Diskussion „Griechenland nach Referendum“

Nach dem Referendum – Neubeginn jenseits der Eurozone?

“Ein Ausscheiden aus der Eurozone ist nicht vorgesehen.” Diese Worte hörte man in den letzten Wochen nicht nur von den Gläubigervertretern im Sinne ihrer TINA (”There is no alternative”)-Ideologie. Auch die griechische Seite
betonte, dass man das Land nicht einfach aus dem Euro drängen könne. Jenseits des Euro scheint eine Zukunft nicht denkbar, zu groß die Risiken, zu unkalkulierbar die Ereignisse. Wie ein revolutionäres Abenteuer wirkt der
mögliche Bruch mit der Währungszone.

Die Gläubigerseite hat ihren Standpunkt klar gemacht: friss-oder-stirb. Die griechische Bevölkerung ist trotz aller Leiden und Angriffe geteilt. Der Ausgang des Referendums ist offen.

Ein NEIN ist eine große Chance, die Tür zu einer offenen Zukunft für Griechenland und Europa aufzustoßen. Dahinter aber warten enorme Herausforderung für Syriza, die griechische Linke und alle fortschrittlichen
Anti-Euro-Kräfte in Europa.

Das Personenkomitee EuroExit gegen Sozialabbau lädt zu einer Diskussion über die Situation in Griechenland und ihren Einfluss auf die Eurozone mit der österreichischen Delegation zum Athener Anti-EU-Forum
(www.antieu-forum.org).

Montag 6. Juli 19.00 Uhr, Gußhausstraße 14/3, 1040 Wien

Sie lügen sobald sie den Mund aufmachen

Frans Timmermans, niederländischer Sozialdemokrat und Vizepräsident der EU-Kommission war gerade rechtzeitig in Wien, vor zwei Tagen. Der ORF lud ihn ins Mittags-Journal, um ihm die richtige Plattform zu verschaffen. „Wir müssen versuchen, für die Bevölkerung auf­zutreten. … Wenn ein Partner einfach weggeht und eine Volksabstimmung macht, da kann man nicht weiter. … Man kann nicht einfach nein sagen. … Die griechische Regierung darf nicht nur nein sagen… Bisher haben wir nur wenig gesehen. … Wir machen keinen Wahlkampf“ – nur hat eben Juncker gesagt, die Griechen müssten JA stimmen; wie er ja auch schon vor dem Jänner gesagt hat, sie dürften nicht SYRIZA wählen; etc.

Der ORF und praktisch alle anderen Medien schlucken dies nicht nur. Sie legen stets noch ein Schäuferl drauf. Sie lügen und verbreiten Schreckensmeldungen, dass man meinen könnte, es gehe um einen Wahlkampf in Österreich.

Die Journalisten lügen genauso, wie die EU-Kommissare und die nationalen Politiker. Die griechische Regierung hat keine Vorschläge gemacht? Sie willdas Besteuerungssystem nicht ändern? Es habe keine Verschlechterung für die Rentner / Pensionisten gegeben?

Sehen wir uns in wenigen Details an, was die taz vor einer Woche aus dem Wallstreet Journal übernahm und auszugsweise veröffentlichte (eine ausführlichere Fassung findet sich auf www.taz.de/SparGR).

 

Schwarz ist der griechische Vorschlag. Die Troika, die jetzt eben anders heißt, hat durchge­strichen, und ihre Befehle daneben geschrieben. Die Körperschaftssteuer darf also nicht so erhöht werden, wie es die griechische Regierung möchte. Eine einmalige Sondersteuer auf Profite über 500.000 Euro wird ebenfalls ersatzlos abgelehnt. Das sei „wachstumsschädlich“ – ein blutiger Hohn seitens einer Institution, welche die griechische Wirtschaft seit vielen Jahren nach unten drückt. Die Mehrwertsteuer soll nicht auf Grundnahrungsmittel ermäßigt werden, auf Brot z. B.; shttps://www.euroexit.org/wp-admin/media-upload.php?post_id=356&type=image&TB_iframe=1ondern auf „unverarbeitete Lebensmittel“; das wäre z. B. Kaviar.

Der Primärüberschuss zwecks Schuldenrückzahlung soll Jahr für Jahr steigen und 2018 und Folgejahre 5 % (fünf Prozent) des BIP erreichen – in einer Wirtschaft, in der ohnehin nicht mehr investiert werden kann.

Das Pensionsalter soll 67 Jahre betragen: in einer Wirtschaft, wo die Arbeitslosigkeit gegen 30 % zu geht, und wo diese Verlängerung ausschließlich weitere Arbeitslose schaffen wird. Und die „Unterstützung der bedürftigsten Rentner“ dürfe erst ab diesem Alter einsetzen. Man hofft offenbar, dass die Leute bis dorthin ohnehin krepiert sind.

Überhaupt: „Es wurden keine Rentenkürzungen mehr verlangt“ (Juncker). Nur werden die Beiträge zur Krankenversicherung um ein Drittel erhöht, und insgesamt soll bei den Pensionen ein weiteres Prozent des BIP heraus gerissen werden. usw.

Die griechische Regierung lag schon auf den Knien. Aber sie sollte auf dem Bauch liegen und die Stiefel lecken.

Und übersehen wir nicht: Diese verbrecherische Organisation, die sich EU nennt, hat ihre Verbündeten nicht nur in Griechenland, sondern auch in der SYRIZA. Spyros Sagias, meldet die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf griechische Zeitungen, Generalsekretär der Regierung, sei insgesamt gegen das Referendum und soll bereits den sofortigen Rücktritt von Varoufakis als Zeichen der Unterwerfung verlangt haben. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schädlichste ist: Die Regierung Tsipras selbst nährt noch immer die Illusion: Wir werden nach einem NEIN ein besseres Abkommen heraus handeln. Wir bleiben in der Eurozone und in der EU.

SYRIZA kann mit dieser Haltung nur scheitern. Die EU im Allgemeinen und die Eurozone im Besonderen hat es auf die Kraftprobe ankommen lassen. Unter den gegenwärtigen Umständen wird sie sie gewinnen, wenn diegriechische Politik nicht endlich konsequent ist.

Zuerst allerdings geht es um das NEIN. Und da braucht diese Regierung trotz aller Kritik die volle Unterstützung, wie schwach diese immer sein mag, der europäischen Linken.

Albert F. Reiterer – 3. Juli 2015.

Laut für ein griechisches NEIN

Gemeinsamer Kampf der europäischen Völker gegen die Austerität
Der Sieg eines NEINS in dem Referendum wird ein Sieg für alle Völker Europas sein und ein Zeichen der Hoffnung, des Widerstands und der Würde. Ein NEIN wird eine Stimme für eine Konfrontation mit der EU sein und nicht für erneute Verhandlungen mit ihr. Die Delegationen und Teilnehmer des Athener Anti-EU-Forums rufen zu einem deutlichen NEIN des Volkes zu den alten und neuen Memoranden, zu Arbeitslosigkeit, Austerität, der Verletzung sozialer und politischer Rechte und der Abschaffung der nationalen Souveränität auf: NEIN zu Schulden, dem EURO und der EU! Wir rufen für eine gemeinsam Front des Kampfes aller demokratischen und Volkskräfte auf, für einen Sieg der Stimmen für ein NEIN.

Der Zusammenbruch der Verhandlungen Griechenlands mit der EU zeigen in aller Klarheit die wahre Natur der EU und ihrer assoziierten Institutionen (EZB und IWF): Sie repräsentieren die Interessen der Kapitalisten und Banker. Sie zwingen neoliberale Maßnahmen auf. Sie untergraben die Demokratie. Sie unterdrücken die nationale Souveränität und die Volkssouveränität.

Die offene und demütigende Erpressung der griechischen Regierung, trotz der schmerzhaften Zugeständnisse, welche sie bereits gemacht hat und ihrer Akzeptanz einer milderen Version des Austeritätsprogramms der Troika, ist eine Beleidigung nicht nur des griechischen Volkes sondern aller Völker und der Arbeiterklasse in Europa.

Jetzt ist es mehr als offensichtlich, dass es kein Ende der Austerität und der sozialen Zerstörung innerhalb der Eurozone geben kann, innerhalb des Eisenkäfigs der neoliberalen EU-Verträge. Das Scheitern der Verhandlungen zeigt den unrealistischen Charakter der Position der griechischen Regierung und anderer Regierungen in der Eurozone für einen „ehrlichen Kompromiss“ mit der EU, denn die Eurozone und die EU kann nicht „reformiert“ werden. Die Eurozone ist das Problem – der Austritt die Lösung. Das ist die einzige realistische Lösung zu Gunsten der Volksklassen!

Jetzt ist die Zeit für die Volkskräfte, die demokratischen und fortschrittlichen Kräfte aus ganz Europa und der ganzen Welt ihre Solidarität mit dem griechischen Volk und seinem Kampf gegen die EU und den IWF auszudrücken. Das griechische Volk ist nicht allein. Die Blicke der Völker und ihrer Bewegungen sind auf Griechenland gerichtet.

Schlusserklärung des Athener Anti-EU-Forum 29.6.2015

Wie breit wird die Front für das griechische Nein?

von Willi Langthaler

 

Bericht vom Anti-EU-Forum am entscheidenden Wochenende

 

Vom 26.-28. Juni 2015 fand in Athen ein von europäischen demokratischen Anti-Euro-Kräften organisierte Treffen statt, das für den Austritt aus dem Euro und aus der EU aufrief.

 

Als wir am Freitag, den 28.6., in der Schule der Schönen Künste, untergebracht in einer schon ziemlich heruntergekommenen ehemaligen Fabrik, eintrafen, herrschte gedämpfte Stimmung. Man musste davon ausgehen, dass die Syriza-Regierung das Diktat der Troika nach schwerem Ringen doch angenommen hatte. Allein auf die Kräfte der Linken außerhalb Syrizas gestützt und vielleicht mit der Unterstützung einiger vom linken Flügel der Regierungspartei wäre es unrealistisch gewesen, den neuen Angriff der Gläubiger zu verhindern.

 

Auf der anderen Seite fühlen sich einige in der griechischen Linken bestätigt, dass von Syriza nichts als heiße Luft und letztlich Verrat zu erwarten wäre. Die ideologische Ausstrahlung der Kommunistischen Partei KKE, die hinter sozialistischen Phrasen passiv bleibt, ist da zu spüren.

 

Doch dann in der Nacht der Paukenschlag: Die Verhandlung mit der EU-Oligarchie gescheitern, weil diese auf die totale Kapitulation und Demütigung beharrt hatte. Tsipras ruft zu einem Referendum auf. Zur Abstimmung steht das Austeritätsdiktat und damit letztlich der Bruch mit dem Euro-Regime.

 

Am Samstag im Verlauf des Tages änderte sich die Stimmung und drehte ins Kämpferische. Über 500 vorwiegend junge Menschen versammelten sich in Unterstützung des NEIN und hörten den Aufruf eines Vertreters der Syriza-Linken für eine Einheitsfront an alle linke Gruppen wie Mars (die Hauptorganisatoren des Forums), Antarsya (ein antikapitalistisches Bündnis, das außerhalb Syrizas verblieben war und gemeinsam mit Mars erfolglos zu den letzten Wahlen angetreten war) und selbst die KKE.

 

Doch der Widerspruch in Syriza und der Mehrheit des griechischen Volkes selbst sorgt weiterhin für Schwierigkeiten und politische Differenzen. Syriza war mit einem unmöglichen Programm angetreten und hatte just dafür das Mandat des Volkes bekommen: Austerität beenden, im Euro verbleiben. Die quälenden Verhandlungen seit Februar und die Härte der Gläubiger erlauben keine auch nur so geringfügige Dämpfung der Absenkung des Lebensniveaus – das liegt in der monetaristischen Logik der jahrzehntelangen deutschen Währungspolitik. Syriza hätte viel akzeptiert, aber eben nicht die totale Unterwerfung, auch weil weite Teile des Volkes das nicht akzeptieren würden.

 

Doch ein Nein beim Referendum heißt mit großer Sicherheit auch den Austritt aus der Euro-Zone. Die noch laufenden Geplänkel zwischen Athen und dem Zentrum drehen sich eher um die politische Schuldzuweisung. Die Extra-Syriza-Linke warnt indes vor einem möglichen Versuch der Regierung das Referendum nur als Verhandlungsmasse zu benutzen, um doch noch zu einem Kompromiss zu kommen.

 

Wir halten das für unwahrscheinlich, weil die Oligarchie dann nachgeben müsste. Es schaut nun vielmehr danach aus, dass sie alles dazu tun wird, ein JA beim Referendum zu erreichen und damit Tsipras zu stürzen. Bei einem NEIN ist der Austritt quasi fix. Aber auch dann sind Verhandlungen notwendig zu den Bedingungen des Austritts, nämlich insbesondere die Stabilisierung der neuen Währung und damit verbunden ein Schuldennachlass. Denn die Erklärung der Nichtzahlung ist eine ernst Waffe.

 

Die Hauptgefahr besteht nun darin, dass der halbe Austritt durch die Sperrung der Banken und die Kapitalverkehrskontrollen, das Trommelfeuer der Oligarchie und ihrer Medien einschließlich der griechischen, die Angst- und Terrorkampagne dazu führen, dass die Mittelklassen den Mut verlieren. Gegen das Diktat der Troika hatten sie sich hinter Tsipras gestellt. Da nun alles auf einen Bruch und eine massive Abwertung hinausläuft, werden wohl einige, die tatsächlich oder vermeintlich noch etwas zu verlieren haben, kalte Füße bekommen.

 

Sollte sich eine seriöse Kompromissmöglichkeit anbieten, kann Tsipras gar nicht anders, also diese anzunehmen, denn sonst würde er mit Sicherheit die Mehrheit verlieren. Bleibt die Troika hart, dann gibt es die wirkliche Chance auch bei einem Bruch die Mehrheit zu halten. Dazu bedarf es allerdings eines Plan B, um das Land nach der Abstimmung so schnell wie möglich aus der Schockstarre zu holen. Von dem ist allerdings noch nichts zu sehen und zu hören. Dabei wird der Syriza-Linken, deren Programm so zur Realität werden kann, die entscheidende Rolle zukommen.

 

Von den internationalen Delegationen aus Deutschland (einschließlich des MdB Inge Höger von der Linken), Frankreich (Partei der Emanzipation des Volkes PEP), Italien (Linke Koordination gegen den Euro einschließlich einiger Ökonomen und Gewerkschafter), Spanien (Podemos), Österreich (Euroexit), Ukraine (Borotba) sowie Russland gab es massive Unterstützung für das Nein und Unterstützungsaktionen wurden angekündigt.

