinem Plan C = Anicht wirklich eine Gefahr. Wenn es eine Gefahr gibt, dann ist es eine parteiinterne Intrige eines alternden Politikers der LINKEN und seines zahlreichen Gefolges. Auf die sollten die Genossen in Berlin achten.

KATALONIEN, SCHOTTLAND, QUÉBEC: SOUVERÄNITÄT ODER ABHÄNGIGKEIT? Selbstbestimmung und ihr Ziel

Katalonien hat reale Chancen auf Unabhängigkeit. Der beste Verbündete der katalanischen Separatisten war seit je die Madrider Zentralregierung. Da spielte es wenig Rolle, ob die rabiate PP sie trug oder die PSOE. Podemos, möglicher Partner einer PSOE- (Minderheits-) Regierung der nächsten Zeit, ist antiseparatistisch, aber pro-Selbstbestimmung, zumindest in der Rhetorik. Ausgerechnet in diesem Punkt ist sie also klassisch-leninistisch.

Was passiert, wenn sich Katalonien wirklich von Spanien trennt? In der Absicht der Mehrheit unter den Separatisten bleibt Katalonien einfach das 29. Mitglied der EU. Das setzt allerdings voraus, dass Brüssel-Berlin nicht verrückt spielt. Auf das kann man sich aber nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht verlassen. Den Damen und Herren dort ist ziemlich Alles zuzutrauen. Wenn sie aber rational bleiben, wenn sie ihren eigenen Vorteil bedenken, dann hat die EU ein neues Mitglied, und vielleicht in Kürze noch eines, Schottland.

Was aber hat sich dann für Katalonien und Schottland geändert? Der erste Reflex ist zu sagen: Nichts.

Hier beginnen unsere politischen und auch theoretischen Probleme.

In der Journaille läuft seit Jahren der Spruch um: 80 Prozent aller politischen Entscheidungen fallen heute in Brüssel. Das ist natürlich eine metaphorische Redewendung. Die Grundsatz­entscheidungen, das heißt der Spruch, fallen in Brüssel-Berlin. Die Implementierung im Rahmen des Systems des europäischen Verwaltungs-Föderalismus obliegt aber den National­staaten. Die EU hat nur einen Verwaltungsapparat geringen Umfangs. Das ist eine gewisse Schwäche. Sie arbeitet daher mit der gewohnten bemerkenswerten Zähigkeit daran, sich hier Kompetenzen zu verschaffen. Dazu nützt sie insbesondere Krisen. Die Bankenaufsicht („Bankenunion“) ist ein Beispiel. Ein anderes ist der aktuelle Vorschlag, den Schutz der Außengrenzen direkt zu übernehmen.

Verwaltung ist schließlich nicht einfach eine mechanische, automatische, neutrale Über­setzung der politischen Entscheidungen in den Alltag. Die Juristen, die solches stets behaupten, wissen selbst am besten, dass dies nicht stimmt. Verwaltung ist die direkte Ausübung von Herrschaft. Sie hat viel Entscheidungsspielraum. Sie gestaltet damit das konkrete Ergebnis der Herrschaft. Somit ist der Übertritt in einen Status, der autonome Verwaltung erlaubt, für eine bisherige Region nicht ohne Bedeutung. Es ist der Schritt von der subnationalen Ebene, die stets der Aufsicht der Zentralmacht unterliegt, zur nationalen Ebene, die bei aller Beschränkung mittlerweile wesentlich größere Möglichkeiten besitzt.

Aber gleichzeitig hat diese Gestaltungsmacht doch ihre engen Grenzen. Für die einzelne betroffene Person hat Verwaltungsmacht gewöhnlich wesentliche Auswirkungen, kann Schikane sein oder auch Begünstigung. Doch in einem modernen bürokratischen „Rechtsstaat“ ist einfach die vorgegebene Basisstruktur zu verwirklichen.

Zur Basis-Struktur gehört an herausragender Stelle das €-Regime. Die katalanischen Zentris­ten ebenso wie die linksliberalen Nationalisten wollen es beibehalten. Die schottischen Natio­nalisten streben sogar einen Beitritt dazu an. Damit könnte man fragen: Warum wollen sie die Krot denn eigentlich fressen – die absehbaren Turbulenzen einer Herauslösung aus dem bis­herigen Staat in Kauf nehmen? Denn diese werden wesentlich stärker ausfallen, als etwa ein Austritt aus der Währungsunion. Denn seit Jahrhunderten sind ihre politischen und sozialen Systeme mit denen des bisherigen Hegemonialstaats engst verschränkt.

Eine Unabhängigkeit hat unterschiedliche Aspekte. Der symbolische ist nicht die geringste Seite. Aber wesentlicher dürfte denn doch der (Ver-) Teilungsaspekt sein.

Katalonien ist nach dem Baskenland die höchst entwickelte territorial ausgelegte Region – d. h. ohne Madrid – in Spanien. Vielleicht ist das Schlagwort der oberitalienischen Regionalisten „Roma ladrone“ in Spanien nicht so ausgeprägt. Weit dürfte es den Katalanen doch nicht ab­liegen. Es geht also auch um die innere Umverteilung in Spanien. Das ist natürlich eine zwie­spältige Angelegenheit. Einerseits kann es den Katalanen niemand verargen, wenn sie sich nicht zugunsten eines Zentrums aussäcken lassen wollen, das sie immer diskriminiert und schlecht behandelt hat. Andererseits ist die Frage des Teilens miteinander ein Kern jeder politischen Gesellschaft. Um nicht missverstanden zu werden: Ich spreche jetzt auf einer ziemlich hohen Abstraktionsstufe. Denn die Frage des Teilens ist hauptsächlich eine der Struktur. Ob man für ein Teilen mit Strukturen, die man ablehnt, Sympathie aufbringen kann oder soll, ist eine ganz andere Frage.

Eine zweite Frage ist schließlich viel stärker politischer Art. Mit 7 1/2 Millionen Einwohner (Schottland 5,3 Mill.) und dem vergleichsweise hohen BIP (2013: 200 Mrd. €, also etwa 2 Drittel von Österreich) hätte Katalonien etwa ein Gewicht vergleichbar jenem von Österreich oder Dänemark oder Schweden. Das ist ein Kleinstaat, aber kein Mikrostaat, wie Zypern oder Luxemburg, auch nicht mehr eine solche Zwischenkategorie wie Slowenien oder die Balti­schen Staaten. Es wäre also, nennen wir das – politisch lebensfähig. Aber es wäre doch ver­hältnismäßig stark abhängig von einem Gebilde wie die EU. Denn diese würde weiterhin die Grundlinien vorschreiben. Sie würde es auch versuchen, wenn Katalonien nicht Mitglied der EU wäre. Diese Art der Abhängigkeit macht mir persönlich großes Unbehagen, wenn ich an einen anderen Kandidaten für die nationale Unabhängigkeit denke: Québec. Dort wäre die Abhängigkeit von den USA möglicher Weise schlimmer, als es jetzt die Abhängigkeit der Provinz von Kanada ist.

Mit der Selbständigkeit allein ist noch nicht allzuviel getan. Wir haben ein Muster-Beispiel in Europa, dass dies an sich völlig unzureichend ist. Irland wurde nach seiner Unabhängigkeit schnell zum katholischen Nord-Korea auf unserem Kontinent, und zwar bis gegen die Jahr­tausendwende hin. Heute hängt das Land am Gängelband der US-Konzerne und am Nasen­ring der EU. Die zwischenzeitlich hohen BIP-Kennzahlen des „keltischen Tigers“ haben verborgen, dass ein enorm hoher Teil als Gewinn-Transfers, ob direkt oder über irgendwelche Manöver verborgen, abfließt. Die Finanz- und Eurokrise hat überdies die Instabilität der Situation aufgedeckt.

Sosehr unsere Sympathie den katalanischen Souveränisten gilt, sosehr eine solche Unabhän­gigkeit die Politik aufmischen würde und damit auch neuen Überlegungen und Projekten eine Denkmöglichkeit böte, so ist doch unter uns diese Sympathie verhältnismäßig wenig disku­tiert und reflektiert. Sie hat Voraussetzungen und Folgen, die es anzusprechen gilt.

Nationale Selbständigkeit mit ihrer politischen Entscheidungsbefugnis und -fähigkeit (natio­nale „Souveränität“) ist in einer globalen Struktur, welche die Menschheit erschöpfend in unabhängige Staaten aufteilt, noch immer die Grundvoraussetzung für ein eigenständiges politisches Projekt. Dies gilt umso stärker, wenn dieses politische Projekt die bisherige Herr­schaft in Frage stellen will, eine Grundsatzentscheidung treffen möchte, einen Bruch mit dem derzeitigen System anstrebt. So ist es richtig, wenn gerade in den lateinischen Ländern, inklusive Südamerika, die Nation selbst als politisches Projekt definiert wird. Auch wir streben eine Renationalisierung an. Wir haben keinerlei Nostalgie nach einer identitären Illusion der allgemeinen sozialen Harmonie und schon erst recht nicht Sympathien für expansionistischen Chauvinismus. Wir wollen aus der Sackgasse des Imperiums heraus. Dazu brauchen wir einen radikalen Neuanfang. Wir streben die Offenheit des Systems an, um überhaupt wieder ein zukunftsorientiertes Projekt entwerfen zu können.

Das hat politische Folgen für unsere Einstellung nicht nur zu Katalonien und Schottland. Eine nationale und auch eine ethnistische Politik hat nur dann Sinn, wenn das Ziel eine solche Neuorientierung ist. Alles andere ist rückwärtsgewandte Nostalgie und belanglose Folklore. Mit der Qualifikation „ethnistisch“ will ich ausdrücken: Das gilt nicht nur für die Selbstbe­stimmung nationaler Einheiten. Dies gilt auch für Minderheiten-Bewegungen überall in Europa, auch in Österreich. Wie groß oder klein deren Umfang ist, steht unter dieser Perspektive nicht zur Debatte.

