von Wolfgang Friedhuber, Graz
Zum Beitritt Österreichs zur EG am 12. Juni 1994 war zuvor eine Volksabstimmung notwendig.
“Die Volksabstimmung war notwendig, weil der EU-Beitritt eine Gesamtänderung der Bundesverfassung mit sich brachte.” ( https://oegfe.at/2019/06/12_gk_standard/ )
Auch bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon am 14. Juni 2005 gab es eine heftige Debatte um eine neuerliche Volksabstimmung. Die Kräfte des rechten Lagers polemisierten für die Notwendigkeit und die liberal-linken Kräfte bestritten diese Notwendigkeit. Die Diskussion ging zwar darum, ob der Vertrag von Lissabon eine Vertragsänderung des EG-Beitrittsvertrages ist oder nicht – wurde aber von beiden Seiten eher mit populistischen Argumenten geführt.
Aus dem Protokoll der Aktuellen Stunde im Nationalrat anno 2007:
“Trete der EU-Reformvertrag in Kraft, hätten in unserem Land nur noch die EU-Kommissare das Sagen, befürchtete Abgeordneter Strache und warnte vor ausländischem Zugriff auf das österreichische Wasser, vor Umweltdiktaten und Gentechnikzwangsverordnungen. Schon jetzt müsse Österreich eine Verdoppelung der Fördermittel nach dem Euratom-Vertrag akzeptieren und zulassen, dass seine Sozialkassen von Nichtösterreichern in Anspruch genommen werden. Strache kritisierte einmal mehr auch den „Kampfeinsatz“ des Bundesheeres im Tschad und machte darauf aufmerksam, dass die EU unter dem Titel „Terrorbekämpfung“ auch Angriffskriege vorsehe.” ( https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2007/PK0952/ )
“Bundeskanzler Dr. GUSENBAUER sagte, es sei ihm „angst und bang“ geworden bei den Ausführungen seines Vorredners. Ganz anders als die eingefrorene Posthorntöne der FPÖ seit dem EU-Beitritt glauben machen wollen, erlebe Österreich als EU-Mitglied einen der größten wirtschaftlichen Aufstiege seiner Geschichte und sei zum viertreichsten Land der EU geworden. Österreich profitiere als Zentrum des erweiterten Europa und könne in diesen Tagen seine Wachstumserwartungen nach oben korrigieren, obwohl die Eurozone weniger Wachstum erwarte. Man könne nicht vom Untergang der Republik sprechen, wenn die Menschen von guten Gehaltsabschlüssen und sinkender Arbeitslosigkeit profitierten” (https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2007/PK0952/ )
An diesen zwei Textzitaten ist zu sehen, wie problematisch es ist, die politischen Vorgänge um die EU zu diskutieren. Der dem rechten Lager zugeordnete Hr. Strache argumentiert mit den abzulehnenden Auslandskampfeinsätze des Bundesheeres, mit der Liberalisierung der Gemeinschaftsressource und mit Autonomieverlust. Der dem linken Lager zugeordneter Hr. Gusenbauer argumentiert mit wirtschaftlichem Aufschwung, mit Wachstum und steigenden Gehaltsabschlüssen. Der “rechte” Mandatar benutzt großteils “linke” Argumente und der “linke” Mandatar argumentiert mit neoliberalen Argumentationssträngen.
In den beiden Ausschnitten wird aber ein zentrales Thema nicht genannt: Die Verfassung.
“Die Behauptung, dieser Vertrag stelle eine fundamentale Änderung der Bundesverfassung dar, wies der Bundeskanzler [Hr. Dr. Gusenbauer] zurück” – ohne Angabe von Gründen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass EU-Verträge und Vertragsänderungen Eingriffe in die Verfassung beinhalten können. Diese Eingriffe in die Verfassung waren auch der Grund, dass für den damaligen EG-Beitritt eine Volksabstimmung notwendig war.
Die Bestrebungen einer EU-Verfassung zu erstellen wurden genau aus diesem Grund fallen gelassen und durch das Konstrukt eines Reform-Vertrags zu umgehen versucht. Der Reform-Vertrag sollte damit den ursprünglichen Beitrittsvertrag nicht ändern – sondern nur reformieren. Diese Argumentationslinie war im Parlament seitens der EU-Befürworter auch Argumentationsgrundlage. Eine neue Volksbefragung, deren Ausgang ungewiss war, sollte unter allen Umständen vermieden werden.
Aber natürlich war der EU-Reformvertrag von Lissabon ein Eingriff in Verfassungsrechte – allein schon deshalb, da ab diesem Zeitpunkt EU-Recht über nationales Recht gestellt wurde. Im EU-Parlament beschlossene Gesetze – etwa die DSGVO – haben zwingend von allen Nationalparlamenten ohne Abstriche umgesetzt zu werden. Was damals zur Errichtung der Währungsunion – hauptsächlich im Interesse Frankreichs – notwendig schien, hat auch heute seine Begründung in der wirtschaftlichen Schieflage in Kernländern der EU.