 

Am Sonntag endete das Forum mit einer Demonstration für das NEIN vor der Vertretung der EU hin zum griechischen Parlament. Zu den knapp tausend TeilnehmerInnen zählten auch Teile der Syriza-Jugend. Hoffentlich ein Fanal für eine breite Einheitsfront.

Die Troika fordert die Unterwerfung

von Stefan Hinsch, 17.6.2015

Nach dem Scheitern der „5 vor 12“ Verhandlungen, steigt am Donnerstag den 18.6. eine neue Griechenland Verhandlungsrunde der Eurogruppen Finanzminister. Diese wird ebenfalls scheitern, am Wochenende gibt es dann einen Not-Gipfel der Staatsoberhäupter. Eine „5 nach 12“ Einigung erscheint immer noch möglich, wird aber zunehmend unwahrscheinlich. Die Verhandlungen, ebenso wie die mediale Begleitmusik, werden zunehmend absurder.

Die Regierungen der Euro-Zone, ebenso wie die großen Medien, werden nicht müde die Geschichte der vertragsbrüchigen Griechen zu wiederholen, die ihre Aufgaben immer noch nicht gemacht haben, Vereinbarungen nicht einhalten, Reformen zurückweisen… Tatsächlich wurde das Land einer neoliberalen Rosskur der Sonderklasse unterzogen: Zwischen 2009 und 2014 verbesserte sich das Primärdefizit des Budgets (vor Zinszahlungen) um 12 Prozentpunkte. Das strukturelle Defizit verbesserte sich sogar um 20 Prozentpunkte – steckte die griechische Wirtschaft nicht in einer gigantischen Katastrophe, würde ein unglaublicher Budgetüberschuss (von etwa 10 Prozent des BIP) ausgewiesen. Die Leistungsbilanz verbesserte sich um 12 Prozentpunkte. Die Probleme der neoliberalen Rosskur sind mittlerweile auch bekannt: Seit 2009 ist das BIP um 27 Prozent gefallen, die inländische Nachfrage um 35 Prozent und die Arbeitslosigkeit hat 25 Prozent erreicht.

Die liberale Medizin hat den Patienten praktisch umgebracht, durch Not und Elend wurde aber tatsächlich eine Anpassung der griechischen Wirtschaft erreicht: Weder zur Finanzierung des staatlichen Budgets, noch zur Finanzierung von Importen bräuchte es im Augenblick „Hilfspakete“ und Kredite aus dem Ausland. Das Geld der Eurozone braucht man nur für den Schuldendienst.

Und hier liegt der Kern des Problems und der Absurdität begraben: Griechenland kann diese Schulden nicht bezahlen, sie müssen abgeschrieben werden, wenigstens zur Hälfte. Aber niemand gibt das zu und tatsächlich hat man sich auf einen Rahmen der Absurdität geeinigt: 2015 soll Griechenland einen Primärüberschuss von 1,5 Prozent des BIP aufweisen, 2016 einen von 2,5 Prozent – beides wird nicht möglich sein. Jetzt streitet man über den Weg zu diesem nicht erreichbaren Ziel. Die EU fordert ideologische Strukturreformen (Privatisierungen, Schwächung von Gewerkschaften…), vor allem aber eine weitere Pensionskürzung und ein Anheben der Mehrwertsteuer. Für die griechische Regierung ist das zu Recht nicht akzeptabel: Die Pensionen wurden in 6 Schritten bereits um mehr als 40 Prozent gekürzt (im Schnitt), die Pensionisten bereits völlig verarmt. Und ein weiteres Anheben der Mehrwertsteuer würde auch die Konjunktur noch einmal massiv schädigen: In der Folge liegen den Vorschlägen der Troika viel zu optimistische Wachstumsannahmen zu Grunde. Das ist wahrscheinlich bewusst: Ein Primärüberschuss in der von der EU geforderten Höhe ist im Augenblick nicht machbar – aber scheinbar ist das Ziel gar nicht ein realistisches Programm, sondern eine Demütigung Griechenlands und der Syriza-Regierung.

Die griechische Regierung hat dem „Spar-Ziel“ tatsächlich zugestimmt, will es aber mit echten Strukturreformen erreichen, durch eine effizientere Steuerverwaltung. Die EU hält dem entgegen, dass sich das nicht ausgehen kann, kurzfristig ist auch eine effizientere Steuerverwaltung nicht in der Lage die geforderten Summen aufzustellen. Da hat sie wohl Recht – allerdings sind die Budgetziele im Augenblick gar nicht zu erreichen.

Schulden von 175 Prozent des BIP sind für ein Land wie Griechenland nicht tragbar. Sie können nicht bezahlt werden, müssen abgeschrieben werden. Das war immer schon so: Wer nicht bezahlen kann, wird nicht bezahlen. Alle europäischen Nebelgranaten (etwa niedrigere Zinsen und längere Laufzeiten für die Kredite) helfen nicht wirklich – denn immer hängt das Damoklesschwert eines Zusammenbruchs der politischen Vereinbarungen, einer folgenden Staatspleite und ein mögliches Ausscheiden aus der Eurozone über Griechenland. Unter solchen Voraussetzungen ist keine Stabilisierung möglich, niemand investiert, niemand hält größere Einlagen in einer Bank, niemand vergibt Kredite. Der griechische Haushalt ist ein Zombie, künstlich vor einer Pleite gerettet, indem sich die Gläubiger ihre Zinsen selber bezahlen.

Die Eurozone scheint zu einer rationalen Politik nicht in der Lage. Das politische Gewicht des Neoliberalismus ist zu groß, die befürchtete politische Ansteckung einer vernünftigen Lösung lässt die Troika erzittern. Griechenland muss sich unterwerfen.

Griechenland hätte dem Euro nicht beitreten dürfen. Griechenland hätte 2011 austreten müssen, ordentlich abwerten und ordentlich Pleite gehen – eine isländische Lösung. Wenn sie zurecht nicht bereit ist sich von der Troika demütigen zu lassen und ein Hungerdiktat ablehnt, dann hätte Griechenland und die neue Syriza-Regierung das Primärüberschuss-Ziel bis 2016 nicht akzeptieren sollen – und sollte sich am Wochenende nicht auf einen deutschen Kompromiss einlassen. Denn ohne Schuldenstreichung kann dieser nicht endgültig sein. Und wird deswegen die Unsicherheit nicht aus der griechischen Wirtschaft nehmen

Die Krise der EU

von Annette Groth, Mitglied des deutschen Bundestages (Die Linke)

 

Die Europäische Union befindet sich in einer tiefen ökonomischen und demokratischen Legitimationskrise. Mit der Verabschiedung des Vertrags von Lissabon wurde ein autoritäres, neoliberales Gesellschaftsbild endgültig vertraglich festgelegt, das vor allem auf die Interessen der transnational arbeitenden internationalen Großkonzerne angelegt ist. Starke Ökonomien in der EU profitieren von dieser Grundlage, während die schwächeren immer weiter ins Abseits gedrängt werden.

Die heutige Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine Folge dieser falschen ökonomischen Grundlage der Europäischen Union. Durch die ständig zunehmende aggressive Exportpolitik vor allem auch Deutschlands, wurden die finanziellen und ökonomischen Grundlagen der schwächeren Staaten, allen voran Griechenland, Italien, Spanien und Portugal, immer weiter zerstört. Die „griechische Krise“ ist vor allem auch eine Krise des falschen vertraglichen und ökonomischen Grundkonzeptes der Europäischen Union.

Eine wesentliche Ursache für die Krise in den südeuropäischen Ländern ist die drastische Lohnsenkungspolitik der Bundesregierung. Stichwort hierfür ist die Agenda 2010[i], die durch die rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder begonnen und seitdem konsequent umgesetzt wurde. Diese fatale Lohnsenkungspolitik hat die „Beggar-thy-neighbor-Politik“ massiv vorangetrieben. Diese protektionistische Politik soll zu einer Erhöhung der Leistungsbilanzüberschüsse führen, mit der heimische ökonomische Defizite auf andere Volkswirtschaften abgewälzt werden. Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz hat darauf hingewiesen, dass eine solche Politik letztendlich zu einer Importverminderung und damit mittel- bis langfristig auch zu einem Rückgang der Exporte bei gleichzeitiger nachhaltiger Einschränkung der Nachfrage im eigenen Land führt.[ii]

Resultat einer solchen, an Wettbewerbsvorteilen der starken Ökonomien ausgerichteten, neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik sind zwar auf der einen Seite riesige Außenhandelsüberschüsse der starken Exportstaaten – so haben sich die Außenhandelsüberschüsse Deutschlands von 2000 bis 2015 auf zwei Billionen Euro summiert[iii] – gleichzeitig sind jedoch die Außenhandelsdefizite bei den schwächeren Ökonomien exorbitant angestiegen. Deshalb ist Grundvoraussetzung für die Lösung der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrise u.a. eine neue Wirtschaftspolitik in Deutschland mit dem Ziel, die Kaufkraft in Deutschland zu stärken und zu einer ausgeglichenen Handelsbilanz zu kommen.

 

Demokratie wird zerstört

Spätestens mit dem Ausbruch der Krise sind die demokratischen Defizite der EU eklatant zutage getreten. Griechenland wurden Sparauflagen diktiert, ein mit den EU-Verträgen nicht zu vereinbarendes Gremium, die Troika, wurde implementiert und demokratische Entscheidungen des griechischen Parlaments aufgehoben. Seit dieser Zeit werden griechische Regierungen gezwungen, die Austeritätspolitik der EU-Staaten umzusetzen und durch weitreichende Privatisierungen, Deregulierungen und Haushaltskürzungen Entwicklungsmöglichkeiten für die griechische Wirtschaft einzuschränken. Folge dieser falschen Politik der Troika sind Massenarbeitslosigkeit, Armut, zunehmende Obdachlosigkeit, ein zerstörtes Gesundheitswesen und die systematische Abwicklung des Sozialstaates in Griechenland. Gegen diese Politik hat sich Widerstand formiert, der mit dem Wahlerfolg von Syriza auch im Parlament seinen Ausdruck fand.

Ziel der neuen Regierung ist es, Griechenland von den katastrophalen gesamtwirtschaftlichen Kosten durch die „aufoktroyierte staatliche Schrumpfpolitik“[iv] zu befreien. Die bisherigen Finanzhilfen aus dem Rettungsfonds haben ausschließlich der Finanzierung von auszuzahlenden Staatsschulden an die Gläubiger gedient[v] und damit ein groß angelegtes Umverteilungsprogramm von Privatgläubigern hin zu staatlichen Absicherungen dargestellt. Für die Entwicklung der Infrastruktur in Griechenland und der Stimulierung der Wirtschaft wurden bisher keinerlei Finanzhilfen zur Verfügung gestellt. Die bisherige Politik der starken Staaten der EU ist darauf ausgerichtet, den griechischen Absatzmarkt mittelfristig zu stabilisieren, aber eine eigenständige ökonomische Entwicklung der griechischen Wirtschaft nicht zu fördern, um weiterhin hohe Profite der exportorientierten Nationalkapitale abzusichern. Mit dieser Politik sollen die bisherigen Schulden sozialisiert werden, um gleichzeitig neue private Profitmöglichkeiten für die Großunternehmen möglich zu machen.

Folge dieser falschen Finanzpolitik ist die ständige Zunahme der Staatsverschuldung Griechenlands, die von 2006 (107,3 Prozent des BIP) bis 2015 (179,5 % des BIP) stetig angestiegen ist. Allein im vergangenen Jahr hat aufgrund der falschen Politik der Troika die Neuverschuldung Griechenlands um 7 Milliarden Euro zugenommen.[vi]

Die Troika und die neoliberalen Regierungen haben schon im Vorfeld des Wahlkampfes in die innergriechischen Debatten eingegriffen und sowohl direkt als auch indirekt vor einer Wahl von SYRIZA gewarnt. Ziel war es, die griechischen Wählerinnen und Wähler einzuschüchtern, damit sie auf ihr Recht auf einen Kurswechsel verzichten.[vii] Mit dieser Kampagne sollten Vorbereitungen getroffen werden, im Falle eines Wahlsieges von Syriza eine negative Stimmung in den anderen von der Krise betroffenen Ländern zu erzeugen und zu verhindern, dass dort fortschrittliche Parteien wie z.B. Podemos in Spanien gute Wahlergebnisse erhalten.[viii] Die derzeit Herrschenden fürchten eine Beispielwirkung von Griechenland und setzen alles daran, den Wählenden zu vermitteln, dass auch eine Linksregierung gegen die Macht des neoliberalen Politikkartells keine Chance hat. Sie wollen durch ihre Politik ein Scheitern der Syriza-Regierung fördern und nehmen für die Sicherung ihrer Politik eine deutliche Stärkung von rechtspopulistischen und faschistischen Parteien und Gruppen in Griechenland und anderen Staaten der EU bewusst in Kauf.

Die Troika hat mit ihrer Politik eine katastrophale Entwicklung in Griechenland eingeleitet: „Die griechische Wirtschaftsleistung ist zwischen 2008 und 2014 um rund 25 Prozent kollabiert. Die Inlandsnachfrage brach preisbereinigt sogar um ein Drittel ein (2007-13), das sind 15 Prozentpunkte mehr als in den anderen europäischen Krisenländern. Die Bruttoanlageinvestitionen schmolzen preisbereinigt um 65 Prozent (2007-14), die Beschäftigung fiel um 20 Prozent.“[ix] Auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) macht deutlich, dass „die nominalen Bruttoeinkommen der griechischen Privathaushalte in nur vier Jahren von 2008 bis 2012 um ein knappes Viertel gesunken“ sind.[x]

Toussaint weist in seinem Artikel weiterhin darauf hin, dass „im Artikel 7 Punkt 9 den Staaten unter struktureller Anpassung vorgeschrieben wird, eine gründliche Prüfung der Staatsschulden vorzunehmen, um zu klären, warum die Verschuldung übermäßig gestiegen ist, und Unregelmäßigkeiten aufzuspüren“[xi]. Er bezieht sich dabei auf die „Verordnung (EG) Nr. 472/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über den Ausbau der wirtschafts- und haushaltspolitischen Überwachung von Mitgliedstaaten im Euro-Währungsgebiet, die von gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf ihre finanzielle Stabilität betroffen oder bedroht sind.“ In dieser Verordnung werden die Mitgliedstaaten ausdrücklich in Artikel 7 Punkt 9 aufgefordert, dass „ein Mitgliedstaat, der einem makroökonomischen Anpassungsprogramm unterliegt, … eine umfassende Prüfung seiner öffentlichen Finanzen durchführt, um unter anderem die Gründe für die Entstehung des übermäßigen Schuldenstandes zu analysieren und etwaige Unregelmäßigkeiten zu ermitteln.“ Die griechische Regierung hat mit ihrem Reformprogramm eine solche Prüfung ausdrücklich vorgenommen, wird jedoch von der Troika daran gehindert, politisch und ökonomisch sinnvolle Schlussfolgerungen aus dieser Analyse zu ziehen. Würde eine solche Prüfung durch die griechische Regierung akzeptiert, müsste die neoliberale Austeritätspolitik sofort beendet werden.