Das sind auch keine abstrakten, folgenlosen Deklarationen. Ein Großteil der europäischen Ethno- und Sprach-Minderheiten hat sich auf die EU orientiert. Diese EU unterstützt sie, solange sie brav und folkloristisch bleiben, züchtete sogar einen eigenen Verein namens EBLUL heran. Kann es seitens der Minderheiten ein größeres Missverständnis geben? In ihrem Eifer, sich gegen den eigenen Zentralstaat und deren hegemonialen Machthaber mit den Antinationalen zu alliieren, übersahen sie, dass diese „eigenen“, „nationalen“ politischen Eliten längst die Speerspitze des antidemokratischen Supranationalismus darstellen. Anstelle von Selbstbestimmung, Demokratie, Emanzipation unterstützen europäische Minderheiten in ihrer großen Mehrzahl heute Zentralismus, Bürokratie und Unterordnung.

Ein selbständiges Katalonien gibt die eigene Selbständigkeit sofort wieder auf, wenn es in der EU bleibt. Ein selbständiges Schottland wird weniger selbständig als heute sein, wenn es sich in den Euro-Raum drängt.

Aber das würde nicht nur Katalonien und Schottland, demnächst dann vielleicht Korsika und das Baskenland, betreffen. Eine solche Politik der neuen Abhängigkeit hätte Folgen für alle anderen Bewegungen, welche sich auf die eigene Identität berufen, um mehr Autonomie und Selbstbestimmung zu erlangen. Eine solche Politik der Reduzierung des eigenen Anspruchs auf Sprachfragen und ohnehin kaum gegebene kulturelle Differenz oder Diversität würde jeden subnationalen Anspruch auf Bestimmung über sich selbst auf Dauer und irreparable beschädigen. Der emanzipativ-demokratische Anspruch der nationalen und ethnischen Bewegung wäre nach einem solchen Beispiel verloren. Wer weiß: Vielleicht wäre eine solche Desillusionierung auch heilsam für manche souveränistischen Flausen. Dann allerdings brächte ein solches Paradigma Katalonien tatsächlich eine noch viel radikalere Neuorientie­rung als wir es uns vorstellen.

  1. Dezember 2015

Die Krise des spanischen Regimes: Wiederholt sich Griechenland auf der iberischen Halbinsel?

Wer dachte, dass mit der Kapitulation des griechischen Premier Tsipras vor den EU-Institutionen die Eliten in Brüssel und Berlin wieder alles im Griff hätten, hat sich geirrt. Die EU erodiert weiter aufgrund tiefer struktureller Wiedersprüche, die wieder und wieder zu politischen Krisen und Instabilität führen. Lange hat es nicht gedauert seit dem griechischen Kniefall vor seinen Gläubigern am 13. Juli, bis sich nun, kaum fünf Monate später, auf der iberischen Halbinsel ein neues griechisches Szenario ankündigt, mit vielen Ähnlichkeiten und einigen neuen Aspekten.

Das Panorama ist überall an der südeuropäischen Peripherie (und nicht nur dort) dasselbe: mit der Wirtschaftskrise 2008 brach das Kartenhaus des kreditfinanzierten Wachstums in sich zusammen. Der Aufschwung nach dem Eurobeitritt war auf Sand gebaut. In Spanien auf einer Immobilienblase, die 2007 mit massiven Privatkonkursen, Banken- und Unternehmenspleiten implodierte. In der Folge schnellte die Arbeitslosigkeit von einem Rekordtief von 8 % auf über 26 %, der Staat rutschte durch versuchte Konjunkturbelebung, Bankenrettung, Steuerausfälle und steigende soziale Kosten ins Minus mit einem maximalen Haushaltsdefizit von -11.2 % des BIP im Jahr 2009. Es folgte ein Austeritätsprogramm dem anderen, zwischen 2012 und 2014 unter Aufsicht der Troika. Das bedeutete wie in anderen Ländern eine Schuldenbremse in der Verfassung (Reform des Artikels 135 der Verfassung: Schuldenrückzahlung prioritär vor allen anderen Staatsausgaben), weitere Prekarisierung des ohnehin erschreckend deregulierten spanischen Arbeitsmarktes, Abbau der sozialen Sicherheit und Einschränkung der Geldflüsse an die Regionen. Das war der Stoff, aus dem das Ende der PSOE-Regierung Zapatero (angetreten als scheinbar linke Sozialdemokratie gegen den erzreaktionäre Bush-Unterstützer Aznar) und der Ausbruch der Massenproteste der Empörten „Indignados“ im Mai 2011 auf die Plätz des Landes gemacht war. Diese soziale Mobilisierung unter der Losung „sie repräsentieren uns nicht“ war der Beginn der neuen Linkspartei Podemos von Pablo Iglesias, die seit den Europawahlen 2014 (8 % der Stimmen) die Altparteien auf dem institutionellen Terrain herausfordert.

Trotz eines leichten Abschwungs von Podemos in den Regionalwahlen und Umfragen 2015 bis knapp vor den Wahlen im Dezember – die Ursachen sind vielfältig, aber sicher spielte der recht schwankende Diskurs hinsichtlich der katalanischen Unabhängigkeit wie auch die Rückendeckung für den Kniefall von Alexis Tsipras eine wichtige Rolle – konnte die Partei bei den Parlamentswahlen am 20. Dezember mit 20.7 % einen großen Erfolg erzielen. Entgegen der Hoffnungen der spanischen und europäischen Eliten war es nicht die bürgerliche Erneuerungspartei Ciudadanos (eine klare Pro-Austeritätspartei und eingefleischte Verfechterin des spanischen Zentralismus gegen die Selbstbestimmungstendenzen der Katalanen und Basken), die der Überraschungssieger wurde, sondern doch die Linke. Stimmenmäßig blieben Pablo Iglesias und seine verbündeten Gruppierungen in den autonomen Provinzen nur knapp hinter der PSOE (22 %), obgleich das spanische Wahlrecht den zwei Regimeparteien PSOE und PP einen etwas größeren Mandats-Vorsprung sichert. Es sei angemerkt, dass im Vorfeld intensiv ein Bündnis mit der Vereinigten Linken (IU, Izquierda Unida) diskutiert wurde, das Iglesias aber ablehnte – unter dem Vorwand sich mit keinerlei „Altpartei“ einlassen zu wollen. Ein solches Bündnis hätte den Mandatsabstand zu den Regimeparteien deutlich minimiert – wenn auch der Hauptleidträger bei den Wahlen die IU war, die 3,25 Prozentpunkte an Stimmen und 9 Mandate (!) verlor. Die zweite Linksformation, die von Podemos überrannt wurde war die baskische Unabhängigkeitsbewegung um die Partei Euskal Herria Bildu (- 5 Mandate). Der gegenüber der Unabhängigkeit offene Diskurs von Igleasias – „das Volk solle entscheiden“ – und seine klare Anti-Austeritätslinie sicherten ihm eine breite Unterstützung in Katalonien (24,7 %; nicht zuletzt dank der populären Podemos-nahen Bürgermeisterin von Barcelona Ada Colau) und im Baskenland (25,97 %).

Das spanische Establishment ist erschüttert. Etwa ein Drittel der Stimmen gingen den alten Systemparteien PP und PSOE verloren. Das Land steht vor einem ungelöstem Konflikt mit der katalanischen Regionalregierung, den die PP-Regierung unter Mariano Rajoy bis zu dem Punkt eskalieren ließ, an dem es selbst für die alten bürgerlichen Autonomisten der CiU (Convergència i Unió) um Artur Mas nur mehr den Ruf nach Unabhängigkeit gab – wovon vor allem die Linke (die sozialdemokratische Katalanische Republikanische Linke, ERC, und die linksradikale Kandidatur der Volkseinheit, CUP) profitierten. Erstere wurde bei den Parlamentswahlen viertstärkste Partei mit 9 Mandaten und potentielles Rädchen am Wagen einer Linkskoalition, zweitere reif zum Wahlboykott auf. Im Baskenland ist die Situation ohnedies seit Jahren verfahren. Und die Jubelrufe über Spaniens Überwindung der Krise (2014 verließ das Land den Rettungsschirm und konnte sein Haushaltsdefizit deutlich verbessern) sind auf dünnem Eis: weiterhin liegt die Arbeitslosigkeit bei 22 %, die der Jugend bei 47 %. Und der schwache Aufschwung hat 2015 sofort wieder das Leistungsbilanzdefizit ansteigen lassen.

Spanien ist in einer tiefen strukturellen Krise, seit Ende der 1980er Jahre hat das Land seine industrielle Basis verloren und ist zu einer peripheren Dienstleistungsökonomie (Tourismus) mit chronischem Leistungsbilanzdefizit, nicht wettbewerbsfähiger Industrie und hoher struktureller Arbeitslosigkeit geworden. Daran ändern die wenigen international tätigen spanischen Vorzeige-Multis (z.B. Telefónica, Repsol) und der Immobilienboom 2000-2007 nichts. Das Land hat kein tragfähiges ökonomisches Modell. Die Globalisierung und seine europäische Form, die EU von Maastricht bis zum Fiskalpakt, haben es zu einem Peripherieland degradiert, in dem die sozioökonomische Erosion nun endlich zu einer ernsten politischen Krise geführt hat.

Wie diese Krise enden wird ist offen. Irgendjemand wird politisch sterben. Verkauft sich die PSOE der PP im Sinne der Regierbarkeit (wie es Ciudadanos-Chef Albert Rivera forderte, aber von der PSOE vorerst ausgeschlossen wurde) so droht ihr das Schicksal der griechischen PASOK. Verkauft sich Podemos zu billig der PSOE ist ihr Aufstieg schnell beendet – ein Szenario, das nach dem Erfolg vom Sonntag wenig wahrscheinlich ist. Doch selbst die Minimalforderungen von Pablo Iglesias für eine Koalitionsbildung – vor allem die Sicherung sozialer Rechte und eine Lösung der nationalen Frage im Sinne des Selbstbestimmungsrechts – sind kaum mit dem herrschenden politischen und ökonomischen Rahmen vereinbar. Und dieser ist europäisches Recht und in die spanische Verfassung gemeißelt. Ob sich die PSOE der Podemos-Idee eines verfassungsgebenden Übergangsprozesses anschließen wir ist eher unwahrscheinlich. Daher haben die bürgerlichen Kommentatoren wohl nicht ganz Unrecht, wenn sie das Gespenst der Unregierbarkeit an die Wand malen.