So benötigen etwa Italien und Frankreich neues Kapital aus den wirtschaftlich stabileren Ländern. Wird diese Unterstützung nicht gewährt, droht eine Euro-Krise.
Das Finanzkorsett das mit Euro und EZB den europäischen Staaten angelegt wurde, hat zwar schon seit der Wirtschaftskrise 2008 die Staaten in Geiselhaft genommen – aber demokratiepolitisch sozusagen “hinter dem Vorhang”. Die EZB ist völlig ungebunden, die im Target 2 System versteckten Bilanzdefizite – etwa Italiens – gleiche eher einer Kreditstreckung als einer Verschuldung. Nun verursachen die durch die Staaten angeordneten Corona-Schutzmaßnahmen eine Eskalation der finanzielle Lage der Wirtschaftsbetriebe. Die Staaten sind allein schon aus humanitärer Sicht verpflichtet, hier Finanzhilfe zu leiste. Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland, Polen, Rumänien usw. waren zuvor schon wirtschaftlich unter Druck, nun benötigen diese Länder Kapital um den Absturz zu verhindern.
Gemäß den EU-Regeln, die sich der neoliberalen Doktrin verschrieben haben, müsste dieses Kapital auf dem freien Kapitalmarkt aufgenommen werden. Da die Länder – vor allem etwa Italien, aber auch Spanien und Frankreich – kaum kreditwürdig sind – zu hoch ist das Ausfallrisiko der Rückzahlung – müssten sie am liberalen Kapitalmarkt immense Zinsen dafür zahlen – was die Krise in den Ländern eher verschärfen würde als sie zu beheben.
Jedenfalls: Insgesamt bedroht diese Situation auch den gesamten Euroraum. Es sind schon gewaltige Schuldenberge im Target 2 System der EZB versteckt – würden sich nun die Staaten wie Frankreich und Italien weiter national Verschulden, so wäre die Eurostabilität kaum zu halten.
Die Lösung, die Merkel und Macron nun gefunden haben, ist nicht neu und war schon immer das Ziel etwa Italiens oder Frankreichs: Die Länder mit einem halbwegs ausgeglichenen Brutto-Inlandsprodukt im Verhältnis zur Staatsschuldenlast sollen in Haftung für die Länder eintreten, die praktisch Bankrott sind.
Diese Idee würde der Solidarität – zumindest auf der Seite der Wirtschaftsförderung – in Europa entsprechen. Egal wie man zu dieser Art der Solidarität steht – immerhin werden Menschen in Haftung genommen, die schon zuvor auf Leistungen verzichtet haben, um den Staatshaushalt zu stabilisieren – es gibt ein Problem: Es kommt einer Vertragsänderung der EG-Verträge und auch des EU-Reform-Vertrags.
Haftungsübernahme – und erst recht die direkte Schuldenabdeckung der bankrotten Länder durch die noch halbwegs ausgeglichen bilanzierenden – kann als Eingriff in die Souveränität und damit als Eingriff in die Verfassung gesehen werden. Österreich haftet dann offiziell für Frankreich und seine Weltmachtpolitik oder für Italien und seine Art der politischen Gestaltung. Die Länder Europas werden damit zu Bundesländer eines europäischen Gesamtstaates – und dies ist ein massiver Eingriff in die österreichische Verfassung.
Es kann natürlich viele Menschen geben, die so einen “Staat Europa” wohlwollend gegenüber stehen, die Zeiten der Nationalstaaten scheinen ohnedies vorbei zu sein, aber: Österreich müsste, wenn der Merkel-Macron-Plan unter welchem Namen auch immer – umgesetzt wird, wieder eine Volksabstimmung über den Verbleib Österreichs in diesem „Staat Europa“ abhalten.
Ich bin mir ja fast sicher, dass die Mehrheit der Österreicher*innen, nach geeigneter politischer Aufklärung, zustimmen würden – so wie damals beim EG-Beitritt. Die Politiker*innen Österreichs, die nicht in Opposition sind, werden auch jegliche Argumente für so einen Staat finden – vermutlich aber werden sie auch wieder bestreiten, dass überhaupt eine Verfassungsänderung droht; das ist verständlich. Sie vertreten ihre Gesinnungen und ihre Parteidoktrinen.
Zumindest aber die Medien wären aus meiner Sicht verpflichtet, diesen Aspekt der notwendigen Volksabstimmung publik zu machen, um den Menschen im Sinne der demokratischen Mitbestimmung die Chance zu geben, sich dazu zu äußern.
22.5.2020