In dem „ÖkonomInnenaufruf für Griechenland“ wurde die Troika ausdrücklich aufgefordert, die „Entscheidung des griechischen Volkes, einen neuen Kurs einzuschlagen, zu respektieren und guten Glaubens in Verhandlungen mit der neuen Regierung Griechenlands zur Lösung des griechischen Schuldenproblems einzutreten. Die griechische Regierung besteht zu Recht auf neuen Konzepten, denn die bisherigen sind gescheitert“.[xii]

Die Syriza-Regierung versucht, mit ihrem Politikansatz eine Verständigung zwischen Troika und Griechenland herbeizuführen. Bei ihrem Kampf gegen die neoliberalen Dogmen geht es vor allem auch um die Rückgewinnung von Souveränität des griechischen Staates gegen die Diktatur aus Troika und den Gremien der Eurozone. Ziel ist es, durch eine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik die Verbesserung der Lebensverhältnisse der breiten Bevölkerung in den Mittelpunkt der Politik zu stellen und eine jahrelange faktische Fremdherrschaft durch die Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF zu beenden.[xiii]

Ziel der Syriza-Regierung ist es, die humanitäre Krise zu bewältigen, die rezessionsgeschwächte Wirtschaft zu stärken, einen Kampf gegen die grassierende Korruption und Schattenwirtschaft in Griechenland zu organisieren und die Einführung eines »gerechten« Steuersystems voranzubringen. Dies soll durch die Verabschiedung eines Vierjahresplans auf den Weg gebracht werden, der zu einem ausgeglichenen Staatshaushalt führen soll.[xiv] Diese Politik wurde von der Troika von Anfang an torpediert. Die Troika versucht, der neuen Regierung ihre Bedingungen zu diktieren und sie auf den „alten“ Kurs der gescheiterten Regierung zurückzudrängen. Die Strategie der Troika geht offiziell von der Diagnose aus, dass die Hauptursachen der Finanzkrise in Griechenland in einer undisziplinierten Fiskalpolitik, zu hohen Löhnen sowie einem Mangel an Strukturreformen zu suchen seien.[xv] In der offiziellen Behauptung der Troika ist die Krise also vollständig „Made in Greece“.[xvi] Mit dieser Falschbehauptung soll von der wirklichen Ursache der Krise abgelenkt und die Politik der Exportorientierung der Hauptländer der EU weiter gesichert werden.

 

EU braucht radikalen Kurswechsel

Die neoliberale Logik der EU muss beendet werden. Ziel muss ein radikaler Politikwechsel in der EU sein. Hierfür ist eine Neuausrichtung der Finanzpolitik der EU notwendig. Es ist absurd, dass die EZB Banken mit billigem Geld zu Niedrigzinsen versorgt, die dieses Geld dann als teure Kredite an die Staaten weiterverleihen. In Zukunft müssen die Staaten direkt bei der EZB die Finanzierung ihrer Haushalte sicherstellen können. Weiter muss eine weitgehende Demokratisierung der EZB durchgesetzt werden, bei der demokratisch gewählte Parlamente die Politik der EZB überwachen und auch beeinflussen können.

Die bisherige Politik der Troika muss endlich beendet werden. Die Akteure der Troika „erpressten Minister, spielten sich zum Gesetzgeber auf und machten gemeinsame Sache mit den reichen Eliten. Die als Kontrolleure eingesetzten Technokraten aus IWF, EZB und EU-Kommission hatten in den Krisenstaaten eine Macht jenseits aller demokratischen Kontrolle“[xvii]. Dieses undemokratische Instrument der Herrschenden muss seine Arbeit einstellen und die Verhandlungen zwischen Regierungen müssen in die demokratischen Institutionen zurückverlagert werden. Dafür braucht es eine grundlegende Reform der Eurozone und der EU-Verträge.

[i] Siehe dazu: Michael Schlecht. Michael, Klartext zu Griechenland, 07.05.2015, S. 2 ff.
[ii] Siehe dazu: Joseph E Stiglitz, Carl E Walsh, Mikroökonomie: Band 1 zur Volkswirtschaftslehre, Oldenbourg Verlag, 2010, S. 508ff.
[iii] Siehe dazu: Michael Schlecht. Michael, Klartext zu Griechenland, 07.05.2015, S. 2 ff.
[iv] Hickel, Rudolf, Das Beispiel Griechenland: Die Rettungspolitik Finanzhilfen aus dem Rettungsfonds gegen staatliche Schrumpfpolitik ist gescheitert: Schuldenbewältigung durch Stärkung der wirtschaftlichen Wachstumskräfte, S. 1, o.Jahr.
[v] Ebd.
[vi] Ebd.
[vii] Toussaint, Eric, Und wenn Syriza die Europäische Union beim Wort nehmen und Griechenlands Schulden prüfen würde?, 31.01.2015.
[viii] Ebd.
[ix] : Priewe Jan/Stachelsky, Phillip, Griechische Depression – wenn die Chefärzte versagen, März 2015, S. 1.
[x] Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung: Tassos Giannitsis, Stavros Zografakis: Greece: Solidarity and Adjustment in Times of Crisis (pdf), Studie gefördert vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung; IMK Study 38, März 2015.
[xi] Ebd., S. 2.
[xii] ÖkonomInnenaufruf für Griechenland,
[xiii] Redaktion Sozialismus: Syrizas Erfolg hängt auch vom gesellschaftlichen Druck ab, Zwischen Konfrontation und Kooperation, 01.02.2015
[xiv] Ebd.
[xv] Siehe dazu: Priewe Jan/Stachelsky, Phillip, Griechische Depression – wenn die Chefärzte versagen, März 2015.
[xvi] Ebd.
[xvii] Harald Schumann, Harald, Die Troika: Macht ohne Kontrolle, in: Tagesspiegel, 24.02.2015.

DER €-STAAT UND SEINE ALTERNATIVEN. II

II. Die Gesellschaft der Gegenwart und ihr Staat

Unterscheidet etwas die Gesellschaft der Gegenwart von der Tradition, so ist es ihr Charakter als Gesamtsystem der Menschheit. Die Einheitlichkeit dieses Systems in seinem gesellschaft­lichen Charakter bedeutet: Wir alle spüren die Auswirkungen von Prozessen und Geschehnis­sen in anderen Teilen der Welt schnell im Alltag. Ein Putschversuch in Gambia und die fol­gende Repression treibt dort die Auswanderung weiter an. Österreichische Sicherheitskräfte auf der Inntal-Eisenbahn werden in einigen Wochen oder Monaten verstärkt Afrikaner aufgreifen und nach Italien zurückschicken. Und wenn die EU in der Ukraine eine Krise anzündelt, führt dies zu Kursverschiebungen zwischen dem € und dem US-$, und das wirkt auf die Schuldensituation Argentiniens zurück.

Aber dieser Charakter als Gesamtsystem bedeutet keineswegs Homogenität. Es ist vielmehr ein System von Differenzen. Differenzen heißt: unterschiedliche Lebens-Chancen und unter­schiedlicher Wohlstand. Überdies hat das System unterschiedliche Perspektiven und Aspekte. Das politische Weltsystem besteht aus Staaten, die sich durch Diplomaten vertreten lassen. Die verstehen sich bei allen Meinungsverschiedenheiten untereinander meist ganz gut. Sie sind gemeint, wenn das Propaganda-Vokabel von der „internationalen Gemeinschaft“ einge­setzt wird; sie bilden in vieler Weise ja wirklich eine Gemeinschaft gegen ihre Bevölkerun­gen. Sie haben auch einen eigenen Benimm-Kodex und nennen dies hochtrabend Völkerrecht.

Doch es gibt auch ein sozio-ökonomisches Weltsystem. Dies entstand und entsteht keines­wegs rein spontan. Es erwächst aus dem politischen Willen der Eliten in einem über Jahr­zehnte geführten multilateralen Verhandlungsprozess auf globaler und regionaler Ebene. Es wird dementsprechend auch in ganz spezifischer Weise strukturiert.

Diesen politischen Prozess des Aufbaus eines globalen Finanzkapitalismus meinen wir, wenn wir von Globalisierung sprechen.

Seien wir klar: Die EU ist nicht eine einzigartige Entwicklung, gewisser Maßen eine neue Gottheit der Menschheitsgeschichte. Sie ist schlicht die europäische Ausprägung und Einkleidung dessen, was wir Globalisierung nennen. Globalisierung ging und geht, u. a. als Regionalisierung vor sich.

II.0 Globalisierung: Der Finanzkapitalismus heute ˗ Trend und Brüche

Über Globalisierung lässt sich seriös nur mit größter Vorsicht sprechen. Das ist das Schicksal aller solcher Begriffe, die ˗ zu früh? zu allgemein? ˗ aus der analytischen Sphäre in den politi­schen Kampf abwandern. Sie werden zu militanten Slogans mit oft fast beliebigen Inhalten. Selbst die politische Einvernahmung durch ganz andere, gar nicht progressive Kräfte passiert. Auch außerordentlich konservative, ja reaktionäre Autoren gerieren sich heute als Globalisie­rungskritiker (Mayer 2014). So sollen denn die folgenden kurzenstärker etwas konkretisiert werden.

Die ökonomische Dynamik, „the perfect world envisioned by economists“ (Rajan), geht von einem Weltsystem aus. Aber es wird so schematisch und dogmatisch aufgefasst, dass es wahr­lich nur mehr professionelle Ökonomen erkennen, welche die Welt mit ihren Lehrbüchern verwechseln. Staaten verhalten sich in diesem Weltsystem wie Personen-Unternehmer auf einem überschaubaren Markt. Aber wenig überraschend: Das ist nicht so. Staaten bzw. Regierungen haben mit höchst komplexen Systemen zu tun.

Globalisierung, nämlich politisch voran getriebene Transnationalisierung / Transstatalisie­rung, ist ein Prozess, der von mehreren Zentren mit rechtunterschiedlichen Charakteren aus­geht. In Europa haben die hoch entwickelten Gesellschaften mit der EU einen supranationalen Staat aufgebaut und lagern ihr nunmehr die Peripherien aus dem seinerzeitigen „sozialisti­schen“ Lager an. Die USA verfolgen in ihrem nationalen Interesse ein Globalisierungs-Pro­jekt, das sie zu den unbefragten Herren der Welt machen soll. Aber kann man hier noch den Begriff national einsetzen? Nicht zu Unrecht hat man die USA einen „kosmischen“ Staat genannt, welcher jedes Weltgeschehen als ihre innenpolitische Frage betrachtet. Mit erhebli­chem Erfolg betreiben sie es, dem Rest der kapitalistischen Welt ihr inneres Rechtssystem aufzuzwingen. Und politische Eliten auch aus der schlecht entwickelten Welt schielen mit Neid nach Europa und versuchen, zumindest die Terminologie nachzuahmen: „Afrikanische Union“, etc.

Allein das bringt es mit sich, dass Globalisierung als Regionalisierung auftreten muss. Der Prozess, welchen wir als Globalisierung bezeichnen, und welcher die globale Welt heute konstituiert, kann also gar nicht als homogene Gesamtheit gesehen werden. Eine solche, weit verbreitete Auffassung ist eine hegelianische Irrlehre und ganz offenkundig falsch. Unglückli­cher Weise hält sich der Hegelianismus noch immer recht zäh, und zwar hauptsächlich in den Resten der Linken in der marxistischen Tradition.

Das hat, u. a., zur Folge, dass dort Globalisierung grundsätzlich positiv beurteilt wird, nach dem Muster alter sowjetischer oder DDR-Lehrbücher, die auch die Sklaverei „objektiv“ als „Fortschritt“ gegenüber Sammler-/Jäger- und Ackerbau-Gesellschaften sahen. Dieselbe Hal­tung finden wir heute bei nicht wenigen Linken, von der linken Sozialdemokratie, wie sie sich heute z. B. in der bundesrepublikanischen Partei Die Linke findet, bis zu manchen Abkömm­lingen der alten sowjetorientierten Kommunisten. Das hat aber dann auch zur Folge, dass die vorgeschalteten Analysen von ganz unzulänglichen Konzepten ausgehen. Wir kämpfen immer wieder die Kämpfe der Vergangenheit und versäumen damit nicht selten die Probleme der Gegenwart und der Zukunft.

Verstehen wir uns recht! Wir können nicht tabula rasa machen und völlig aus dem Nichts neu beginnen. Wir müssen die Instrumente verwenden, welche bisher schon entwickelt wurden, und müssen daraus auch neue Denk- und Analyse-Instrumente entwickeln. Überdies macht dies politisch viel Sinn. Die Eliten haben nach ihrer „Wende“ mit großem Erfolg versucht, die sozialistische Gedankenwelt, und insbesondere die marxistische Tradition von Grund auf zu zerstören. Dazu hatten sie alle Ursache. Wenn man die heutigen Zeitungen liest, begreift man nur zu gut, wie sehr sie sich dadurch noch immer bedroht fühlen. Wir aber stehen damit auch ein wenig in einer Doppelmühle. Wir müssen nicht nur die Probleme der globalen Welt heute mit Begriffen zu begreifen versuchen, die sich bestens bewährt haben. Wir stehen auch vor der Tatsache, dass sich auch jene Menschen, die wir ansprechen wollen, in dieser Terminolo­gie vielfach nicht mehr erkennen, ja, sie strikt ablehnen.

Die Finanz-, Wirtschafts- und Eurokrise ist eine Krise der Globalisierung und der darauf ausgerichteten politischen Strategie.

Die Finanzkrise entstand aus einer Bankenkrise vitalen Ausmaßes in den USA 2007/2008. Aber die Finanzkrise hat einen noch viel ausgeprägter globalen Aspekt, als dieser Verweis auf die USA es ohnehin schon erkennen lässt. Man kann sie ohne weiteres als eine fundamentale Entwicklungskrise des globalen Kapitalismus sehen. Wählt man diesen Blickwinkel, dann wird auch der Zeithorizont nochmals länger. Dabei erlebt man einige Überraschungen. Abläu­fe werden nun zum Teil dieser Krise, die man gewohnt ist, durchaus als eigenständig und gesondert zu betrachten. Die Ostasienkrise der Jahrtausendwende stellt sich nun neben die Euro-Krise, und letztere wird noch besser als die europäische Ausformung eines verallgemei­nerbaren Mega-Prozesses sichtbar.