Trotzdem sollte man realistisch bleiben: Podemos wird wohl kaum die totalen Umwälzung anführen. Das hat Syriza nicht leisten können und von Beppe Grillo in Italien ist es auch nicht zu erwarten. All diese neuen Formationen sind teils politische Krisenprodukte mit unzureichender programmatischer Substanz, teils sind sie in den ideologischen Fesseln des traditionellen linken Diskurses eines sozialen Europas gefangen. (Es ist schwer zu sage, was schlimmer ist.) Und Griechenland hat nun einmal den steinharten Beweis der Unreformierbarkeit des Euro-Regimes erbracht. Nicht nur wegen der Unnachgiebigkeit der Deutschen, sondern aufgrund der Untragbarkeit der ökonomischen Struktur, die die EU und die Währungsunion hervorgebracht haben. Daran wird auch das größere Gewicht Spaniens nichts ändern. Selbst die elementare Forderung nach dem Ende der Austerität ist daher radikal und konfrontativ.

Wir hoffen, dass Pablo Iglesias‘ Podemos möglichst hart bleiben wird bei ihrem Anti-Austeritätskurs und bei ihrem Versprechen an die unterdrückten Nationen im spanischen Staat, dass sie über ihre Zukunft selbst entscheiden sollen. Wenn das so ist, dann wird Podemos sich früher oder später mit der Frage eines „neuen produktiven Modells“, wie sie es in ihrem Programm nennen, konfrontiert sehen und damit mit der Tragbarkeit der spanischen Mitgliedschaft im Euroraum. Auch Podemos wird sich mit dem Plan B auseinandersetzen müssen, den Alexis Tsipras für Griechenland verweigert hat.

Spanien – wie auch Portugal und in leider rechter Form Frankreich – sind in jedem Fall der nächste Weckruf an die europäische Linke, sich kollektiv dieser Frage des Plan B zu widmen. Hier liegen die Zukunft eines neuen politischen Projekts und auch die einer neuen sozialistischen Alternative.

Gernot Bodner

 

Spanien, Frankreich, Portugal, Dänemark: Die Erosion der EU geht weiter…

Diskussionsveranstaltung zu den jüngsten Entwicklungen und ungelösten Gegensätzen in der EU sowie den Chancen einer linken Alternative gegen Euro und EU vor dem Hintergrund der Ende Januar geplanten Plan-B-Konferenz in Paris („Varoufakis-Fassina-Lafontaine-Melenchon-Initiative“).

Montag, 21. Dezember, 18.30 Uhr Gußhausstrasse 14/3, 1040 Wien

In Frankreich war es eine Ohrfeige von rechts für das politische Establishment. Vor allem die Sozialisten flüchteten in die verzweifelte Einheitsfront mit den Konservativen – einzig und allein zur Systemrettung vor Marie Le Pen. Und dabei ist wohl jedem klar, dass der Ausschluss der Front National vom Regieren in den Regionen ein Pyrrhussieg ist. Wird in Spanien die nächste Niederlage der Systemparteien kommen, diesmal von Links mit Podemos? Zweifellos wird Podemos am Sonntag eine wichtige Position bei den Parlamentswahlen erringen und damit den Manövrierraum der etablierten Parteien einschränken. Nicht zuletzt auch in einem turbulenten Kontext, wo die nationale Frage in Katalonien in einer Sackgasse steckt, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt. Bedauerlich ist, dass sich bereits im Wahlkampf wieder einmal deutlich systemkonformere Signale von links kommen als rechts im Falle Frankreichs. Die Suche nach Stimmen aus der Mitte heißt für die Linke zuvorderst wieder einmal, den Euro als den wirtschaftlichen und politischen Rahmen als sakrosankt zu erklären. Nach dem Scheitern von Syriza eine noch unverständlichere Selbstbeschränkung. Im Nachbarland Portugal steht nach einem kurzen präsidialen Putschversuch zugunsten einer rechten Troika-Regierung nun doch eine linke Regierung um die Sozialisten, getragen durch die parlamentarische Unterstützung von Linksblock und Kommunisten. Und wiederum steht hier das griechische Dilemma auf der Tagesordnung: Rücknahme der Austerität als Konsens und Ziel, aber ohne Aufkündigung der Euro-Diktate. Auch hier steht Europa vor einem neuen Fall politischer Instabilität, dessen Ausgang nicht ausgemachte Sache ist und der Anti-Euro-Linken wiederum eine wichtige Rolle geben kann. Weitgehend von der Öffentlichkeit übersehen blieb indes das Referendum in Dänemark, in dem sich mehr als 50 % der Wähler gegen die engere Einbindung in die EU-Innen- und Justizpolitik aussprachen. Ein klares Nein zu Vertiefung der EU-Integration und die Beibehaltung bestehender Souveränitätsrechte des Landes – getragen wesentlich von der linken Anti-EU-Bewegung des Landes. Im Rahmen einer Diskussion wollen wir uns anhand dieser jüngsten Fälle über die ungelösten Gegensätze in der Eurozone austauschen und, auch vor dem Hintergrund der Ende Januar geplanten Plan-B-Konferenz in Paris („Varoufakis-Fassina-Lafontaine-Melenchon-Initiative“), die Herausforderungen für eine linke Alternative gegen Euro und EU debattieren.

DIE WIRTSCHAFTLICHEN FOLGEN DER FINANZKRISE: Was kostet uns der Euro an BIP-Wachstum?

Was kostet uns der Euro an BIP-Wachstum?

„Potential Output“ ist eine etwas zweifelhafte Größe. Sie bezeichnet das, was vielleicht hätte passieren können, wären die Umstände für ein Wirtschaftsgebiet so gewesen, wie im Schnitt der ökonomischen Umwelt und in der Erfahrung der letzten Jahre. Wenn also nach der realen Entwicklung und ihrem Unterschied zum Potenzial-Produkt als Folge der Finanzkrise gefragt wird, müssen wir diesen höchst hypothetischen Charakter des Referenz-Begriffs stets mit bedenken. Dazu kommt: Das Konzept vernachlässigt – bis auf die Durchschnitts-Bildung – , dass Konjunkturen und damit auch „normale“ Abschwünge eine absolut unvermeidliche Charakteristik von nicht geplanten Wirtschaften sind. Denn erst durch sie findet die reale Steuerung von Marktwirtschaften und die Anpassung der einzelwirtschaftlichen Pläne an die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen statt.

Trotzdem hat dieser Begriff einen gewissen Nutzen in Zeiten von Krisen und tiefen Einbrü­chen. Man darf seine Größe nur nicht gar so wortwörtlich nehmen, sondern als groben Hin­weis. Doch die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern sind hoch interessant, wenn man nach den Wirkungen der Finanzkrise fragt (Ball 2014). Man könnte interpretierten: Die Abweichung vom Potenzial-Wachstum zeigt an, in welchem Maß einzelne Wirtschaften die Gegebenheiten nach 2008 genützt haben, und wieweit sie sein könnten, wäre diese Krise und ihre politische „Bewältigung“ nicht aufgetreten.

Sehen wir uns auf diese Frage hin die Tabelle der eben genannten Publikation an!

Sie enthält neben den westlichen Ländern (plus Ungarn und Tschechien) der EU die Schweiz sowie einige andere OECD-Staaten (USA, Australien, NZL, Canada). Auffällt als erstes, dass die Nicht-EU-Wirtschaften durch die Bank besser dastehen, auch die USA, wo die Finanz­krise schließlich ihren Ausgang nahm. Besonders auffällig ist die Schweiz. Dieses Banken­land, das doch besonders schwer getroffen sein müsste, wäre die Finanzkrise „nur“ eine Finanzkrise, weicht in die Gegenrichtung ab: Das reale Wachstum überschreitet das Poten­zial-Wachstum, so merkwürdig dies klingt. (Es sei nochmals an den Zweifel am Begriff selbst erinnert!)

Doch damit ist das Interesse an dieser Tabelle keineswegs erschöpft. Deutschland weicht von seinem Potenzial auch nicht ab, ja würde, nach dieser Rechnung, 2015 tendenziell sogar einen „negativen output-gap“ haben, also mehr produzieren, als man es nach langjähriger Perfor­manz erwarten könnte. Die Satelliten des seinerzeitigen DM-Blocks hingegen hätten leichte Verluste zu verzeichnen: Österreich, die BeNeLux-Länder, auch Schweden. Wieder ist zu erinnern: Der Effekt einer gewöhnlichen Rezession ist hier nicht berücksichtigt. Man kann also sagen: Wir können es nicht auf das Komma sagen, was uns diese Währungsunion wirklich kostet. Nach dieser Kennzahl hätten diese Länder des Zentrums wirtschaftlich nicht viel verloren, jedenfalls aber nichts gewonnen. Dasselbe gilt übrigens auch für Frankreich, und das ist wichtig und interessant.

Die eindeutigen Verlierer aber sind der Olivengürtel sowie Ungarn und Tschechien. Die anderen Länder der Osterweiterung scheinen mit Ausnahme Polens nicht auf. Über Polen später noch ein Satz. – Griechenland, mit geringem Abstand Irland, Ungarn und Spanien, aber auch Portugal und Italien, doch auch Finnland und Großbritannien, also zwei Länder des „Nordens“, haben schwer gelitten und leiden weiter.

Polen scheint es gelungen zu sein, nach dem überlangen Abstieg nach der „Wende“ sich den letzten Turbulenzen etwas zu entziehen. Woran dies liegt, außer daran, dass irgendwann selbst nach der tiefsten Krise eine gewisse Erholung kommen kann, die im Übrigen noch nichts über den Vergleich des Niveaus von seinerzeit und heute sagt, ist hier nicht völlig klar.

Das Bild ist klar genug, auch wenn man sich nicht völlig auf die schein-genauen Zahlen verlassen kann. „Deutschland“ – wer immer dies ist, ist eine andere Sache – hat durch die Finanzkrise gewonnen. Zur gesteigerten politischen Macht mit dem Anschluss der DDR kam eine Restrukturierung der europäischen Wirtschaft, die dieses Land so unbestritten an der Spitze sieht, wie es seit wilhelminischen Zeiten nicht mehr der Fall war. Auch Frankreich ist relativ nun eindeutig zweite Klasse. Über die anderen Probleme, den Abbau der Demokratie, die langsame aber zielstrebige Zerstörung des bisherigen Sozialstaats durch den Fiskalpakt, die zunehmend aggressive Außenpolitik, sprechen wir hier nicht. Das deutsche Mitteleuropa, das Kriegsziel des Ersten Weltkriegs, ist nun Wirklichkeit.

  1. Dezember 2015

Ball, Laurence (2014), Long-term damage from the Great Recession in OECD countries. In: European Journal of Economics and Economic Policies 11, 149 – 160.

AUßENHANDELSÜBERSCHÜSSE, STAATSVERSCHULDUNG UND PROFITE. Die Gedankenspiele der Ökonomen und ihre realen Bedeutungen

Profit lässt sich zerlegen in: Konsum der Kapitalisten, Investition, den Außenhandels-Über­schuss und die laufende (Netto-) Staatsverschuldung. Dies ist eine originelle „Analyse“ von Michał Kalecki (1899 – 1970). Der war ein polnischer Ökonom und Links-Keynesianer; manche nennen ihn ehrfürchtig einen Vorläufer von Keynes. Er legte dabei Kreislauf-Überlegungen zu Grunde. Die Aussage soll als das gesehen werden, was ökonomische „Theorie“ die längste Zeit war und ist: ein „Längeres Gedankenspiel“ – © Arno Schmidt; Schmidt sprach dabei allerdings von Belletristik und Karl May, nicht von so seriös-gravitä­tischen Wissenschaften wie der Ökonomie. Es war übrigens Joan Robinson, eine andere Links-Keynesianerin, welche diesen Charakter der Ökonomie hervorhob, zumindest in ihren Anfängen.

Diese Zerlegung beruht zwar auf einer „heroischen Simplifizierung“ (Hyman P. Minsky). Aber sie gibt einen höchst anregenden Ausgangs-Impuls. Obwohl ein Kreislauf-Argument, weist sie nämlich auf die Motivation hin, welche z. B. die deutsche Wirtschaft und die deutsche Wirtschaftspolitik in ihrer schon fast verrückten, jedenfalls aber destruktiven Jagd nach Außenhandels-Überschüssen treibt. Export-Überschüsse sind eine der wesentlichen Quellen, woraus sich hohe Profite alimentieren. Um solche aber zu erreichen, braucht es vorher schon niedrige, „zu niedrige“, Löhne. Insofern zäumt man mit dieser Behauptung das Pferd beim Schwanz auf.

Flassbeck und Genossen aus der linkskeynesianischen Tradition haben auch diesen Zugang gewählt. Sie sind damit auf dem besten Weg, die fundamentale Rolle der Verteilung für die derzeitigen Probleme zu erkennen. Im Weg steht ihnen nur mehr der Keynesianismus selbst. Mit seiner vordergründigen Betonung des Kreislaufs vergisst Keynes ständig auf das viel fundamentalere Problem der Verteilung. Er übersieht den Wald vor lauter Bäumen.

Bei dieser Kalecki-Formel stellt sich aber eine wesentliche politische Frage: Wenn Profite, unter anderem, aus Staatsschulden bestehen, warum stellen sich dann die Konservativen so erbittert gegen Staatsschulden?

Dafür gibt es eine Reihe von Motiven.

Das erste und wahrscheinlich unwichtigste ist rein dogmatischer Natur. Für neoklassische und heute neoliberale Ökonomen ist der Staat an sich des Teufels. Nochmals ein Schlenker zu Kalecki: Er nennt die Netto-Verschuldung einen „Binnen-Export“. Die groteske Vorstellung dahinter ist: Der Staat „gehört nicht zur Wirtschaft“. So ist es kein Zufall, dass es insbesonde­re die Professoren sind, welche besonders grimmig gegen die Staatsverschuldung wüten. Sie haben allerdings Einfluss auf die Politik, wo ihre Adlaten sitzen, ob in der EZB, der EU-Kom­mission oder im Fed.

Die Abneigung gegen den Staat wuchs umso stärker, als der Staat seit dem Zweiten Weltkrieg für kurze Zeit zum Sozialstaat wurde. Damit kommen wir zum zweiten Motiv. Das ist wesent­lich wichtiger. Staat hat in der Periode des Politischen Keynesianismus mit einem gewissen Erfolg versucht, die Primär-Verteilung ein wenig zu korrigieren. Die Mittel- und Unterschich­ten sollten eine Garantie gegen die unvermeidbaren Wechselfälle des Lebens erhalten, spezi­ell auch gegen die Arbeitslosigkeit. Das ging nicht nur teilweise (aber nur teilweise!) auf Kosten der Profite und der besser Verdienenden. Vor allem schwächte es kurzfristig die Verhandlungs- und Macht-Position des Kapitals. Ein wesentliches Disziplinierungs-Mittel verlor einige seiner Giftzähne.

Schließlich aber strebt das Kapital im allgemeinen und das Finanzkapital im besonderen eine gesellschaftliche Organisation an, wo es selbst die Rahmenbedingungen festlegt und die Lebensumstände der Menschen bestimmen kann. Staat ist, insbesondere in Zeiten des allgemeinen Wahlrechts, stets ein Risiko-Faktor für die Herrschenden der Grundstruktur. Nicht dass man daher die sich anbietenden Profite aus der Staatsverschuldung verachtet – ganz im Gegenteil. Aber vor die Wahl gestellt, ob man sie einstreift oder ob man eine Deregulierung bevorzugt, ist zumindest für das Finanzkapital die Wahl klar.

Keynesianismus will die Nachfragelücke in einer Unterkonsumtions-Situation füllen: Die kann durchaus auch ein „Gleichgewicht“ auf zu tiefer Ebene sein, wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht. Dazu ruft er den Staat auf, sich zu verschulden. In Kaleckis Gedankengang und in der Wirklichkeit heißt das: indem er nochmals die Profite erhöht. Damit sollte aber klar sein: Das heißt den Teufel mit Belzebub austreiben. Das kann auf Dauer gar nicht funktionieren. Irgendwann muss der Staat die Schulden zurück zahlen. Mit welchen Mitteln? Außerdem heißt dies in der Logik von Kalecki: Er senkt diesmal die Profite.

Wenn man aber von der Verteilung ausgeht und dazu auch noch die Kreislauf-Analyse be­rücksichtigt, bietet sich eine ganz andere Politik an. Offensichtlich sind die Profite zu hoch, nicht zu niedrig. Man muss die Verteilung korrigieren. Ein erster Schritt dazu wäre: Man muss die überschüssigen Profite wegsteuern, um die Nachfragelücke zu verkleinern bzw. zu füllen.

Aber das ist noch nicht Alles. Keynesianische Politik in einer Welt der offenen Grenzen und der Kapitalverkehrs-Freiheit zwischen Gebieten (Ländern) unterschiedlicher Produktivitäts-Entwicklung ist an sich bereits zum Scheitern verurteilt. Wenn die 300 Mrd. € des Herrn Juncker – die sich bei näherem Zusehen noch dazu auf läppische 3 Mrd. € reduzieren – irgend einen Effekt tun sollten, werden die Milliarden dorthin fließen, wo sie am ehesten und am leichtesten einen Gewinn erkennen. Dann werden sie die deutsche Wirtschaft ein klitzeklein wenig fördern und so die Differenzen zur Peripherie noch vergrößern.

Quantitative Easing hingegen ist die kostspieligste und im Aufwand-Ertrags-Verhältnis am wenigsten effektive Art der Wirtschaftspolitik. Dieser monetaristische Keynesianismus verfolgt offen das Ziel, die ohnehin hohen Profite nochmals zu steigern. In den USA hat er nach mehr als einem halben Jahrzehnt ein bisschen Wirkung gezeigt – aber zu welchen Kosten! Der Gini-Koeffizient zeigte in der Finanzkrise einen kleinen Knick nach unten. Nunmehr geht er wieder nach oben. Und dabei ist der Gini-Koeffizient keineswegs das geeignetste Maß für das Thema hier. Viel interessanter wäre der Anteil des obersten Prozents bzw des obersten Promilles. Völlig zu Recht weist Stiglitz immer und immer wieder auf diesen Anteil hin.

Die EU und die EZB waren durch ihren Dogmatismus unter deutscher Fuchtel eine Zeitlang verhindert, diesen für ihre eigentliche Klientel so erfreulichen Effekt zu erkennen. Jetzt haben sie offenbar ihren Fehler eingesehen. Nun treiben auch sie es seit einer Zeit schon mit QE.

Keynesianische Politik will kurzfristig die Stagnation überwinden, erhöht aber auf Dauer die Profite. Das wäre schlimm genug. Doch mittlerweile kommt noch was Schlimmeres hinzu: Keynesianische Politik funktioniert einfach nicht mehr.

Die Folgerung daraus ist: Es muss Rück-Umverteilung geben. Da dies aber in der EU nicht möglich ist, mag jede und jeder die Konsequenzen selbst ziehen.

Kalecki, Michał (1976), Werk-Auswahl. Rezession und Prosperität im Kapitalismus. Mit einer Einleitung von Dr. Karl Kühne. Neuwied: Luchterhand.

Minsky, Hyman P. (1995), Financial Factors in the Economics of Capitalism. In: J. of Financial Services Research 9, 197 – 208.

Stiglitz, Joseph (E.) (2015), Reich und Arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft. München: Siedler.

AFR, 17. Dezember 2015

INTERNATIONALISMUS UND RENATIONALISIERUNG: Eine linke Strategie

Vorbemerkung: Dies ist die Antwort auf eine Kritik an einigen meiner Texte. Da es einen Kernpunkt unserer Debatten betrifft, halte ich es für sinnvoll, dies allgemein zugänglich zu machen.

Renationalisierung ist ein Reizwort. Für wen? Nicht nur im deutschen Sprachraum, vor allem aber dort, ist heute für Intellektuelle der Marker ihrer sozialen Existenz schlechthin ein spezifischer Universalismus. Für sie wirkt also der Begriff wie ein Fausthieb. Der Großteil der Bevölkerung hingegen ist an diesen Auseinandersetzungen, wie am gewöhnlichen politischen Diskurs insgesamt, wenig interessiert. Für die bedeutet somit auch dieser Slogan nicht allzu viel. Er ist zu abstrakt.