„Bail out“

Dementsprechend tauchen auch Begriffe in ein neues Licht, welche wir untrennbar mit der Euro-Krise verbunden glauben. Bail out, die Verstaatlichung und Vergesellschaftung privater Verluste aus überzogenen Projekten auf Grund von massiv falschen Anreizen, finden wir nun nicht mehr nur in Griechenland und Spanien, sondern auch in Thailand und Malaysia (Stiglitz / Yusuf 2001; Sharma 2003). Und die Beschreibung des Ablaufs damals erinnert in Manchem an Griechenland.

Sehen wir etwas genauer hin! Bail out als Folge des „too big to fail“ ist im Grund nichts An­deres als die Feststellung: Der Kapitalismus der Gegenwart organisiert eine derart hoch ver­netzte Gesellschaft, dass es unverantwortlich wäre, strategische Organisationen, Unternehmen oder auch Staaten, bankrott gehen zu lassen. Das könnte das gesamte globale System gefähr­den. Ist das aber richtig und schieben wir einmal die Trittbrettfahrer dieser Feststellung beisei­te, die schäbigen Teilhaber und Spekulanten, dann heißt dies aber selbstverständlich: Die Vernetzung ist mittlerweile so hoch, dass eine private Organisierung der Wirtschaft eine Verantwortungslosigkeit ist. Denn Bankrotte wird, ja muss es immer geben. Ob man sie aber in der katastrophalen Form des Bankrotts ablaufen lässt, oder ob man unter den vielen Fällen von Versuch und Irrtum die vielen ganz unvermeidlichen Irrtümer auf eine geordnete Weise und zivil bereinigt, wird unter dieser Perspektive zur Systemfrage.

Denn die Debatte in der mainstream-Ökonomie über die notwendige Internalisierung der Kosten, der Verluste von Unternehmen und Banken etwa, ist unter diesem Blickwinkel reine Ideologie altliberaler Ökonomen. Die Unternehmen alle Folgen ihrer Handlungen selbst tra­gen zu lassen, wie die schöne Erklärung von Internalisierung lautet, ist in einer Gesellschaft wie der unseren gar nicht mehr wirklich möglich. Das gilt für die Wirtschaften der Entwick­lungs- und Schwellenländer ebenso wie für die hoch entwickelten Länder.

Das gilt nicht zuletzt auch für die Bemühungen um höhere Sicherheit des Finanzsystem durch, z. B., bessere Kapitalisierung der Banken. Dazu gehören vorrangig auch die Regel­systeme Basel I, II und III. Selbstverständlich ist es eine Verbesserung, wenn die Eigen­kapital-Anforderungen an Banken erhöht werden. Aber wie wenig dies allein nützt, zeigen die Vorschläge, die von manchen besorgten Ökonomen kommen, und die wesentlich weiter gehen: 20 % bis 30 % Eigenkapital schlagen etwa Admati / Hellwig vor. Aber im Grund reicht auch dies nicht. So gibt es andere, die zu einem alten System zurück kehren wollen und eine Golddeckung befürworten. Das Problem, welches dahinter steht, ist im Grund recht einfach: Ein einzelnes Unternehmen kann die notwendige Sicherheit nicht gewährleisten. In der heutigen hoch vernetzten Welt ist es die Gesellschaft als solche, welche diese Bürde zu übernehmen hat. Das tut sie ja leider auch. Allerdings geschieht dies nur zum Nutzen der winzigen Oligarchie.

Wie wenig die vielleicht gut gemeinten Bemühungen wirklich gefruchtet haben, zeigt ein Detail: Seit 2008 hat sich das „too big to fail“-Problem verschärft, nicht entspannt. Viele Banken sind heute deutlich größer als vor dem Ausbruch der Krise.

Der „Crony-Kapitalismus“, der Kapitalismus der persönlichen Beziehungen in den Schwel­lenländern, wird von Apologeten umgeschrieben zum gemanagten Kapitalismus. Dieser Ausdruck ist überhaupt aufschlussreich. Er erinnert akut an dem Organisierten Kapitalismus des Maurice Dobb (1966), der es vor einem dreiviertel Jahrhundert allerdings in einer ganz anderen Weise kritisch meinte. Halb polemisch, halb analytisch könnten wir auch sagen: Das ist eine List’sche Entwicklungs-Strategie für Schwellenländer im Spätkapitalismus, die Entwicklung unter staatlichen Schutz, der allerdings die klientelistischen Formen der traditionalen Gesellschaft annimmt.

Von all diesen Begrifflichkeiten ist es nicht mehr weit zum STAMOKAP der hoch entwickel­ten westlichen Gesellschaften, zum Staatsmonopolistischen Kapitalismus aus dem Theorie-Fundus der moskau-orientierten kommunistischen Parteien der 1970er und 1980er. Was hat es nun mit dem auf sich, und ist er für unsere Interessen anwendbar?

II.0.1 Finanzkapitalismus

Die Finanzkrise hat dazu geführt, dass auch vielen Verteidigern des Systems unbehaglich wurde. Es geht ihnen darum, dieses System durch Reformen zu stabilisieren. Kennzeichnend ist die Argumentation bei Rajan 2011, einem ehemaligen Chef-Ökonomen des IMF. Nachdem er klargestellt hat, dass er das „freie Unternehmertum“ für die besten aller Welten hielte, wenn sie entsprechend gestaltet ist; in manchmal erstaunlicher Weise analysiert er „Bruchlinien“ der heutigen Welt. Allerdings muss man auch da hinsehen. Er betont, dass nicht die Wirtschaft, sondern die Politik die Verantwortung für die Finanzkrise trägt, und wiederholt zweimal nacheinander, dass „wir alle“ mitschuld sind. So schwenkt er wieder voll auf die Ideologie des Finanzkapitalismus ein.

Der Finanzsektor, so schreibt er (p. 106), ist das Hirn der modernen Ökonomie. „Wenn er gut funktioniert, weist er die Ressourcen effektiv zu, sorgt für Wachstum, … bietet breite Mög­lichkeiten und bringt Privilegien zu Fall…“ Diese Elogen klingen schon verdächtig. Tatsäch­lich ist Geld der Regelmechanismus einer Marktwirtschaft. Die Organisation des Finanzsek­tors aber macht den institutionellen Rahmen für das Geld aus. Soweit die nüchterne Tatsache. Wenn Länder schlecht entwickelt sind, ist in der Regel auch das Finanzsystem schlecht entwickelt. Crony-Kapitalismus setzt sich nun aber am liebsten im Finanzsystem fest, weil dort die Korruptions-Möglichkeiten noch größer sind als im Produktions-System.

Doch allein, dass dieser zentrale Institutionen-Verbund privat organisiert ist und ausschließ­lich auf zugespitzten Profit-Interessen aufbaut, auf Profit-Interessen, die zum Paradigma aller Schäbigkeiten des Kapitalismus wurden, kennzeichnet am besten das System. Der Zugang zu Kredit ist in einer hochkomplexen arbeitsteiligen Wirtschaft wahrlich von fundamentaler Bedeutung. Allein die Bemühungen um die Mikro-Kredite in Entwicklungsländern zeigen die Schlüsselfunktion für die wirtschaftlichen Prozesse. Aber bei der Regulierung dieses Mons­ters, des Finanz-Sektors, geht es um eine Reihe von Eigenschaften dieses Systems.

II.1. Einkommen und Einkommens-Ungleichheit: der zentrale Punkt

Das Einkommen und seine Verteilung in den letzten Jahrzehnten ist eine Frage, die für man­che sehr technisch klingt. Aber hier gibt es eine neue Aufmerksamkeit. Der Sensations-Erfolg des Thomas Piketty (2013, deutsch 2014) hat auch die dominanten Kräfte alarmiert, soweit sie ein bisschen Hirn aufbringen. In Österreich ist eine der Antworten darauf die Steuer-Reform. Sie wurde und wird dazu benützt, um die Ungleichheit zu vergrößern und die Bevölkerung eine Zeitlang zu kalmieren.

In der Nachkriegszeit hatte Simon Kuznets (1955), ein Ökonom, der noch ein wenig von der Tradition der alten Politischen Ökonomie samt ihrer marxistischen Ausformung mitbekam und dadurch befähigt wurde, maßgeblich die VGR mitzuentwickeln, begonnen, sich um die Einkommensverteilung Gedanken zu machen. An der britischen Geschichte konnte man ablesen: Im Lauf der Industriellen Revolution stieg die Einkommens-Ungleichheit gegenüber der vorherigen sogar noch an. Erst im 20. Jahrhundert sank sie dann deutlich. Diese Bewe­gung, die Kuznets-Kurve, interpretierte er als allgemeines Gesetz. Er zog daraus die tröstliche Gewissheit: Im Kapitalismus wird letztendlich doch alles wieder gut.

Kaum zwei Jahrzehnte später konnte er es besser sehen. Erst langsam, mit der Nixon-Präsi­dentschaft von 1969 ˗ 1975, dann unter Reagan aber umso schneller, wandelte sich die Kuznets-Kurve zur Großen U-Kurve („the Great U-turn“). Die Ungleichheit allgemein (z. B. der Gini-Koeffizient), aber insbesondere die Anteile ganz oben des obersten Prozents und des obersten Promilles, stiegen in unglaubliche Höhen.

Die politische Förderung der Oligarchie seitens des Reagan-Regimes verstärkte die wider­sprüchlichen Verhältnisse in den USA. Das angeblich reichste Land der Welt hat eine Ein­kommensstruktur, wie wir sie sonst nur in Entwicklungsländern sehen. Dem entsprechen auch die wesentlichsten Wohlstands-Indikatoren, etwa die Lebenserwartung bei Geburt: Sie ist viel niedriger, als es einem hoch entwickelten Land entspräche, niedriger als in Westeuropa, wo das BIP p.c. offiziell deutlich niedriger liegt.

 

Graphik: Der Anteil des obersten Prozent am Gesamteinkommen, in %

QuellePiketty

Quelle: Piketty

Die USA spielen den Vorläufer und geben den Ton an. Hier liegt der Anteil des obersten Prozents tatsächlich bereits höher als 1915 (17,6 %). 2007, unmittelbar vor Ausbruch der Finanzkrise aber stand er auf 23,5 %, und 2010, mitten in der Krise, wieder bei 19,8 %. Nur einmal in der Zwischenzeit, im Jahr 1928, direkt vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise mit ihren Katastropen, lag er mit 23,9 % auf derselben Höhe. Diese Parallele in der extremen Ungleichheit und der Explosion der Krise ist kein Zufall, wie der konservative Rajan (2010) betont.

Großbritanniens aristokratisch-bürgerliche Gesellschaft hielt länger an. Daher hatte der Anteil der Superreichen noch zu Beginn des Zweiten Weltkriegs einen besonders hohen Wert (1940: 15,4 %). Aber auch dort sank er danach beträchtlich. Direkt vor Thatcher erreichte der Anteil mit 5,7 % (1978) einen untersten Wert, und seither geht es nahezu unaufhaltsam in die Höhe (2010: 14,7 %).

Schweden schließlich ist zwar noch immer gegen die beiden anderen Gesellschaften vergleichweise egalitär. Aber die allgemeine Ungleichheit steigt noch schneller als dort. Hier ist der Anteil der Superreichen mit 7,1 % im Jahr 2008 fast schon bescheiden, aber im Vergleich zu 4,4 % 1990 um so stärker gestiegen. Schweden hat ein etwas eigenes Modell: Die dortigen politischen Eliten haben nicht zuletzt die Ungleichheit im Rahmen der Mittelklasse gefördert.

 

Wir können den Unterschied zwischen der Vor-Reagan-Zeit und des heutigen neoliberalen Zeitalters, zwischen, sagen wir: 1975 und 1999, an den Ideologen und Ideologien nicht schlecht erkennen. 1975 argumentierte ein US-Ökonom in einem danach weit verbreiteten und viel zitierten Büchlein: Un­gleichheit ist notwendig, damit die Anreizstruktur für Leistungen stark genug ist, und alle dadurch gewinnen, auch die unteren Schichten (Okun 1975): Unequality and efficiency ˗ the big trade-off. Es geht mir hier nicht um die Richtigkeit des Arguments. Es geht um die Gegenüberstellung zu einem andern Text gut zwei Jahrzehnte später. 1999 heißt es von einem sehr prominenten anderen US-Ökonomen: „Ungleich­heit als solche ist kein Problem… Politik sollte sich nicht um Ungleichheit, sondern um Armut kümmern“ (Feldstein 1999). Und er wendet sich ausdrücklich gegen das „funktionelle Argument“, wie er es nennt. Und er schreibt weiter: „…“ Auch hier geht es vorerst nicht um die Argumente selbst. Es geht nur um die Stimmung. Seinerzeit bemühte man sich noch, die Ungleichheit zu rechtfertigen. Später und heute sagt man nur mehr: Die hohen Einkommen der Superreichen sind per se gut. Feldstein war Reagan-Berater. Diese Aussagen vom ihm ist heute in der EU gang und gäbe. Man könnte das Glaubensbekenntnis der Europäischen Kommission kaum kürzer zusammenfassen.

In einem umfangreichen Interview in der Zeit vom 15. Jänner 2015 positioniert sich Mario Draghi in der Zeit seines Studiums im „liberalen Sozialismus“, d. h. der Sozialdemokratie. Wie könnte man letztere besser charakterisieren als mit der Person Draghi?

 

Graphik: Ungleichheit im internationalen Vergleich

Quelle: Piketty, website

An diesem Vergleich kann man die unterschiedlichen Modelle der Ungleichheit erkennen. Die USA stechen in allen Kategorien heraus. Von den Entwicklungsländern, die gewöhnlich eine besonders hohe Gesamt-Ungleichheit zeigen, unterscheiden sie sich dadurch, dass sie ihre Unterschichten nicht verhungern lassen. Aber sie bilden das Muster der Ein-Viertel-Gesellschaft. Die Früchte des Produkti­vitätsgewinns gehen ausschließlich an die obersten Gruppen. Von jedem Dollar, den sie seit 1976 zusätzlich erwirtschaftet haben, gingen 58 Cent an das oberste Prozent, und der Rest fast zur Gänze an die 9 % darunter.

De Europäer, die BRD, Frankreich, Schweden, sind ein gewisses Alternativ-Modell. Hier bevorteilt die Ungleichheit die gesamte Obere Mittelschicht. Allerdings wachsen auch hier die Anteil des obersten Prozents bzw. des obersten Promilles. Das US-Modell setzt sich langsam durch.

China ist aus Datenmangel nicht unmittelbar vergleichbar. Soweit man erkennen kann, nimmt dort die Ungleichheit aber langsam die Ausmaße von Chile, Brasilien und Südafrika an.

 

Die britische Regierung beeilte sich ab 1980, dem US-Vorbild nachzueifern. Tatsächlich hat sich dort danach auch der Anteil des obersten Prozents fast verdreifacht.

An der Oberfläche ist Westeuropa keine Einheit. Aber die Entwicklungs-Tendenzen sind doch überall dieselben. Ein Wunder? Gehört doch die Region inzwischen fast zur Gänze zur EU. Auch die einzig nennenswerten Ausnahmen, die Schweiz und Norwegen, bemühen sich, „autonom“ dieselbe Politik nachzuvollziehen. In beiden Staaten wollten die Eliten sich formell dem Brüsseler / Berliner Zentrum unterwerfen. Im letzten Moment gelang es der Bevölkerung, dies mehrheitlich in Volksabstimmungen abzuwenden. Aber die Eliten führen doch die Politik, welche sie wünschen.

Trotzdem hat sich die Entwicklung in Westeuropa um ein- bis eineinhalb Jahrzehnte gegen­über jener in den USA verschoben. Erst als die Lissabon-Strategie zur strategischen Ziel­setzung der Bürokratie avancierte, war dies nicht mehr aufzuhalten. Mitte der 1990er begann die Ungleichheit auch in Frankreich, den BeNeLux-Ländern und in Skandinavien zu steigen. Gerade dort ist die Schub-Umkehr ausgeprägt. Deutschland ist wegen des Anschlusses der früheren DDR ein Fall für sich. Wir werden noch darauf zurück kommen.

II.1.1 Ungleichheit und Finanzkrise

So, wie die Finanzkrise sich zuerst in den USA manifestierte, war sie nicht zuletzt auch ein Ergebnis der rapid wachsenden Ungleichheit in dieser Gesellschaft. Die Immobilienblase und die daraus erwachsende Subprime-Krise entstand aus dem Versuch, die Einkommen nach oben zu den Bestverdienenden zu verschieben, und doch den Unterschichten zu ihrer Beruhi­gung etwas zukommen zu lassen. Es war ein ökonomisch-politisches Perpetuum Mobile. Die Einkommen der Unterschichten bis in die unteren Mittelschichten hatten aufgehört zuzulegen, für die unteren Unterschichten sanken sie sogar. Der „amerikanische Traum“ kam ins Wanken.

Das geschah nicht zum ersten Mal. Schon früher hatte die Politik reagiert, indem sie sich vor allem einer Komponente dieses Traums annahm. Zumindest ein Haus sollten alle Familien haben. Was dies freilich in den USA häufig bedeutet, muss einmal in einer Containerschachtel ein paar Wochen gewohnt haben, die man dort Haus nennt. Egal. Bereits Mitte des Jahrhun­derts waren Fanny Mae (FNMA ˗ Federal National Mortgage Association) und Freddy Mac (FHLMA ˗ Federal Home Loan Mortgage Corporation) gegründet worden. Sie sollten leist­bare Kredite auch an Personen vergeben, welche als Schuldner nicht allererste Güte verkör­perten (über die Gründung, sehr kurz und ideologisch-polemisch, vgl. Rajan 2010). In den 1990er beschloss der Kongress, die niedrigen Einkommen und ihr Sinken mit Krediten aufzu­bessern (1992 Federal Housing Enterprise Financial Safety and Soundness Act ˗ FHEFSSA).

Nun entdeckten aber die Banken, dass man das viele Geld, welches auf Grund der steigenden Einkommen oben eine Anlage suchte, auf Grund der höheren Zinsen profitabel und ˗ wie sie glaubten ˗ ohne Risiko in solche Kredite stecken konnten. „Kundenberater“, d. h. von ihren Vorgesetzten gedrängte Makler, gaben Kredite an Personen ohne Einkommen, ohne Jobs, ohne irgendwelche Sicherheiten, selbst ohne ausreichende Dokumentation über die Verhält­nisse („liar-Kredite“) nur auf die Annahme hin, dass die Hauspreise ewig weiter steigen würden. Um die Risiken außer Haus zu haben, bündelten sie diese NINJA-Hypotheken und -Kredite in eigenen Derivaten (Wertpapieren) und verkauften sie auf dem Finanzmarkt (securitization). Aber selbst kauften sie auch solche Papiere von anderen Banken.

Die Polemik des heutigen indischen Nationalbank-Präsidenten Rajan gegen die US-Politik rund um die Subprime-Krise ist trotz der grundlegenden und lesenswerten Einsicht in den Zusammenhang von Ungleichheit bzw. fallenden Einkommen der Unteren und Unteren Mittelschichten durchaus ideolo­gisch. Er schiebt die eigentliche Verantwortung ausschließlich auf die Politik ˗ und exkulpiert damit den privaten Banken-Sektor. Nun steht die politische Verursachung dieser Krise in gewisser Hinsicht außer Zweifel. Doch gleichzeitig hätte es diese Krise nur durch das Handeln von „Fanny“ und „Fred­dy“ vermutlich nicht gegeben. Sie entstand erst aus dem Versuch der privaten Banken, diese Politik zu instrumentalisieren und vor allem das implizite bail out-Versprechen der Politik zu nutzen. Das ist wichtig genug, und wir werden gleich noch darüber sprechen. Aber die Stoßrichtung des konservati­ven Autors ist klar: Es geht gegen eine Politik, welche versucht, die Unterschichten in irgend einer Weise doch noch zu berücksichtigen.

 

Graphik: „Let Them Eat Credit!“

 

Quelle: OECD

Bei den Privatschulden handelt es sich zum größten Teil um Hypotheken für Haus bzw. Wohnung. Es sind langfristige Schulden, die aber gröbste Folgen haben, wenn sie „notleidend“ wären, also die Schuldner mit der Rate in Verzug kommt. Die Folge ist faktisch Enteignung und nicht selten Obdachlosigkeit. Der Versuch, mittels Krediten über fallende Einkommen hinwegzutäuschen, ist ebenfalls ein gewöhnliches Phänomen einer sich aufbauenden Krise.

 

In einer fast drolligen Weise spricht er dann einmal (107) von einer notwendigen „Demokratisierung des Kredits“. Wäre das ernst gemeint, so müsste es die langfristige, über ein Leben gerechnete Einbindung der gesamten Bevölkerung in den geordneten Ablauf des wirtschaftlichen Lebens, die Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Ressourcen sein. Das gesagt, ist klar: In dieser Eliten-Marktwirtschaft, dem Finanz-Kapitalismus, ist dies ein Traum. Am nächsten heran kam daran der Sozialstaat Ende des 20. Jahrhunderts. Nun aber geht die Reise seit geraumer Zeit wieder weg von ihm. Eine solche Vorstellung ist unter diesen Umständen ein Widerspruch in sich.

Zinsen sind und waren in diesem Prozess eines der Probleme, in den USA und erst recht in Europa, in der Eurozone. Die Zinsen z. B. für die Staatsschuld, aber selbstverständlich auch die Zinsen für die privaten Unternehmen waren in der Vor-€-Zeit enorm hoch. Da auch die Inflation hoch war, waren die Realzinsen gemäßigt, solange man sich innerhalb des Wäh­rungsgebiets befand. Aber das galt für einen erheblichen Teil der Staatsschuld nicht.

Bereits mit der Aussicht auf die Währungsunion begannen die Inflationsraten und auch die Zinsen in den 1990er auch in Südeuropa zu sinken. Und damit begannen auch die Probleme.

Zinsen sind ein Teil des Profits, und zwar ein besonders parasitärer Teil. Was kann man sich also Besseres wünschen als niedrige (Real-) Zinsen?

Aber das Problem ist: Zinsen sind gleichzeitig eines der wenigen Lenkungsinstrumente, wel­che die Wirtschaftspolitik hat und einsetzt. Sie sind ein Regulator des Wirtschaftsablaufs überhaupt. Mit der Höhe der Zinsen werden auch die Ressourcen und ihre Allokation, ihr Einsatz in der Produktion, gelenkt. Solange eine kapitalistische Marktwirtschaft existiert, sind Zinsen in gewissem Ausmaß ein notwendiges Steuerungselement. Wenn also die Zinssätze auch für jene sinken, welche ein erhöhtes Kredit-Risiko bilden, oder aber, welche in der Produktivität nicht mit den fortgeschrittensten Sektoren mithalten können, wird es bald Probleme geben.

Nicht so ganz nebenbei muss man hier allerdings dazu sagen: Als Lenkungs-Instrument wer­den Zinsen und Zinssätze überschätzt. Die Zins-Sensitivität der Unternehmen ist für gewöhn­lich keineswegs besonders hoch. Im Aufschwung übertönt sie der Optimismus der Unterneh­mer. Und im Abschwung bzw. in der Krise können die Zinsen noch so niedrig sein. Wenn die Unternehmen keine Profitgelegenheit sehen, z. B. wegen Mangel an Kaufkraft des Publikums, werden sie auch nicht investieren. Die Nullzins-Politik der Gegenwart zeigt dies gut genug.

So nebenbei: Dies ist auch eine Politik, um den Banken ihre Gewinne zu sichern und zu stei­gern. Wenn sie von den Haushalten zu 0 % Geld bekommen ˗ „Haushalte“ ist der ökonomi­sche Jargon für alle Akteure, die nicht als Unternehmen auftreten, auch wenn sie es vielleicht sind ˗ , es aber zu relativ hohen kosten weiter verleihen können, dann ist es geradezu unmöglich, nicht erhöhte Gewinne zu machen.

Aber es gibt einen „Sektor“, der vergleichsweise zinsempfindlich ist: die privaten Haushalte. Das hat insbesondere in den USA beigetragen, die Immobilienblase besonders stark aufzu­blähen und die Subprime-Krise aufzubauen. Aber auch in Europa gibt es Länder, welche eine hohe private Verschuldung aufweisen, die nicht zuletzt durch die niedrigen Zinsen getrieben war und ist, Spanien, Schweden, Dänemark. Ungarn ist insofern ein Sonderfall, als die Menschen dort in besonders riskante Kredite hinein gelockt wurden, auch wenn der Kennwert gesamtwirtschaftlich nicht so hoch erscheint.

Doch auch in Europa begann in der Zwischenzeit die Ungleichheit zu wachsen. Und die Entwicklung, die sich daraus ergab, war strukturell nicht ganz so unterschiedlich zu der in den USA. Sie wurde hier aber durch zwei entscheidende Prozesse geformt und erhielt die uns vertraute Gestalt. Die südliche europäische Peripherie, der Olivengürtel, war nach dem Sturz der Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien in den 1980ern in die EG aufgenom­men worden. Italien war seit Anfang Mitglied. Die Idee hinter dieser Süderweiterung war doppelt: Zum Einen wollte das nordwesteuropäische Zentrum seinen Anspruch auf diese Zone dokumentieren und sichern. Das war implizit auch gegen die USA gerichtet.

Dann aber sollte der Olivengürtel im Sinne des Zentrums gestaltet werden. Seine ökonomi­sche Funktion sollte sein, für den Kern neue Märkte darzustellen. Dieser Luxemburg’sche Impuls (nach Rosa Luxemburg, die diesen Aspekt stets betonte) wurde entwicklungspolitisch gerechtfertigt: Diese Länder bzw. Gesellschaften sollten einen „Konvergenz-Prozess“ durch­machen und an das Entwicklungs-Niveau Westeuropas heran geführt werden. Dazu gehörte aber auch die Absicherung der politischen Legitimation durch ein parlamentarisches System. Vergessen wir nicht: Dies spielte sich noch in den 1980ern ab, vor dem Zusammenbruch des Sowjet-Systems und dem forcierten Kurs auf einen supranatio­nalen Staat. Noch war die EG ein doch einigermaßen funktionierendes supra-imperialistisches Staatenbündnis. Die Einheitliche Europäische Akte wurde erst beginnend mit 1986 entwickelt, dem Jahr, als Griechenland beigetreten war.

Die Wirtschaftsstruktur des Südens war gekennzeichnet durch einen ziemlich hohen Agrar-Anteil, niedriges Pro-Kopf-Produkt und eine klientelistische Rolle für den Staat. Die Zinsen sowohl für die Privaten wie auch die Staatsschulden waren hoch.

Der Kurs auf die Einheitswährung änderte mittelfristig sehr viel. Die Bundesdeutschen hatten die Maastricht-Kriterien durchgesetzt. Die hatten zwar mit der Eignung für eine Währungs­union kaum etwas zu tun. Aber sie sollten einerseits die dogmatischen deutsche Ökonomen und Politiker beruhigen und mit ihnen auch die Bevölkerung. Zum anderen waren sie als Disziplinierung für die peripheren Staaten gedacht. Die „innere Abwertung“ war damit bereits entworfen.

 

NZZ, 9. Juni 2010

“ Es war das billige Geld, das unter der Ägide beiderlei politischer Couleur den Boom antrieb und zum Absturz in die Schuldenfalle führte. Sowohl die privaten Haushalte als auch der Staat ließen es sich gut gehen. … Das leichte Geld war der Treibstoff zum Aufschwung der letzten Dekade. Es blähte vor allem die Bauwirtschaft, die Infrastruktur und den Staatsetat auf. … Analysten schätzen, dass mehr als ein Drittel der ausstehenden Hypotheken wackelig sind. … Planerische Sünden wie Cumbre del Sol und eine Vielzahl weitere Ungeheuerlichkei­ten sind nur durch das Virus der Korruption zu erklären…“

Wenn knochenkonservative Zeitungen über das „billige Geld“ jammern, ist Vorsicht am Platz. Das gehört zum altbackenen Konservativismus, weil der am liebsten einen Geldmechanismus, einen Goldstandard hätte. Doch die Baublase und -korruption in Spanien ist tatsächlich Folge der EU und €-Politik „at its best“. Die angebliche Konvergenz, u. a. der Zinssätze, erwies sich längerfristig als optische Täuschung.

 

Aber das Finanzsystem fasste dies anders auf. Für die Banken stellte dies ein Bail out-Ver­sprechen dar ˗ und wie es sich später zeigte, war diese Einschätzung korrekt. Die enorm hohen Zinsen begannen also schnell zu sinken. Kreditaufnahmen wurden damit möglich, welche vorher in diesem Umfang nicht gegeben waren. Das galt mindestens ebenso für die Privaten wie für den Staat. Letzteres lässt sich nicht zuletzt damit belegen, dass die Staats­schulden Anfang der 1990er höher waren als 2007. Das eigentliche Problem waren also nicht sosehr die öffentlichen Schulden. Aber sowohl private wie öffentliche Schulden wurden eingesetzt, um die Bevölkerung über die fatale Entwicklung der Produktivität hinwegzu­täuschen, welche durch die steigende Ungleichheit geschaffen wurde. Und der Wahnsinn des gemeinsamen Währungsrahmens erlaubte nunmehr keine adäquate Reaktion mehr darauf.