Wozu also mit diesem Ausdruck provozieren, wenn er das potenzielle Ziel-Publikum ohnehin kalt lässt?

Die Frage habe ich mir tatsächlich mehr als einmal gestellt. Ich war drauf und dran, ihn aus taktischen Erwägungen aufzugeben. Schließlich entschied ich mich doch, ihn weiter zu benutzen – wie ich glaube, aus einer Reihe guter Gründe.

Die Linke ist in unseren Breiten auf marginale Intellektuellen-Gruppen geschrumpft. Es wäre eine Verleugnung der Realität, dies nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir sind also Teil einer mehr intellektuellen als politischen Debatte und haben den Schritt in den politischen Diskurs noch nicht wirklich geschafft. In diesem intellektuellen Kontext aber macht das Konzept Sinn, gerade auch wegen seiner provokatorischen Wirkung. Es stellt sich nämlich quer zu jenem Universalismus der Eliten, welcher das gerade Gegenteil von Internationalismus ist, aber von vielen Linken grotesker Weise damit verwechselt wird.

Zusätzlich bedeutet es auch einen gewissen Bruch mit einer sozialistischen Tradition, welche in blauäugiger Weise noch immer die Dominanz intellektueller Philosophen-Könige in der Arbeiter-Bewegung übersehen möchte – und das nach dem Ende des 20. Jahrhunderts und seinen Katastrophen. Denn der herrschaftliche Charakter dieser Intellektuellen-Truppe stand jenem der globalen Elite in nichts nach. Es geht also, erstens, darum, die ständige Tendenz zur neuen Herrschaft einer kleinen Gruppe in Frage zu stellen, indem man auf die Gefahren verweist, welche das prinzipielle Überschreiten der Alltags-Lebenswelt der großen Masse mit sich bringt und mit sich bringen muss. Es geht, zweitens, auch darum, die eigene Stellung etwas zu relativieren.

Praktisch-politisch kommt dazu: Die radikale Linke des europäischen Südens ist inzwischen weitgehend souveränistisch orientiert. Da Souveränität ein Fetisch-Begriff der Staats-Theore­tiker ist, birgt dies durchaus auch Gefahren. Aber gleichzeitig ist es eine Orientierung auf ein sinnvolles politisches Aktions-Feld. Eine neue politische Aktivität muss also erst im Alltag des Kommunikationsverbunds einsetzen, den wir Nation nennen.

Die angeblich so universalistischen europäischen Eliten sind ihrerseits ja durchaus national verankert. Sie beziehen ihre Macht aus der herrschenden Nation und ihrer Politik. Wer sind die führenden Bürokraten in Brüssel, und welche Interessen vertreten sie? Wenn uns Varou­fakis irgend etwas mitgeteilt hat, so ist es die gerade ängstliche Abhängigkeit der EU-Finanz­minister von jedem Mienenspiel Schäubles. Alle bemühen sich, ihm nach dem Mund zu reden. Da kann er sich schon den Luxus leisten, das Wort zeitweise Dijsselbloem zu überlassen. Die deutschen Eliten und Politiker haben sich also „europäisiert“, indem sie die deutsche Ideologie und Politik auf Europa ausgedehnt haben. In dieser Struktur eine Machtprobe gewinnen zu wollen, heißt doch wohl, vor sich hin zu träumen. Allein aus diesen Gründen muss man diese Struktur verlassen, um nur die geringste Chance zu haben. Griechen, Portugiesen, Spanier und Italiener können gegen die Deutschen und ihre Hilfstruppen schlichtweg in diesem Rahmen nicht gewinnen, selbst wenn ihre Regierungen es wollten.

Die intellektuelle These Renationalisierung wird auf diesem sehr kurzen Weg zur politischen These des national organisierten sozialen Staats, des „Sozialstaats“. Den möchten die übernationalen Eliten nämlich so schnell wie möglich auf den Misthaufen der Geschichte verfrachten, und sie sind damit schon sehr weit gekommen. An die Stelle einer sinnvollen Politik mit Ansätzen eines kollektiven Vorsorgestaats im Rahmen einer Steuerung der ökonomischen Entwicklung, des Produktions- und Verteilungs-Apparats, trat Armuts-Politik: „Politik gegen Armut und Ausgrenzung“, wie es im EU-Programm so zynisch heißt.

Für diese Kräfte ist Renationalisierung eine Provokation. Ihre Stärke besteht u. a. darin, dass sie auf die teils naive, zum großen Teil aber durchaus bewusste Unterstützung von „Gutwil­ligen“ zählen können. Umso dringlicher ist es, dass Tabu zu brechen. Der Paukenschlag des Begriffs mag viele abschrecken. Aber er ist einmal notwendig, um manche aufzuwecken. So wie es heute bereits zum politischen Akt wurde, zustimmend Marx zu zitieren, so ist es die Berufung auf die nationale Lebenswelt der Bevölkerung erst recht. In Wirklichkeit führen wir damit einen Kulturkampf gegen die unerträgliche Arroganz der hegemonialen Öffentlichkeit: Wir stellen uns damit auf die Seite der Unterschichten. Im Gegensatz zur Rechten wissen wir aber, dass dies nur ein Schritt sein kann; dass wir an einer intellektuellen Debatte weder vorbei kommen, noch vorbei wollen; dass wir keine Bewunderer von primitiven Emotionen sind; dass wir einen rationalen Diskurs anstreben.

Albert F. Reiterer, 16. Dezember 2015

„FLÜCHTLINGSKRISE“ ODER KRISE DES NATIONALSTAATS?

Die deutsche Regierun, dann die österreichische, anschließend die slowenische und soweiter rückwärts, haben auf Wienerrisch gesagt, den Scherbn auf.

Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel löste Mitte des Jahres mit einer unbedachten Bemerkung den neuesten präzedenzlosen Zustrom von Kriegs-Flüchtlingen und Migranten aus. Sie dachte damals wohl kaum daran, dass sie damit eine Krise der deutschen Politik und eine Gefähr­dung ihrer eigenen bisher so sicheren Stellung bewirken würde. Doch das Geschehen wird rundum auch als eine Krise der EU gewertet.

Eigentlich ist dies wenig verwunderlich. Zwar könnte man rational eine Zuwanderung von einer Million verkraften. Doch Merkel müsste dazu nicht nur ihren Fehler eingestehen. Das verweigerte sie bisher hartnäckig, nach bewährten Muster, ob in der Ukraine-Politik oder . gegenüber Syrien. Auch zeigt es sich, dass die Konstruktion der EU ein Problem darstellt. Sie beruht bisher darauf, dass das Zentrum Berlin-Brüssel die Politik vorgibt, welche dann in einem Verwaltungs-Föderalismus von den nationalen Mitgliedern nachvollzogen wird. Das Verwaltungs-Monopol der Nationalstaaten gibt ihnen aber auch die Möglichkeit, in heiklen Teilbereichen die Politik des Zentrums zu sabotieren. Dazu zählen alle Fragen, welche zur Identitäts-Problematik gehören. Dass Einwanderung ein Teil davon ist, steht außer Frage. Damit stellt sich also an einem Feld, welches rational betrachtet sicher nicht zentral ist, die Grundfrage des EU-Staats.

An der Flüchtlings- und Migrationsfrage des Herbstes 2015 hat sich ein Staatsversagen offenbart, das in diesem Ausmaß und in diesem grellen Licht bisher nahezu undenkbar schien. Die Bevölkerung hat dies sehr viel schneller und sehr viel klarer realisiert als die politische Elite. Bis heute versucht diese noch, ihr politisches Versagen mit hohl tönenden humanitären Phrasen zu bemänteln. Doch sehr viele Menschen haben erst mit Erstaunen und dann zune­hmend mit Beunruhigung den völligen Verlust der politischen Handlungs-Fähigkeit der nationalen Führung realisiert. Die nationalstaatliche Führung ist nicht mehr willens und vielleicht auch nicht mehr fähig, eine staatliche Kernaufgabe wahrzunehmen. Dabei waren es gerade die konservativen Ideologen, welche stets den Schutz der Grenzen als die grund­legendste Aufgabe ihres Staates bezeichneten. Alles andere war für sie ja eigentlich eine Überschreitung der Kompetenzen. Sollte doch der Staat vor allem ein Nachtwächter sein.

Für diese – nach ihrer Sicht – wesentlichste Aufgabe des Staats halten sich die Eliten ja angeblich auch diesen kostspieligen und für die Bevölkerung durchaus gefährlichen Apparat, welchen sie, je nach Geschmack, als Bundeswehr oder Bundesheer oder sonstwie ähnlich bezeichnen.

Woher kommt dieses Staatsversagen in der Kontrolle der Einwanderer? Wie immer man seine Einwanderung zu den Flüchtlingen einerseits, den sich an diese anhängenden Immigranten andererseits, definiert: Das wirklich Erstaunliche an den Geschehnissen der letzten Woche war die Handlungsunfähigkeit der nationalen Regierungen.

Diese so paradoxe Situation kommt aus der ungeklärten und noch nicht aufgehobenen Widersprüchlichkeit zwischen der politischen Wirklichkeit und den politischen Ansprüchen der nationalen politischen Klassen. Die wirklichen Entscheidungen fallen auf EU-Ebene, was immer dies konkret bedeutet, ob Brüssel oder Berlin. Doch die nationalen Politikern versu­chen noch immer, den Menschen vorzumachen, dass sie noch die sind, welche das letzte Wort haben. Sie geben vor, handlungsfähig zu sein. Dafür gibt es einen guten Grund: Sie sind diejenigen, die noch immer über Legitimität verfügen, nicht die Bürokraten in Brüssel oder Luxemburg oder Frankfurt. Doch mit der Einsicht der Bürger in ihre mittlerweile beschränkte Politikfähigkeit schwindet auch die Legitimität und wächst der Verdruss, die „Politik-Müdigkeit“.

Nun aber kommt eine Herausforderung, welche sie nicht erwarteten. Und nun starren alle gebannt auf die höhere Ebene, weisen auf „Europa“ und behaupten, dass sie eigentlich gar nicht zuständig sind. Denn nichts Anderes bedeutet dieses formelhafte beschwören, dass die Immigrationsfrage auf „europäischer Ebene “ gelöst werden müsse.

Es ist übrigens keineswegs das erste Mal, dass dieser Widerspruch auftritt. Im Gegenteil: Das ist einer der Gründe, warum die nationale Politik ständig an Ansehen verliert. Denn im Gegensatz zu den Eliten und zu ihren intellektuellen Apporteuren erkennt die Bevölkerung in immer größerer Anzahl, was da gespielt und vorgespielt wird.

Der Kaiser, die nationalen Politiker nämlich, ist nackt. Und nun steht er im Scheinwerferlicht, und einzelne „Kinder“ wagen es zu sagen: Aber er ist ja nackt!

BUDGET-DEFIZITE UND WIRTSCHAFTSWACHSTUM: Ökonomie und Politik – Einige polemische Bemerkungen

Griechenland wurde und wird durch die Euro-Gruppe und ihre sogenannte „Sparpolitik“ ruiniert. Das ist ein wahres, ins Radikale und auch Unbelehrbare getriebene Muster neo­liberaler „Konsolidierungs-Politik“. Sie will angeblich den Staats-Haushalt wieder ins Gleichgewicht bringen. Denn das sei ja, wie ihre Janitscharen behaupten, die Voraussetzung für Wachstum. Dass gleichzeitig die Schulden ständig wachsen, weil die Wirtschaft immer stärker schrumpft, kümmert sie nicht. Die Wirklichkeit widerspricht den reinen neoliberalen Lehren? Umso schlimmer für die Wirklichkeit!

Aber das ist nur der extreme Ausdruck eines Politik-Wechsels, wie er in Europa Mitte der 1980er eingeleitet wurde. Die Stichworte heißen gewöhnlich Keynesianismus und Mone­tarismus. In ihrer scheinbaren Technizität verhüllen und verwischen die mehr als sie auf­klären. Denn es ging ja nicht um ein Detail, eine Meinungs-Verschiedenheit zwischen inter­esselosen Akademikern. Es ging um einen fundamentalen Politikwandel. Der Paradigmen-Wechsel im hoch entwickelten Zentrum ersetzte die Politik der Befriedung, der Integration von Mittel- und Unterschichten in die beste aller Welten der Sozialen Marktwirtschaft durch eine Politik der Dualisierung, ja Polarisierung zwischen Oben und Unten.

Dieser Paradigmen-Wechsel hatte eine Reihe von Aspekten. Seine wesentliche Auswirkung war: Er führte zu einer verstärkten Umverteilung von unten nach oben im sogenannten Primär-Prozess, also vor Steuern. Piketty hat dies mit seinen Daten bestens belegt. Man muss allerdings seine website ansehen, nicht sosehr sein Erfolgsbuch. Damit diese Umverteilung nicht wieder gleich rückgängig gemacht würde, musste der Rück-Umverteilungsprozess durch die Steuern eingeschränkt werden. Die Einkommens- und Körperschaftssteuern für die Super­reichen und die großen Konzerne wurden also gesenkt. Damit wurde das verstärkt, was man schon in den goldenen 60er Jahren diagnostiziert hatte: privater Reichtum (aber nur bei einer kleinen Gruppe) und öffentliche Armut. Die Leistungsfähigkeit des Staats sollte gesenkt werden und wurde es langfristig auch.

Begonnen aber hat dies in der Fiskal-Politik. So ist es denn gar nicht zufällig, dass in der Politik der Gegenwart wieder die Fiskalpolitik im Zentrum steht. Der Fiskalpakt, dieser Angelpunkt in der neuen Politik der EU, betrifft nicht nur Griechenland. Auch das Zentrum und seine Länder, vielleicht sogar erst recht sie, bilden nun das Ziel.

Dieser Paradigmenwechsel vom politischen Keynesianismus[1] zum Neoliberalismus in Europa Mitte der 1980er lässt sich nicht zuletzt an den Diskussionen in ökonomischen Publikationen nachvollziehen. Gerade in ihrer Mischung zwischen scheinbar völliger Technizität und ver­hüllten Ideologien sind diese Debatten aufschlussreich. Der Hinweis eines Genossen brachte mir einen Beitrag zur Kenntnis, welcher vor einem Vierteljahrhundert geschrieben, von der Autorengruppe mehrfach verwurstet (siehe Lit.!) und damals von den Peers ernsthaft diskutiert wurde. Andere (Rzonca / Ciżkowicz 2005) schrieben und schreiben es nach – bis heute.

Diese Autoren geben vor, an den Fällen Dänemark und Irland die Auswirkungen solcher Rezepte zur fiskalischen Gesundung zu untersuchen, wie sie derzeit von der Eurogruppe nicht nur dem Olivengürtel aufgezwungen werden. Der Aufsatz ist von der Thematik her also aktuell. Die Ökonomen behaupten nämlich, dass an diesen zwei von ihnen untersuchten Beispielen, Dänemark und Irland in den 1980ern, eine „Sparpolitik“, d. h. ein Leistungsabbau seitens des Staats, expansiv gewirkt und das Wachstum beschleunigt hätte.

Das Resultat geht über die oberflächliche Themenstellung an den zwei als Beispiel gewählten Kleinstaaten weit hinaus. Daher ist eine Auseinandersetzung angebracht. Festhalten muss man nämlich: Die inhaltliche Qualität der Arbeiten ist dürftig. Aber wenn man so etwas liest, muss man stets danach suchen, was es doch an Einsicht bringen könnte. Sonst braucht man erst gar nicht die Zeit dafür aufwenden. Eine rein „ideologiekritische“ Lektüre ist eine unfruchtbare Angelegenheit. Allerdings kommt man manchmal nicht drum herum. Denn sie hatten und haben massiven Einfluss auf die Politik.

Was also haben die Autoren herausgefunden? Erstens jedenfalls nicht das, was sie als Resul­tate vorgeben. Denn interessanter Weise gehen sie mit geschlossenen Augen an Ergebnissen vorbei, die man den Arbeiten durchaus entnehmen kann. Im Grund stellen sie nämlich auf sehr grobe Weise, nämlich sehr unterkomplex, mit einigen wenigen ökonomischen Variablen, den Aufbau einer Blasenwirtschaft für Dänemark und die akzentuierte Einführung einer „Beggar my neighbour“-Politik in Irland dar. Sie sehen dies selbst keineswegs so.

Im Grund haben die beiden Fälle wenig gemeinsam. Beide Fälle sollten also gar nicht in einem Aufsatz untersucht werden. Die Unterschiede sind ausgeprägt. Gemeinsam ist ihnen jedoch im sonst sehr unterschiedlichen Kontext die „fiskalische Kontraktion“. Gleich ist somit nur der Ansatz der Fiskalpolitik. Das ist höchst signifikant. Denn da wurde ein Rezept auf zwei Prozesse höchst unterschiedlichen Ablaufs angewandt.

Die Gemeinsamkeit der Fiskalpolitik ist wichtig genug. Sie signalisiert einen global ablau­fenden und speziell auch sich in Europa durchsetzenden Politik-Wechsel. Das vorgeb­lichen Ziel war die Defizit-Reduktion. Das politische Ergebnisse sah ganz anders aus. Denn es ging den Handelnden keineswegs um das Budget und die öffentlichen Schulden. Es ging um eine Umstrukturierung der öffentlichen Haushalte, um damit eine neue Politik und ein neues Wirtschafts-Modell durchzusetzen. Besonders deutlich ist dies im Musterland USA. Wir wissen schließlich, dass diese Politik dort zu riesigen Budget-Defiziten und zu enormen öffentlichen Schulden führte. Die wurden dann in der Clinton-Zeit mühsam und auf Kosten der Unterschichten abgebaut (Stiglitz 2015).

Die Ergebnisse dieser „monetaristischen“ Politik sahen also völlig anders aus, als es die angebliche Zielsetzung der Politiker vorgaben: Und die Mehrzahl der Ökonomen assistierte ihnen dabei. Die öffentlichen Haushalte wurden nicht saniert. Die Defizite wurden nicht abgebaut. In den USA senkte Reagan die Steuern, aber blies gleichzeitig die Militär-Ausgaben enorm auf. In der BRD, dem zweiten Musterfall wenige Jahre verschoben, fielen die imperialen Kosten der neuen Berliner Politik ins Gewicht, der Anschluss der DDR.

Da die Ökonomen dies keineswegs thematisieren – und zumindest die Reagnomics hatten sie schon vor Augen – müssen wir nach ihren Qualifikationen – oder nach ihren Interessen fragen. So müssen wir doch auch die Darstellung und die Methodik kurz ansprechen, obwohl dies esoterisch und nur die Fachdisziplin zu betreffen scheint.

Der Aufsatz ist rundum schlecht. Aber er wurde diskutiert und ernst genommen, auf einer Tagung mit gewichti­gen Namen präsentiert und mehrmals von den Autoren und anderen repliziert (s. u. die Literatur). Aber man möge, als Beispiel, einmal die fundamentale Tabelle 1 (1990) ansehen! Da wird uns eine enorm hohe Korre­lation von R2 = 0,93 bis 0,95 entgegen gehalten. Eindrucksvoll! Sieht man jedoch hin, so entsteht sie vor allem aus der trivialen Regression auf die Vorperiode(n). Dass sich die Konsumquote von Jahr zu Jahr kaum ändert, ist wohl keine sonderliche Erkenntnis. Und dann sind fast alle Quoten als Anteile am Potenzial-Output gerechnet. Das aber ist eine Konstruktion und kein Datum! Und so geht es weiter. Später wird ein enormer statistischer Apparat aufgefahren: Der Berg kreißt methodisch, geboren wird eine inhaltliche Maus.