In diesem Sinn haben die konservativen Zyniker und ihre publizistischen Kettenhunde recht, wenn sie schreien: „Die Griechen haben über ihre Verhältnisse gelebt!“ Das verfügbare Ein­kommen der privaten Haushalte in Griechenland, Spanien, Portugal und Irland ˗ nicht in Italien ˗ stieg verhältnismäßig stark seit der Mitte der 1980er. Und besonders zu beachten ist: In den nördlichen und westlichen Ländern war es das Einkommen der Oberen Mittelschicht und vor allem der Oberschichten, das stieg. Dort nahm die Ungleichheit in diesem Zeitraum bereits zu, besonders schnell seit Ende des Jahrtausends. Im Olivengürtel ˗ mit Ausnahme Italiens ˗ aber nahmen auch die Haushalts-Einkommen der Unterschichten zu, und zwar sogar geringfügig stärker als die der Oberen Mittelschicht. Die Oberschicht, die Elite, das oberste 1 % (Perzentil) freilich konnte auch dort abräumen. Aber die Unterschichten versuchte man für das politische Projekt „Europa“ einzukaufen.

Und man hatte rund zwei Jahrzehnte damit Erfolg. In der Zwischenzeit hat die Troika den Fehltritt steigender Einkommen für die Unterschicht freilich behoben. Die Geschichte hat sich umgekehrt. Seit 2008 haben zwar alle Schichten (vielleicht mit Ausnahme der Eliten ˗ das wissen wir nicht so genau) verloren. Aber die Unterschichten verloren sehr viel mehr als die Oberen Mittelschichten und sind mittlerweile zum Teil sogar am Rand des Hungers.

 

Graphik: Die angebliche Homogenität des Euroraums

Quelle der Daten: EUROSTAT-Datenbank Die Zinssätze sind neben der Inflationsrate und natürlich der längerfristigen Stabilität des Wechselkurses ˗ und längerfristig heißt nicht zwei Jahre, sondern mindestens fünf ˗ die einzigen sinnvollen Kriterien, die spezifisch das Währungsproblem betreffen. Denn sie leiten die Kapitalströme und sind damit entscheidend für die Stabilität. Ein Blick auf die Abbildung genügt, um die Verrücktheit einer Einheitswährung im Sinne der eigenen sonst so hoch gehaltenen Theorien der Befürworter zu erkennen. Zwischen 2000 und 2006 allerdings funktionierte die Angelegenheit, weil die Banken auf das Bail-out  setzten. Und das kam auch, gegen jede Vereinbarung und das eigene EU-Recht.
Quelle der Daten: EUROSTAT-Datenbank 

Quelle der Daten: EUROSTAT-Datenbank

Die Zinssätze sind neben der Inflationsrate und natürlich der längerfristigen Stabilität des Wechselkurses ˗ und längerfristig heißt nicht zwei Jahre, sondern mindestens fünf ˗ die einzigen sinnvollen Kriterien, die spezifisch das Währungsproblem betreffen. Denn sie leiten die Kapitalströme und sind damit entscheidend für die Stabilität. Ein Blick auf die Abbildung genügt, um die Verrücktheit einer Einheitswährung im Sinne der eigenen sonst so hoch gehaltenen Theorien der Befürworter zu erkennen.

Zwischen 2000 und 2006 allerdings funktionierte die Angelegenheit, weil die Banken auf das Bail out setzten. Und das kam auch, gegen jede Vereinbarung und das eigene Recht der Herrschaften.

 

Es war im Grund derselbe Mechanismus und derselbe Vorgang wie in der Subprime-Krise der USA. Die Kanäle waren freilich etwas anders, und teils anders war dementsprechend auch das Versprechen. In Europa war es nicht der Perpetuum Mobile-Charakter, der Münchhausen-Charakter von steigenden Immobilienpreisen und steigenden Konsumentenschulden, der wirkte. Hier war es das u. a. Versprechen des Staats, z. B. in Griechenland: Ihr kriegt bei mir einen sicheren Job, wenn ihr für die Regierung stimmt.

Die „Staatsschuldenkrise“ wurde freilich erst erfunden, als man sie 2008 / 10 kreierte, um von den wesentlicheren Problemen abzulenken ˗ und um sie zu instrumentalisieren.

Bleiben wir vorerst in Österreich. Wir könnten auch nach Deutschland oder nach Schweden gehen. Dieses Land hat der hiesigen Sozialdemokratie jahrzehntelang als Vorbild gedient; jedenfalls berief man sich stets darauf. Dort ist der Prozess vielleicht noch deutlicher. In Österreich verlief er bisher etwas diskreter. Aber wir leben nun einmal hier, und damit sind uns die hiesigen Verhältnisse am nächsten.

Die Einkommen der Unterschichten und auch der unteren Mittelschichten sinken real, also wenn man die Kaufkraft berücksichtigt. Je weiter man in der Verteilung nach oben geht, umso geringer ist der Einkommens- und Kaufkraft-Verlust. Etwa ab dem letzten Viertel beginnen die Einkommen im Vergleich vor 10 Jahren sogar etwas zu steigen. Das oberste Prozent (Perzentil) gewinnt ganz erheblich. Die darunter liegenden 10 % immerhin auch noch. Der eigentliche Wendepunkt in der Entwicklung ist das drittel Viertel (das 3. Quartil).

Wir sprechen also mit gutem Grund von der Ein-Viertel-Gesellschaft, und das ist keineswegs einfach Polemik. Die Zeiten, wo man von der Zwei-Drittel-Gesellschaft sprach und mit gutem Gewissen sprechen konnte, sind lang vorbei.

 

Literatur

Admati, Anat R. (2014), The Compelling Case for Stronger and More Effective Leverage Regulation in Banking. J. of Legal Studies, forthcoming (Jan 2015).

Dobb, Maurice (1966), Organisierter Kapitalismus. Fünf Beiträge zur Politischen Ökonomie. Frankfurt: Suhrkamp.

Feldstein, Martin (1999), Reducing Poverty, not Inequality. In: The Public Interest 137 (www.nber.org/feldstein/pi99.html ˗ download: 16. Januar 2015)

Kuznets, Simon (1955), Economic Growth and Income Inequality. In: AER 45, 1-28.

Kuznets, Simon (1958), Long Swings in the Growth of Population and in Related Economic Variables. In: Proceedings of the Am. Phil. Society 102, 25 – 52.

Meyer, Henning / Watt, Andrew (2014), Die Zehn Mythen der Eurokrise. … und warum sie falsch sind. IMK SE Publishing.

Okun, Arthur M. (1975), Equality and Efficiency: The Big Tradeoff. Washington, DC.: The Broo­kings Institution.

Rajan, Raguram G. (2010), Fault Lines. How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy. Princeton: Univ. Press.

Sharma, Shalendra (2003); The Asian Financial Crisis. Crisis, Reform and Recovery. Manchester: University Press.

Stiglitz, Joseph E. / Yusuf, Shahid, eds. (2001), Rethinking the East Asian Miracles. Oxford / World Bank: University Press.

 

Berliner Spiel mit griechischer Insolvenz

von Wilhelm Langthaler

Schwierigkeiten der Finanzoligarchie eine willfährige Regierung zu installieren

Diskussionsthesen zur herannahenden griechischen Zahlungsunfähigkeit

Volle Kapitulation gefordert

Schäuble hat es wieder und wieder klar gemacht: Keine Kredite ohne vollständige griechische Kapitulation. Es geht auch darum gegenüber der europäischen südlichen Peripherie ein Exempel zu statuieren und die Machtverhältnisse klarzustellen.

Syriza: volle Kapitulation kommt nicht in Frage

Doch nach zwei Monaten Katz-und Maus-Spiel kann diese umfassende Kapitulation nicht mehr erwartet werden. Varoufakis und Tsipras haben an ihrer unerfüllbaren Wahlformel „Weder Bruch, noch Unterordnung!“ festgehalten. Obwohl sie vielfach das EU- und Euro-Regime auf unerträglich opportunistische Art und Weise beschworen haben, bestehen sie weiterhin auf einen für sie politisch verkraftbaren Kompromiss, der die Austerität zumindest dämpft.

Garant Syriza-Linke

Dass sie nicht klein beigegeben haben, ist nicht nur der starken Unterstützung im Volk, sondern vor allem auch dem relativen Gewicht der Linken in Syriza zu verdanken.

Schlachtplan: Spaltung von Syriza und Sturz ihrer Regierung

Die EU-Oligarchie hat daraufhin die inoffizielle Linie ausgegeben, Syriza zu spalten und mit dem rechten Flügel eine „Regierung der nationalen Rettung“ zu bilden, die ein von Berlin diktiertes Abkommen unterzeichnet und exekutiert.

Doch von einer Spaltung kann derzeit keine Rede sein. Weder der rechte noch der linke Flügel ist dazu bereit. Die Syriza-Rechte würde eine Kapitulation und damit einen Bruch des Wählerauftrags politisch enorm schwächen. Zudem sind die möglichen Bündnispartner zu schwach, es sei den sie lieferten sich Nea Demokratia aus. Aber auch der linke Flügel verfügt über zu wenig Kraft in die Offensive zu gehen und mit der Oligarchie aktiv zu brechen. Dazu reicht die Unterstützung im Volk nicht aus.

Die Variante einer Quisling-Regierung unter dem Titel der nationalen Rettung unter Abwendung der Zahlungsunfähigkeit ist also unwahrscheinlich. Die deutsche Erpressung scheint zu misslingen.

Schrittweise Auflösung des unmögliche Wählerauftrags

Die Verhandlungen zwischen Athen, Brüssel und Berlin, die bisher wie ein Poker erschienen, bei dem zum Schluss einer klein beigibt, transformieren sich zunehmend in ein politisches Manöver, der anderen Seite die Verantwortung für das Scheitern und die Deklaration der Zahlungsunfähigkeit zuzuschieben. Es ist der Kampf des Narrativs der Gläubiger versus jenes der Schuldner, Neoliberalismus versus Keynesianismus. Im Grunde handelt es sich um einen national eingefärbter sozialen Konflikt Reich gegen Arm. Ziel von Syriza muss es sein, dem griechischen Volk darzustellen, dass es gegenüber den Gläubigern alles versucht hat, selbst die Teilkapitulation. Doch die kapitalistische Finanzoligarchie besteht auf die freiwillige Unterwerfung in die Schuldknechtschaft. Trotz der mächtigen Medienmaschine in der Hand der Herrschenden kann die Mehrheit der Griechen diese Botschaft verstehen.

Anders gesagt: Es bedurfte einer gewissen Zeit, der konkreten Versuche, die Antinomie der Syriza-Wahlformel aufzulösen in die zwei realen Alternativen: Im Rahmen des Euro-Regimes kann es für die Peripherie nur Austerität geben. Will man die Austerität beenden, muss man mit der EU-Oligarchie der Gläubiger brechen. Die Frage ist, ob und wie sich für diese Schlussfolgerung Mehrheiten gewinnen und auch organisieren lassen.

Nicht dass Syriza unterstellt werden soll, all diese Schritte aus Pädagogik durchgeführt zu haben. Die rechte Führung glaubte selbst an die Reformierbarkeit des Euro-Regimes. Die konkrete historische Erfahrung des Scheiterns hat die Einsicht befördert – zumindestens im Volk und bis zu einem gewissen Grad auch innerhalb von Syriza.

Hinsichtlich der Syriza-Rechten darf man sich allerdings keine Hoffnungen machen. Sie sind sich bewusst, dass d die Eliten der EU sie brauchen, denn allein auf Nea Demokratia gestützt sind sie zu schwach.

Insolvenz auch Risiko für Oligarchie

Die Oligarchie behauptet, dass die griechische Insolvenz für ihr System kein Problem wäre und nur den Griechen schaden würde. Dabei geht es vor allem darum die Drohgebärde glaubwürdig zu machen, denn folgt man den Mainstream-Medien, dann sind sich die Herrschenden ihre Sache gar nicht so sicher.

Tatsächlich sind trotz zahlreicher Schutzschirme die Konsequenzen für das europäische und globale Finanzsystem unabsehbar. Zwar befindet sich der Großteil der griechischen Schulden in öffentlicher Hand, doch ist das Bank- und Finanzsystem sowieso auf das Engste mit den Kernstaaten verschmolzen. Das Gesamtsystem ist seit 2007/8 nicht aus dem Krisenmodus herausgekommen und bleibt daher fragil.

Noch viel wichtiger und unberechenbarer sind allerdings die politischen Konsequenzen, die wiederum direkte Rückwirkung auf das Finanzsystem zeitigen können. Denn Griechenland wird unweigerlich als Präzedenzfall für andere, größere Peripheriestaaten dienen.

Hinzu kommt der geopolitische Aspekt. Die Zahlungsunfähigkeit durch die deutsche Erpressung wird Athen unweigerlich dazu stoßen, in Moskau oder Peking vorstellig zu werden – eine Konsequenz, der sich Washington widersetzen wird.

Insolvenz rein politische Entscheidung der Troika

Tatsächlich ist Athen schon seit dem ersten „Hilfspaket“ 2010 de facto insolvent. Nur durch die Troika wurde es zahlungsfähig gehalten. Alle Beteiligten wissen, dass ohne Verlängerung der Kredite die Zahlungsunfähigkeit nur eine Frage der Zeit ist. Angesichts der Kapitalflucht handelt es sich eher um Wochen als um Monate. Doch solange Syriza auf die Erpressung nicht eingeht, solange sie nicht kapituliert, fährt der Zug Richtung Insolvenz. Es ist der einzige Trumpf den die griechische Regierung in den Verhandlungen mit der Troika in der Hand hält.

Putsch mittels Insolvenzschock

Um in Athen eine willfährige Regierung zu installieren, reicht offensichtlich die Drohung mit der Insolvenz nicht. Berlin muss sie aller Wahrscheinlichkeit auch wahrmachen. Das Risiko ist wie beschrieben jedoch enorm.

Das würde auf eine Art Staatsstreich nach dem Schock der Insolvenz hinauslaufen. Kapitalflucht, fallierende Banken, ausbleibende Gehaltszahlungen – politisches Chaos. In dieser Situation winkten Berlin und die Troika mit einem „Rettungspaket“. Die Bedingung: Entfernung der antioligarchischen Kräfte und Bildung einer Regierung der „nationalen Rettung“, die die geforderte Kapitulation unterschreibt. Wenn das mit parlamentarischen Mitteln nicht möglich ist, denn eventuell mittels Referendum oder im äußersten Fall selbst außerkonstitutionell. Doch als Plan kann das noch nicht bezeichnet werden, mehr wohl als Tendenz oder logische Folge der gegenwärtigen deutschen Politik.

Das bedeutet mit hoher Wahrscheinlichkeit das Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone. Um das öffentliche Leben, um die Wirtschaft in Gange zu halten muss der Staat handeln und das kann er nur mit der eigenen Währung. Die politische Operation der Gläubiger wird aber Wochen wenn nicht Monate in Anspruch nehmen, zumal sie Perspektiven unklar und die Verwirrung groß ist.

Chance auf antioligarchische Volksregierung

Die Tiefe der Erschütterung einer Insolvenz kann aber auch zu ganz anderen Ergebnissen führen. Syriza, und vor allem ihr linker Flügel, könnte politisch gestärkt werden. Entweder könnte Syriza als ganzes dazu gezwungen werden, Maßnahmen gegen die Oligarchie einzuleiten. Oder Syriza spaltet sich und der linke Flügel von Syriza übernimmt gänzlich das Ruder. Dazu bedürfte es jedoch einer breiten Front weit über Syriza und die historische Linke hinaus zur Verteidigung der Interessen der Mehrheit, die den Wählerauftrag vom Januar in Richtung eines tieferen Bruchs mit dem Zentrum und seiner griechischen Handlanger entwickelt.

 

Erstmals publizert am 19.4.2015

DER €-STAAT UND SEINE ALTERNATIVEN 1

lbert F. Reiterer

Der €-Staat und seine Alternativen

Eine Zukunft für wen?

I.

Vorbemerkung. 1

Einleitung. 1

  1. Die Problematik: Das Projekt der Eliten und die Zukunft der Bevölkerung. 3

I.1 Das Elitenprojekt: Die Ein-Viertel-Gesellschaft in der hoch entwickelten Welt 4

1.1.1 Projekt EU ˗ Projekt Euro: Von überstaatlicher Koordination zum supranationalen Staat 4

I.1.2 „Realsozialismus“: Der Zusammenbruch der UdSSR und seine Folgen. 6

1.2 Globale Strukturtendenzen. 9

I.3 Der Widerstand der Bevölkerung – die Frage nach den Alternativen. 10

Vorbemerkung

Der folgende Text ist Teil ausführlicherer Überlegungen zur Frage der EU als regionalisierte politisch-staatliche Organisation des von den Eliten aktiv und mit Emphase vorangetriebenen Prozesses der Globalisierung. Es ist also ein Teil I, worauf noch eine Anzahl von Teilen folgen werden. Das bedeutet aber auch: Der Text ist keineswegs „fertig“. Kommentare und Widersprüche, auch auf dieser website, sind erwünscht.

Zum Text ist eine terminologische Anmerkung notwendig: Ich spreche von Globalisierung, wenn ich diesen politisch gewollte und insbesondere durch jene dominante Strömung be­förderte Politik meine. Spätestens seit einem halben Jahrtausend gibt es jedoch einen sozialen und ökonomischen Prozess, welcher als „spontaner“ Ablauf, d. h. als Ablauf „hinter“ der his­torischen Entwicklung vor sich geht, ohne dass dies notwendig politisch getrieben oder ange­strebt wird. Dies nenne ich Mondialisierung. Man soll beide Prozesse nicht verwechseln, obwohl sie sie oft schwer voneinander zu unterscheiden sind. Denn Globalisierung will den spontanen Prozess der Mondialisierung in eine ganz bestimmte Richtung lenken und sie zum reinen Eliten-Projekt ausbauen.

Einleitung

Sie geraten langsam in die Defensive, die Apologeten des € und der EU allgemein. Sie sitzen vor allem in der politischen Klasse und in den Medien. Wir werden noch darüber zu sprechen haben, warum sie dort so dominant sind. Aber fragen wir zuerst: Wie reagieren sie eigentlich auf diese ungewohnte Situation? Waren sie es doch über Jahrzehnte gewohnt, der gläubigen Bevölkerung zu sagen: Dort, in den „Vereinigten Staaten von Europa“, liegt unsere lichte Zukunft. Oder noch viel primitiver, in Österreich bei der seinerzeitigen Volksabstimmung: „Gemeinsam statt einsam.“ Und jetzt müssen sie feststellen: Eine Mehrzahl der Bevölkerung geht nicht mehr mit. Ihre Überzeugungskraft ist ziemlich verbraucht.

Aber dem gegenüber verfolgen sie nun eine fast genial einfache Strategie: Sie ignorieren die neue Situation an der Oberfläche einfach. Unter der Oberfläche aber erhöhen sie diskret den Druck dort, wo sie es vermögen: in den Betrieben, vor allem auch in den Schulen. Das ent­spricht der neuen autoritären Struktur von Gesellschaft und Politik. Und noch funktioniert es einigermaßen. Wie lange? Vielleicht lange genug, um über die gegenwärtige Krise hinweg zu kommen. Wenn wir nicht dagegen arbeiten.

Wir sprechen vom € und der EU. Manche machen uns den Vorwurf: Ihr seid fixiert auf den €. Ihr seid eine single-issue-group! Die Politik besteht doch nicht nur aus der Währung. Eine politische Alternative muss viel umfassender angelegt sein. Oder noch naiver, nicht selten aus Gewerkschafts-Kreisen: Nicht die Währung ist das Problem, sondern die Politik danach.

Das ist, so glauben wir, eine schwere Fehl-Einschätzung. Der € ist nicht nur eine Währung. Der € ist nicht einfach ein Geld unter anderen Geldformen. Der € ist ein umfassendes politisches Projekt. Die europäischen Eliten und ihre Bewunderer in der ganzen Welt verfolgen damit ein strategisch durchgeplantes Projekt für eine neue Gesellschaft und einen neuen Staat.

Die EU ist eine Schlüssel-Institution der Globalisierung. Das wissen die Anhänger und Bewunderer der EU selbst mindestens ebenso gut wie wir. Und diese Bewunderer finden sich deswegen nicht nur in Europa. Von der zahnlosen „Afrikanischen Union“ bis nach Südost­asien reichen die Versuche der Nachahmung, und es wird wohl kein Zufalll sein, dass die chinesische Nomenklatura auch dazu zählt ˗ jene Elite-Gruppe in Beijing, die dort einen Kapitalismus konstruiert hat, der selbst die Industrielle Revolution in Europa noch menschenfreundlich aussehen lässt.

Wir könnten also ohne weiteres auch sagen: Unsere Strategie heißt Entglobalisierung. Unsere französischen Freunde sprechen von Demondialisation. Die Zerschlagung der Eurozone und die Auflösung der EU ist nur ein Teil, der europäische Teil dieser Strategie. Wir bekämpfen die supranationale Organisation, den EU-Überstaat, weil er die europäische Organisation des globalen Finanz-Kapitalismus ist. Sein Hauptinstrument aber ist der Euro. Der Austritt aus dem Euro wäre somit der erste fundamentale Schritt im Paradigmenwechsel unserer Gesell­schaft und Politik: eine Anfang für das Ende des Wegs der Gesellschaftsspaltung zugunsten der Eliten; ein erster Schritt hin zur Wiedereinbeziehung der Mittel- und Unterschichten in den sozialen Entscheidungs- und Entwicklungs­prozess.

Dies bedeutet auch ein erhebliches Ausmaß an Renationalisierung. Nicht dass die Vergangen­heit so leuchtend war. Aber sie war offen. Diese Offenheit der politischen Entwicklung, welche die EU mit aller Macht beseitigen will, gilt es wieder herzustellen. In diesem neuen Versuch, der Bevölkerung Anteil an der politischen Entscheidungs-Kompetenz zu verschaffen („Souveränität“ heißt das Fetischwort dafür) können wir die Empfindlichkeiten vieler Intel­lektuellen-Gruppen vor allem im deutschsprachigen Raum nicht schonen. Es ist ein Teil des Kampfes um die Hegemonie. Die Nation war stets auch der Demos, das Volk als politische Entscheidungskörperschaft, so verstümmelt diese Funktion in den Manipulationen der Herrschenden oft genug heraus­kam. Aber wir müssen dies wieder klar stellen, nicht uns ducken.

Der Aufbau der EU und des € ist also konstituierender und wesentlicher Teil jenes Globalisie­rungs-Prozesses, welcher den essenziellen Ablauf des Spätkapitalismus in der Gegenwart bildet. Das Geld, die Währung, ist in einer über den Markt laufenden Wirtschaft das wichtig­ste Instrument. Sind wir antikapitalistisch, so müssen wir uns logischer Weise gegen diesen Globalisierungs-Prozess stellen, und damit auch gegen € und EU als eines besonders kenn­zeichnenden Kernprozesses in diesem Rahmen. Daher verfolgt die folgende Darstellung nicht zuletzt das Ziel, den Aufbau der EU als europäischen Prozess der Globalisierung darzustellen.

Diese „neue“ Gesellschaft sieht in vielem sehr alt aus und erinnert stark an die Vergangenheit. Damit ist nicht unbedingt die Ideologie der „tiefen Begründung“ der EU gemeint. Die nimmt bisweilen schon absurde Züge an. Nicht nur der Karolinger Karl, von der apologetischen His­toriographie „der Große“ genannt, wie aber meist in solchen Fällen, passender „der Blutige“ geheißen, ist ein Gründungsvater der EU. Nein, diese ist bereits in der Vorgeschichte ver­ankert (Grantham 2006). Warum nicht gleich im Erbgut, in der DNA? Ich denke hier eher an die vordemokratischen Charakteristiken aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts, die sich nun in der EU wieder zeigen.

So spricht man denn auch öfters von einer Refeudalisierung der postmodernen Gesellschaft. Eine unbefragte Herrschaft der Eliten hat es in der vor- und frühkapitalistischen Vergangen­heit bereits gegeben, im vor- und frühnationalen Staat. Motzt man sie heute modisch auf und verkauft sie als die „Leistungs-Gesellschaft“, so kann das eine Zeitlang bei manchen Leuten funktionieren. Der größere Teil der Menschen fühlt aber gegenwärtig schon, was das zu bedeuten hat, und wohin die Reise geht.

Seien wir ganz klar: Es geht um mehr als ein technisches Detail, etwas, was nur Währungs-Politiker und Bank-Menschen interessieren kann. Es geht um die Frage, wie die Gesellschaft morgen aussehen wird.

Die EU als bürokratischer Überstaat muss zerschlagen werden. Sie ist der Herrschafts-Appa­rat, den sich die Wirtschafts-Oligarchie, die Industrie- und Finanz-Eliten geschaffen haben. Hier können sie ihre Interessen zur unbestrittenen Dominanz bringen. Hier hoffen sie, Gesell­schaft und Politik nach ihrem Geschmack zu formieren. Dieser Apparat kann nicht reformiert werden. Die Bürokratie, d. h.: die eigentlich herrschende politische Elite, kann nicht in den Dienst der Bevölkerung genommen werden. Noch umgibt sie sich mit einem Aufputz in der Gestalt der Summe der politischen Klassen der Mitgliedsstaaten. Aber die eigentliche Herr­schafts-Ausübung geht in den großen Zügen schon an diesen politischen Klassen vorbei. Die nationalen Bürokratien wurden und werden immer stärker zum unmittelbaren Herrschafts-Instrument der herrschenden Cique, der Brüsseler Zentral-Bürokratie. Die Räte („Rat“, „Euro­päischer Rat“) werden immer stärker zum PR-Komitee dieser Brüsseler, Luxemburger und Frankfurter Zentralen.

Denn es gibt mehrere Äste, mehrere Teilapparate. Nicht alle sind gleich sichtbar. Der EuGH (Luxemburg) arbeitet sehr im Schatten der anderen Institutionen, und ist dabei doch neben der EZB und schon viel länger der wichtigste Zweig, wichtiger als die Kommission. In zäher Anstrengung hat er eine immer ausgeprägtere Zentralisierung erreicht. Selbst Höchstgerichte glauben heute, vor wichtigen Urteilen und Erkenntnissen seine Entscheidung anrufen zu müssen („Vorab-Entscheidung“). Ein sofortiger Austritt aus der Jurisdiktion dieses Gerichts wäre daher ein besonders wichtiger Schritt.

I. Die Problematik: Das Projekt der Eliten und die Zukunft der Bevölkerung

Mitten im Zweiten Weltkrieg erstattete Lord Beveridge der konservativen Churchill-Regie­rung in Großbritannien einen Bericht mit weit reichenden Vorschlägen für eine Transforma­tion der Politik. Haben wir die Herausforderungen des Nazismus, seine Ambitionen auf Welt­herrschaft bewältigt ˗ so der Tenor seiner Darlegungen ˗ , so wartet doch eine neue gewaltige innere Herausforderung auf uns: Wir müssen Gesellschaft und Politik so umbauen, dass wir die Menschen wirklich mitnehmen. Wir müssen die Lebensrisiken in den Griff bekommen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut im Alter. Aber hat uns der Krieg nicht gezeigt: Auf eine vitale Herausforderung hin sind wir im Stande, alle unsere Kräfte zu mobilisieren?

Der Beveridge-Bericht war in einer ganzen Reihe von Punkten bemerkenswert. Da war der Auftraggeber. Churchill hatte in den 1920ern alle seine Kräfte eingesetzt, um die britische Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Er hatte dabei auch einen gewissen Erfolg, wie später Thatcher. Und jetzt kam die Einsicht: Wir müssen die Arbeiter und die breite Unterschicht integrieren. Repression allein reicht nicht hin. Der Beveridge-Bericht umriss ein Alternativ-Modell zum sowjetischen Anbot, aber auch zum wilden Laissez faire-Kapitalismus. Er bein­haltete ein gewichtiges Maß an Umverteilung gegenüber den Marktbedingungen. Damit rettete er ein fast schon bankrottes kapitalistisches System. Zusammen mit dem US-New Deal und dem sich abzeichnenden skandinavischem „Volksheim“ gab er den Impuls für den Sozialstaat der Nachkriegszeit. Er gestaltete damit die westeuropäische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Aber diese Integration der Unterschichten ins System kostete.

Eine Zeitlang waren die Eliten bereit, diese Kosten zu tragen, zumindest der größere Teil unter ihnen. Gegenüber einem „Sozialismus“, was auch immer dies gewesen wäre, war dies vorzuziehen. Zwar: Es gab stets die scharfmacherischen Ideologen, einen Hayek etwa. Doch zumindest die Europäer zogen eine sehr diskrete Form der Politik vor. Repression war immer auch ein Teil davon. Die deutschen Notstands-Gesetze, das KPD-Verbot; in Österreich das Niederprügeln von Streiks, das bildete alles einen integralen Bestandteil dieser Politik. McCarthy lebte nicht nur in den USA. Aber vorerst ging die Reise eher in Richtung von mehr Leistung an die Bevölkerung und ein gewisses Nachgeben gegenüber Beteiligungs-Wün­schen. So sank die Ungleichheit sogar noch, und die Ansprüche aus der Bevölkerung stiegen.