Wie nahezu immer in Beiträgen der mainstream-Ökonomie werden Aggregate betrachtet. Man präsentiert uns den gesamten Konsum und unterschlägt die Verteilung. Man muss sie mühsam in Nebensätzen zusammen suchen. Die Zinssätze sanken, das war erfreulich für die Staatshaushalte. Aber das waren bereits die Anzeichen der Geldschwemme, des finanzialisierten Kapitalismus, der nicht mehr weiß wohin mit den hohen Gewinnen. Überdies blieben die langfristigen Staatsanleihen blieben hoch verzinst. Das kann zweierlei bedeuten: Zum einen bekommen diejenigen, welche diese Papiere weiter halten, einen besonders hohen Ertrag aus ihnen. Verkaufen sie sie aber, so können sie erst recht hohe Gewinne lukrieren, denn wenn die Zinssätze sinken, steigen die Kurse der Papiere mit hohen Zinsen. Wer aber hatte diese Papiere? Das sind üblicher Weise die sogenannten „institu­tionellen Anleger“, also Banken und Versicherungen, andererseits die obere Mittelschicht. Sinkende Zinssätze liefen also auf Geschenke an die Wohlhabenden und an die Banken hinaus. Warum haben diese Staaten also nicht auf kürzerfristige Anleihen mit sehr viel niedrigeren Zinsen umgeschuldet? Sie hätten sich damit die Bedienung der Staatsschuld noch viel stärker erleichtert.

Der Paradigmen-Wechsel wird in der Argumentration auf die Gegenüberstellung von fiskali­scher Kontraktion gegen expansionäre „Erwartungen“ aufgebaut. „Erwartungen“ ist ein urkeynesianisches Konzept. Aber hier wird es umgedreht. Es wird hier anti-keynesianisch eingesetzt. Hier wird das Konzept der „Erwartungen“ zu einem neoliberalen Kampf-Begriff umgeformt, zu einem Klassenkampf-Vokabel. Es geht darum, dass die Eliten und Ober­schichten ihre Wünsche von einer gefügigen Regierung erfüllt bekommen, nämlich Abbau von Steuern, von staatlichen Sozialleistungen und von Transfers zugunsten der Unterschich­ten. Auf diese Stimmung steigen auch die Mittelschichten und sogar Teile der Unterschichten ein. Sie senkt kurzfristig die Steuern, es verbleibt „mehr im Börsel“ – die Phrase wird bis zum Überdruss wiederholt: Auch die Sozialbürokratie steigt darauf ein, wie wir es im Rundfunk vom Leiter der Arbeitsmarkt-Verwaltung hören können.

Nicht dazu sagen die Damen und Herren Politiker und die Beamten vom Arbeitsamt, dass dies langfristig Abbau von Leistungen bedeutet. Das ist auch das Geheimnis der jüngsten österreichischen „Steuer-Reform“. Und man muss dazu sagen: Da ständig neue Belastungen auf die Bevölkerung zukommen, ist dies gar nicht einmal so irrational! Was man hat, hat man, und sei es noch so wenig. Das ist Real-Zynismus der herrschenden Umstände. Bleibt trotzdem das politische Problem: Mit diesem Mittel wurde die neoliberale Wende auch bei den Unterschichten durchgesetzt.

Denn wenn es tatsächlich die Anzeichen eines Crowding out gab, einer Substitution privater durch öffentliche Ausgaben und umgekehrt, dann resultierte dies ausschließlich daraus, dass öffentliche Ausgaben immer stärker durch Massensteuern (vor allem MWSt) finanziert wur­den. Die Progressivität der Einkommenssteuer wurde dagegen in den letzten Jahrzehnten ständig verflacht.

Man müsste an diese Ökonomen eine ganze Reihe von Fragen stellen. Sicher, einiges an den Defizienzen der Beiträge ist ihnen nicht anzulasten. Der erste Aufsatz stammt aus dem Jahr 1990. Sieht man sich die Zahlen der Folgejahre an, dann hatte Dänemark nach einer Phase geringen Wachstums (1987 – 1993) eine starke Wachstumsphase in den 1990ern: Das dürfte einerseits darauf zurück gehen, dass das Land, ähnlich wie Österreich, mit seinen Exporten von der deutschen Einigung profitierte; teils vielleicht auch, weil es sich nicht auf den Euro vorbereiten musste. In Irland aber setzte die lange Wachstums-Periode ein, welche schließlich in die Finanz-Blase mündete. Das Ende kennen wir: Setzt man das BIP p.c. 2007 auf 100, war es mit Beginn 2014 bei 88,9.

Entscheidend ist der Umstieg der globalen Wirtschaftspolitik einerseits auf den Neoliberalis­mus. Andererseits gibt es seit damals aber auch auf eine – wie es scheint: bewusste – Förde­rung von Blasen-Bildungen, ja, einer regelrechten Blasenwirtschaft. Ende der 1960 gab es eine Konferenz und daraus einen Tagungsband: „Is the business cyle obsolete?“ Und in einer Kurzeinführung ins Geldwesen aus der selben Zeit (Day 1968, 40) lese ich: „The trade cycle … may now have been mastered, as a result of insight into economic processes which have been acquired in the last generation“ (gemeint war nicht zuletzt Keynes). Heute würde niemand mehr im Traum daran denken, diese Frage so zu stellen. Heute würde niemand mehr im Traum daran denken, diese Frage so zu stellen.

Betrüblicher Weise wird dem wenig entgegen gehalten. Die linke, angeblich marxistische Ökonomie liegt ebenso im Argen. Sie blieb weitgehend in der Dogmatik stecken. Zu dieser Dogmatik gehört als eiserner Bestandteil das „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“. Auch hier muss man sagen: Die Theoretiker nehmen schlicht die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis. Die angeblich fallende Profitrate zur Erklärung der US-Wirtschaft ab 1973 einzu­setzen (Brenner 2006), heißt, die Wirklichkeit der seit damals steigenden Ungleichheit, des steigenden Anteils des obersten Prozents (Centils) und den noch stärkeren steigenden Anteil noch weiter oben, des obersten Promilles, zu verweigern. Außerdem heißt es, sich in sehr naiver Weise auf die Kategorisierungen der offiziellen Volkswirtschaftlichen Gesamt­rechnung (VGR) zu verlassen. Profit geht doch heute zu einem nicht unbeträchtlichen Anteil in die Management-Gehälter (also in „Löhne“). Das verzweifelte Festhalten an diesem berüchtigten Gesetz vom fallenden Profit hat auch eine spezifische politische Bedeutung: In einer Situation, wo die Linke ziemlich marginalisiert ist, soll damit die Naturnotwendigkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs demonstriert werden. Die gibt es aber nicht. Das ist immer noch und mehr denn je eine Frage der Politik.

Warum aber führte die Blasenbildung in Dänemark (man sehe sich die Graphiken 5a, 5b, 6a, 6b und 7 an!) nicht zum katastrophalen Ergebnis wie in Spanien und Irland? Eine Antwort ist sicher, dass Dänemark nicht an der Währungsunion teilnahm und daher die Regierung noch über Möglichkeiten der Gegenpolitik verfügte. Eine zweite Antwort könnte das insgesamt hohe Einkommens-Niveau sein und die Tatsache, dass selbst die Zen­trumspartei dort die neoliberale Politik sehr viel behutsamer führte. Die Frage ist freilich (leider weiß ich über das Land zu wenig Bescheid), was in den letzten Jahren passierte. Die Krone ist ja engst an den Euro gebunden, und damit gibt es faktisch eine WU. Freilich können sie jederzeit ohne große Probleme aussteigen.

Der Paradigmen-Wechsel wurde mit Hilfe solcher Texte durchgezogen. Es ist kein Wunder. Kommt doch Giavazza aus dem selben Stall wie Prodi. Dieser scheinbar so technische Aufsatz ist für den Vorgang kennzeichnend. Der mathematische Aufwand ist enorm. Aber es sind meist Pseudo-Modellen. Da werden im mathematischen Anhang für die Berechnung der erwarteten Lebens-Einkommen nicht etwa echte Zinssätze eingesetzt, sondern „subjective rate(s) of the households“ (p. 107, Annex). Absolut niemand, auch die Ökonomen selbst nicht, würde bei seiner Lebensplanung so raisonnieren. Der statistische Aufwand wird inhaltlich höchst fragwürdig eingesetzt. Die einzige Folgerung daraus ist: Das ist soziale Theologie im modernen Gewand, „parteiische Wissenschaft“ für die Eliten. Eingesetzt wird sie dazu, den Prozess der Umverteilung nach Oben weiterzutreiben.

Literatur

Brenner, Robert (2006), The Economics of Global Turbulence. The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945 – 2005. London-New York: Verso.

Bronfenbrenner, Martin (1970), ed., Is the Business Cycle Obsolete? New York etc.: Wiley.

Day, A. C. L. (1968), The Economics of Money. London: Oxford University Press.

Giavazza, Francesco / Pagano, Marco (1990), Can Severe Fiscal Contraction Be Expansionary? Tales of Two Small European Countries. In: Blanchar / Fischer, eds., NBER Macroeconomics Annual 5, Cambridge; Mass.: MIT Press, 75 – 122.

Giavazzi, Francesco / Jappelli, Tullio / Pagano, Marco (1999), Searching for Non-Keynesian Effects of Fiscal Policy. Salerno: CENTRO STUDI IN ECONOMIA E FINANZA. Working Paper 16.

Giavazzi, Francesco / Pagano, Marco (1995), Non-Keynesian Effects of Fiscal Policy Changes: International Evidence and the Swedish Experience. NBR Working Paper 5323.

Giavazzi, Francesco / Pagano, Marco (1996), Non-Keynesian Effects of Fiscal Policy Changes: International Evidence and the Swedish Experience. In: Swedish Economic Policy Review 3, 67 – 103.

Rzonca, Andrzej / Ciżkowicz, Piotr (2005), Non-Keynesian Effects of Fiscal Contraction in New Member States. ECM Working Paper 519.

Stiglitz, Joseph (E.) (2015), Reich und Arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft. München: Siedler.

[1] Ich spreche stets vom Politischen Keynesianismus. Die Politik-Ausrichtung hatte ja mit dem Thesen-Gebäude von Keynes glücklicher Weise nur einen wichtigen Berührungspunkt: Es war der Grundsatz, dass in einem depressiven Gleichgewicht die private Nachfragelücke durch die Öffentliche Hand ersetzt substituiert werden sollte. Von einer depressiven Situation konnte aber bis Anfang der 1980er in Westeuropa keine Rede sein. Keynes wurde also zu einem Symbol.

Albert F. Reiterer, 4. Dezember 2015

Auf der Suche nach Alternativen zum Euro-Regime

Erklärung des Internationalen Anti-EU-Forums linker politischer Parteien und Volksorganisationen
Angenommen auf einem Treffen der europäischen Koordination am 18. Oktober 2015 in Athen

1. Nach den Ereignissen 2013 in Zypern, als das einstimmige “Nein zum Memorandum” des zyprischen Parlaments innerhalb einer Woche aufgrund der Drohung der EZB, ihre wirtschaftliche Hilfe einzustellen, in ein “Ja” umgewandelt wurde, ist die gewaltsame Umkehrung des “Neins” des Volkes bei dem Referendum vom 5. Juli in ein „Ja“ durch A. Tsipras eine Bestätigung dafür, dass ein Verbleib in der E/Z-EU der Demokratie unmittelbar zuwider läuft. Das dritte von Syriza unterzeichnete Memorandum beweist auch, dass selbst bescheidene Versuche, die Austeritätspolitik in Frage zu stellen, im E/Z-EU-Kontext nicht standhalten können.

2. Die Ereignisse in Zypern und Griechenland kommen so zu der langen Liste der Verstöße gegen den Willen des Volkes seitens der Eurozone / EU und mehrerer Regierungen hinzu. Charakteristische Beispiele sind in diesem Zusammenhang die Umgehung der Ablehnung der „Euroverfassung“, die der Vertrag von Lissabon durch eine Hintertür erneut eingeführt hat, die erzwungene Umkehrung des irischen Referendums zum Lissaboner Vertrag, der zwingend geforderte haushaltspolitische Anpassungsprozess in den baltischen Ländern unter Beteiligung des IWF, der Versuch, das Volk von Island zu erpressen und die obligatorischen Programme in einer Reihe von Ländern zur Rettung des Euro.

3. Die Schlussfolgerung, die alle Völker Europas hieraus ziehen müssen, ist, dass eine Bekämpfung der Eurozone / EU das entscheidende Element im Kampf gegen die Sparpolitik / die Memoranden ist. Es ist ein Prozess, der für die Formulierung eines Plans für einen Weg aus der Krise zum Vorteil der unteren Klassen zwingend erforderlich und ein entscheidender Punkt für die Veränderung des bestehenden Mächtegleichgewichts zugunsten der unteren Klassen ist. Dies ist die wichtigste Lehre, die aus den jüngsten Entwicklungen in Griechenland gezogen werden kann – was dazu geführt hat, dass im Parlament vorübergehend vorherrschend die Ansicht vertreten wurden, dass „es keine Alternative gibt“: Wenn die Eurozone – EU seitens der Volksbewegungen nicht in Frage gestellt wird, kann es keinen Wandel zum Fortschritt geben.

4. Die Ausrichtung der EU und der Eurozone ist nicht verhandelbar. Beide sind so strukturiert, dass sie den Interessen der Kapitalisten, Bankiers und der mächtigen Länder dienen, während sie in den Jahren der Krise einen eisernen Vorhang undemokratischer Instrumente und Verfahren geschaffen haben, die die Mitgliedstaaten bis hin zur völligen Abschaffung der Souveränität ihres Volkes und der nationalen Unabhängigkeit binden. Die durch diese Mechanismen institutionalisierte Überwachung sowie die Tatsache, dass die Währungs- und Wechselkurspolitik zur Zuständigkeit der EZB gemacht wurden, schafft die Regierungen in Wirklichkeit ab und neutralisiert jeden potenziellen Druck, den arbeitende Menschen auf die Wirtschaftspolitik ausüben könnten. Jeder radikale Wandel ist somit untrennbar mit dem Aufbrechen, dem Rückzug aus und der Auflösung dieser Vereinigungen sowie mit der Schaffung gleichrangiger Beziehungen von gegenseitigem Nutzen zwischen den Staaten verbunden.

5. In diesem Kontext stellt die Eurozone ein neoliberales Programm dar, das den Arbeitnehmern nicht nur schwere Verluste aufbürdet, sondern auch die Überschüsse der mächtigen Länder auf Kosten anderer erhöht, die gezwungen sind, eben diese Überschüsse in Form von Darlehen zu absorbieren und somit ihren Kontostand weiter zu verschlechtern. Durch die Blockierung der Liquidität werden in Europa den Schuldnerländern von den Geberländern die Gesetze der modernen Deptokratie aufgezwungen. Wenn Liquidität als Waffe eingesetzt wird, sind die Volkswirtschaften gezwungen, Maßnahmen zu verabschieden, und es werden ihnen neoliberale Reformen auferlegt, die einerseits zu einer beabsichtigten Senkung des Lebensstandards der breiten Masse und andererseits zur Erhöhung der Staatsschulden führen. Durch die Nutzung des Euro und der Liquidität als Waffen legen sie eine Strategie für einen Weg aus der Krise fest, der das Kapital begünstigt. Die Lohnkosten werden zum Vorteil des Kapitals gesenkt, Selbständige in den Ruin getrieben, kleine und mittlere Unternehmen zugunsten großer, multinationaler Unternehmen geopfert. Folglich kann jedes alternative Programm nur einen Ausstieg aus der Eurozone und eine Verstaatlichung des Bankensystems zum Ausgangspunkt haben. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung, das Gesamtbild zu betrachten: Der Euro ist nicht nur eine Währung mit einer falschen Architektur. Er ist ein imperialistisches Instrument, das spezielle Ziele verfolgt; er stellt eine Koalition des Kapitals verschiedener Länder dar, das sowohl auf internationaler Ebene als auch im eigenen Land auf Kosten der Arbeiterklasse und der unteren Schichten die Oberhand behalten will. Aus diesem Grund kann der Kampf gegen die Sparpolitik weder im nationalen noch im internationalen Kontext zielführend umgesetzt werden, sofern nicht ein Bruch mit diesem Mechanismus neoliberaler Durchsetzung als ein wichtiges Ziel beschlossen wird.

6. Diese Debatte wird in der europäischen Linken endlich ausgehend von den Lehren aus der verhängnisvollen Kapitulation von SYRIZA eröffnet. Initiativen wie die von Mélenchon, Fassina und Lafontaine sind in diesem Zusammenhang sehr charakteristisch. Wir begrüßen diese Diskussion. Die europäische Linke hat sich jedoch jahrzehntelang Illusionen in Bezug auf den Charakter der EU gemacht, und dies hat katastrophale Folgen. Es gab den Sozialdemokraten die Möglichkeit, den Neoliberalismus umzusetzen, und den Rechtsextremen Gelegenheit, sich als einzige Kraft herauszubilden, die bereit ist, die Souveränität des Volkes zu verteidigen. Wir können so nicht weitermachen. Wir brauchen einen alternativen Plan, mit dessen Hilfe mit den sozialen Bewegungen in allen Ländern interagiert werden kann, um den Kampf gegen die Sparpolitiken und Strukturanpassungen wirksam zu organisieren und dem Euro und der EU Widerstand zu leisten. Eine solche Alternative wird die Achse der internationalen Kooperation und Solidarität sein, falls sie versuchen sollten, ein Land zu bestrafen, das sich über die Nutzung der Liquidität für eine alternative politische Ausrichtung entscheidet, wie dies in Zypern und Griechenland der Fall war (z.B. Portugal). Die Linke und die Kräfte des Volkes müssen nach den tragischen Folgen der Strategie von SYRIZA, die Sparpolitik aufzukündigen, einen neuen politischen Raum für sich beanspruchen, einen Raum der Souveränität des Volkes und der sozialen Gerechtigkeit gegen die Herrschaft des Monopolkapitals und seine internationalen Vereinigungen. Ein solcher Raum ist in der Eurozone und in der EU nicht möglich.

7. Die EU-Verträge können nicht revidiert werden, da sie geschaffen wurden, um den Neoliberalismus auszuweiten und die Souveränität des Volkes und die Demokratie aufzuweichen. Gegenüber den Stimmen, die angesichts deruf den gegenwärtigen internationalen Problemen (wie der Flüchtlingskrise) auf der Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit beharren, müssen wir die Tatsache betonen, dass die EU und die herrschenden imperialistischen Mächte die Hauptverantwortung für Lage im Nahen Osten und für die Tatsache tragen, dass sich die imperialistische EU von der tatsächlich notwendigen internationalen Zusammenarbeit unterscheidet. Unser Ziel ist nicht die Isolierung aller Länder, sondern eine neue Partnerschaft für die europäischen Völker und Länder – und nicht nur für diese – auf der Grundlage einer gegenseitigen Zusammenarbeit.

8. Die Kriege des Westens und die Umsetzung der Strukturanpassungsprogramme, die zu Armut und dem Zusammenbruch von Staaten führen, sind die Ursache für die Millionen Flüchtlinge und Migranten vor den Toren Europas. Wir sind gegen die Politik der „Festung Europa“, die für den Tod Tausender Flüchtlinge und Migranten an den Grenzen Europas verantwortlich ist. Wir unterstützen die Bewegungen für eine Solidarität mit den Flüchtlingen und fordern, dass das Recht auf Asyl und eine sichere Ankunft geachtet wird. Wir engagieren uns für eine breite Antikriegs- und Antiimperialismusbewegung in Europa mit dem Ziel, den imperialistischen Interventionen ein Ende zu setzen, die die Menschen veranlassen, ihr Land zu verlassen. Wir bekämpfen Rassismus sowie die Politiken und die Ideologie der reaktionären, fremdenfeindlichen Rechtsradikalen.

9. Wir müssen unverzüglich, vereint und koordiniert handeln. Mit europaweiten Kampagnen und Initiativen, einem europaweiten Dialog zwischen den sozialen Bewegungen, den linken und in der Praxis antineoliberalen politischen Kräften. Für die Solidarität des Volkes. Für soziale Gerechtigkeit und eine Strategie für einen Weg aus der Krise zugunsten der Arbeitnehmer und nicht des Kapitals. Für eine andere Art der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Völkern, die über die undemokratische und unpopuläre EU hinausgeht. Die Auflösung der Eurozone ist ein erster Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel.

10. Um dies in Gang zu setzen, schlagen wir vor, in naher Zukunft ein Diskussionsforum zu veranstalten, um eine Alternative für das Euro-Regime zu entwickeln. Wir möchten mit allen Kräften und Kampagnen, die mit der Formel der herrschenden Elite brechen wollen, dass es keine Alternative gibt, zusammenarbeiten und unsere Maßnahmen koordinieren.