Der Wandel kam wieder von jenseits des Atlantiks, und zwar nicht zuletzt auf dem Weg über Großbritannien. Schon die Nixon-Regierung hatte eine gewisse Wende gebracht. Reagan und Thatcher, als die Gallions-Figuren des Neo-Konservatismus, machten dies mit Eklat zu ihrem Programm und darüber hinaus zu einem globalen Programm überhaupt.

In Kontinental-Europa machte zuerst Frankreich den Schwenk. Die Sozialdemokratie hatte Anfang der 1980er mit der Präsidentschaft Mitterand eine unabgesicherte keynesianische Konsum-Politik ausprobiert und war damit in die Bredouille geraten. Der Zusatz-Konsum ging in die Importe. Die Leistungsbilanz kippte. In einer völlig offenen Wirtschaft ist dies nahezu unvermeidlich, und daher ist eine keynesianische Politik in einzelnen Teilstaaten der EU auch mittlerweile fast unmöglich. Mit dem Eifer von Neubekehrten machten sich Delors und seine Gefolge nun daran, den Neoliberalismus härtester Art zu europäisieren. Sie fanden dabei offene Türen in der BRD.

Aber da war doch die erwartungsvolle Bevölkerung. Wie konnte man ihr vermitteln, dass es nun „Schluss mit lustig“ war, wie es später ein FPÖ-Industrieller und -Politiker so unnach­ahmlich formulierte? Man musste sich nach einer Politik umsehen, welche positiv besetzt war und in ihrer Struktur die neue Umverteilung nach oben robust durchsetzen konnte. Und eine solche Struktur war vorhanden. Sie musste nur noch zielgerichtet eingesetzt werden. Es gab die EG. Bei der lagen weit gediehenen Pläne zu ihrem Ausbau hin zum bürokratischen Staat in der Schublade.

Fast unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die US-Regierung eine weit reichende Entscheidung getroffen. Sie beschloss, alle Morgenthau-Ideen von der De-Industrialisierung Deutschlands fallen zu lassen und Europa insgesamt bzw. die einzelnen Staaten in ihren Neuaufbau-Bemühungen zu unterstützen. Die UdSSR hingegen setzte insbesondere im Osten Deutschlands ihre Politik der Demontagen und der damit angestrebten Selbst-Entschädigung für die Kriegsfolgen fort. Sie beschädigte damit dauerhaft den vergleichbaren und bald auch tatsächlich mit dem Westen verglichenen Entwicklungsstand Ostdeutschlands. Damit nahm sie der künftigen DDR jede Chance, von einer überragenden Mehrheit der Bevölkerung anerkannt und bejaht zu werden. Die sehr hohen Wachstumsraten ˗ tatsächlich waren sie langfristig etwas höher als im Westen ˗ konnten dies nie wieder wett machen.

Aus der im Marshall-Plan und sodann der OEEC, heute OECD, verkörperten neuen US-Poli­tik der Stützung für (West-) Europa kamen die ersten starken Impulse für eine verstärkte europäische Koordination. Zwar wollten die USA mit den einzelnen Staaten einzeln handeln und verhandeln, schon um nicht die Kontrolle über diesen Prozess zu verlieren. Aber gleich­zeitig war es dann doch notwendig, auf Westeuropa als Ganzes zu schauen. Dem entsprach eine ganz ähnliche Haltung auf europäischer Seite. Man wollte von den USA möglichst viele von den Mitteln haben, die sie bereit stellten. Man konkurrierte also mit den anderen Staaten um die begehrten Dollars. Aber gleichzeitig war auch eine minimale Abstimmung notwendig. Dieser Impuls wurde umso stärker, je mehr man sich wieder auf eigene Beine stellen konnte. Er wurde insbesondere durch das deutsche Problem verstärkt. Irgendwann wollte man den Einbezug des sich bald wieder eigenstaatlich organisierenden westlichen Deutschland, der künftigen BRD, in die westliche Sphäre. So kam der erste Impuls für eine stärkere Koordinie­rung, die bald zu festen Formen fortschreiten sollte, aus jener Richtung, gegen welche sich implizit und teils auch explizit ein Teil der Bemühungen richten sollte, weil eine neue Konkurrenz entstand.

I.1 Das Elitenprojekt: Die Ein-Viertel-Gesellschaft in der hoch entwickelten Welt

1.1.1 Projekt EU ˗ Projekt Euro: Von überstaatlicher Koordination zum supranationalen Staat

Die Idee einer übernationalen Organisation der „souveränen“ Einzelstaaten bis hin zum alles umfassenden Weltstaat ist nicht neu. Als logische Weiterentwicklung und intellektuelle Kon­struktion musste sie auftauchen, nachdem sich das Westfälische System durchgesetzt hatte. Damit benennt man heute in der Politikwissenschaft ebenso durchgehend wie sprachlich irreführend jenes System von Staaten in (West-) Europa, wie es sich zur Zeit der Französi­schen Revolution durchgesetzt hatte. Die Staaten nahmen letzte „Souveränität“ für sich in Anspruch, die unbeschränkte Macht über Leben und Tod ihrer Untertanen und die Abwehr jedes Eingriffes seitens anderer Staaten.

Doch im selben Moment, als sie sich durchgesetzt zu haben schien, wurde diese politische Idee in der politischen Wirklichkeit auch schon völlig negiert. Die Mächte des Alten Regimes intervenierten in Frankreich, um die Revolution zu ersticken. Die sogenannten Napoleoni­schen Kriege waren Angriffskriege der alten absolutistischen Dynastien gegen das neue Frankreich, bis Napoleon den Spieß schließlich umdrehte.

Nach dieser langen Kriegsepoche von 1790 bis 1815, aus der das Alte Regime vorerst sieg­reich hervorging, wollte man solche Risiken ein- für allemale ausschalten. Die Heilige Allianz nahm für sich in Anspruch, in Europa die Verhältnisse zu regulieren. Wiederum intervenier­ten die Metternich, Friedrich Wilhelm, Nikolaus, etc., ungeniert in anderen Staaten, wenn diese nicht so wollten wie sie. Dies war allerdings ein ausschließlich politisches Anliegen; die Ökonomie stand nicht zur Debatte.

Die Heilige Allianz, die erste Vorläuferin von EG und EU, ging in den Revolutionen von 1848 unter. Ihr Nachglanz motiviert heute noch Monarchisten und einige Altkonservative als glüh­ende Befürworter der EU. Bedeutung haben diese oft etwas komischen Figuren allerdings nicht.

Das Europäische Konzert trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ihre Stelle. Es versuchte seinerseits, die innereuropäischen Konflikte und jene an den Rändern des damali­gen Europas, insbesondere des Osmanischen Reichs, zu regulieren. Der Erfolg war über­schaubar. Das Europäische Konzert brach mehrmals vorübergehend zusammen, und 1914 endgültig. Zu heterogen waren seine Eliten und ihre Interessen, von der Bismarck’schen Version eines militaristischen Neo-Absolutismus über den republikanischen Imperialismus Frankreichs zu der neuen Gier Italiens.

Vom ersten Kriegstag 1914 weg begannen die Koalitionen des Ersten Weltkriegs jeweils ihre Nachkriegs-Überlegungen und -Planungen. Beide Seiten gingen davon aus, den Krieg zu gewinnen. Dabei ist der Unterschied zwischen der deutschen Seite und der Entente höchst aufschlussreich.

„Mitteleuropa“ hieß der deutsche Entwurf, der sich in vieler Hinsicht in der Entwicklung der EWG bzw. EG in ihren Anfangs-Stadien wiederfindet. Allerdings war der Anwendungsbe­reich nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich nach Westen verschoben. Die ursprüngliche Geographie des Entwurfs ˗ von Berlin bis Istanbul ˗ zeichnet sich erst gegenwärtig wieder ab, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres äußeren, osteuropäischen Gürtels. Es ist aber nicht uninteressant, dass der Verfasser dieses Entwurfs, Friedrich Naumann (1915), in der BRD bis heute als Namenspatron des Partei-Instituts der nahezu verblichenen FDP dient.

Dieses „Mitteleuropa“ war also klar und deutlich ein Entwurf des national-liberalen deutschen Imperialismus. Aber schon damals, im ersten Kriegsjahr, lud Naumann die anderen europäi­schen Staaten zum Beitritt in diesen Verbund ein. Und er richtete sich keineswegs nur an die skandinavischen Länder oder Belgien und die Niederlande. Der Autor spricht vielmehr ausdrücklich die Feindstaaten, die Kriegsgegner an. Italien wird ausdrücklich genannt, wenn Naumann auch ein wenig skeptisch wirkt. Dieses Vorläufer-Design der EG war also ein Entwurf des deutschen Imperialismus, als er sich noch siegreich wähnte. Er ist nicht zuletzt deswegen so interessant, weil er sich auf sozio-ökonomisches Gebiet begibt.

Dieses Buch war noch nicht erschienen, als Kautsky 1914 den Begriff des Ultra-Imperialis­mus für die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung der imperialistisch-kapitalistischen Welt nannte. Da die kaiserlichen Deutschen gerade den Krieg begannen, als der Artikel erschien, ging der Ansatz vorerst unter, und Lenin (1916) goss Hohn und Spott auf Kautsky aus. Inzwischen ist diese Idee Kautskys, spätestens seit der Errichtung der BRD, zentrales Gedankengut der SPD im Besonderen und der europäischen Sozialdemokratie im Allgemei­nen: jetzt allerdings nicht mehr als analytisches Konzept, sondern als politische Strategie.

Die Entwürfe aus Großbritannien und den USA trugen einen anderen, zugleich weiterreichen­den und auch wieder bescheideneren Zug. Sie gaben den Abriss einer neuen Weltordnung nach dem Krieg. Aber sie beschränkten sich auf das klassische Feld der Politik und insbe­sondere der Außenpolitik. Sie zogen somit das Prinzip der politischen Globalisierung weiter, wie es sich schon bis 1914 entwickelt hatte. Immerhin gab es bereits an die 30 internationale Organisationen und Institutionen (Graml 1969, 13). Sie sind für das Argument hier nur wichtig, weil sie dokumentieren: Die Globalisierung ist keineswegs jener verwunderlich neue Prozess, wie ihn Hardt / Negri 2000 in ihrer Mystifizierung des „Empire“ dargestellt haben. Von Bedeutung waren diese Entwürfe, die Völkerbund-Ideen, weil sie die politische Nachkriegs-Realität beeinflussten.

In der Zwischenkriegszeit gingen diese Entwürfe weitgehend unter, selbst die ursprüngliche Idee des Völkerbunds. Der wurde zwar verwirklicht, aber nicht in seiner universalistischen Ambition. Zwischen den Siegern und den Besiegten hingegen blieb das Verhältnis eher ge­spannt. Zwar gab es Versuche, zwischen Frankreich und Deutschland einen Ausgleich zu finden. Aber da lagen einige Stolpersteine im Weg, vor allem aus dem Blickwinkel des revan­chistischen Deutschland. Außerdem gab es da nun neu die Sowjetunion. Mit der Rapallo-Politik wollten die deutschen Eliten den Westmächten zeigen, dass es auch Alternativen zu ihnen gab. Die Außenminister des Deutschen Reichs und Sowjetrusslands, Stresemann und Tschitscherin, vereinbarten eine ziemliche weitgehende Zusammenarbeit ihrer Länder, die auch den militärischen Bereich berührte.

Die deutsche Götter-Dämmerung nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs schloss eine Initiative von dieser Seite vorerst aus. Dafür traten nun in Frankreich die Planer einer neuen supranationalen Zukunft auf. Der Hegel’sche Weltgeist forderte einen neuen Entwicklungs­schritt des modernen Staats. Der Nationalstaat war überholt. Ein übernationales Imperium war überfällig (vgl. etwas ausführlicher: Reiterer 2014). Die ersten Entwürfe waren ein wenig deja vu. Aber sie haben sich heute als erstaunlich zutreffend erwiesen.

Die realistischen politischen Akteure vergaßen keineswegs auf die konservativen Utopisten. Man würde sie rechtzeitig wieder hervorheben und einsetzen. Und als Redenschreiber für luftige Entwürfe waren sie immer noch brauchbar. Doch vorderhand schob man sie in den Hintergrund. Im Augenblick ging es darum, brauchbare Strukturen für eine neue Alltags-Politik zu entwerfen. Man arbeitete dabei nach der Methode Versuch und Irrtum auf verschiedenen Ebenen.

In der klassischen Außenpolitik ging der Entwurf der EVG, der Europäischen Verteidigungs­gemeinschaft den Bach hinab. Zu frisch waren noch die Wunden aus dem deutschen Angriff und der Besatzung. Die französischen Abgeordneten konnten sich nicht überwinden.

Aber schon einige Jahre zuvor hatte man das geschaffen, was sich schließlich in der Zukunft als der große Wurf heraus stellen würde. Die EGKS, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, zielte nicht nur auf einen einheitlichen Markt für die Grundstoffindustrie. Sie schuf ein Institutionen-Werk, das nach seiner Erprobung in diesem sektoralen Markt praktisch un­verändert auf den Gesamtmarkt von immerhin sechs Mitgliedern ausgedehnt werden konnte. Mit den Römer Verträgen von 1957 (in Kraft 1958) hatte man mit diesen Institutionen das Gerüst für ein neues, vorerst parastaatliches Gebilde, das sich als sehr entwicklungsfähig herausstellen sollte.

Wir werden sehr bald auf diese Strukturen und Prozesse zurück kommen. Doch vorerst ist es nötig, in ein anderes Feld zumindest kurz einzusteigen. Denn Westeuropa und auch die USA waren nicht mehr die einzigen bedeutsamen Akteure in der Welt des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts

.1.2 „Realsozialismus“: Der Zusammenbruch der UdSSR und seine Folgen

Die Ursprüngliche Akkumulation, der Aufbau des Kapitalismus, hatte bereits im Großbri­tannien des 18. Jahrhunderts ein starkes Wirtschaftswachstum hervor gebracht. Aber der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung stieg keineswegs. Im Gegenteil: bis etwa 1820 sank er. Der neue materielle Reichtum ging ausschließlich an die Oberen Schichten. Es er­innert ein wenig an die Gegenwart. Es gab einen frühen plebeischen Widerstand der Bevölke­rung. Aber es waren plan- und ziellose Rebellionen, die nur zu oft auch gegen Sündenböcke abgelenkt wurden. In Großbritannien richteten sich z. B. solche Übergriffe gegen die katho­lische Bevölkerung, die ohnehin weniger Rechte hatte. Die Aufstände wurden mit größtmög­licher Brutalität unterdrückt. Insbesondere nach dem Beginn der Revolution in Frankreich waren Englands Adelige und Großbürger in einer wahren Panik. Die wurde in unterschiedli­cher Weise aufgearbeitet und thematisiert. Der „liberale“, manchmal bauernschlaue Konser­vativismus des Edmund Burke (1790) blieb von dieser Panik übrig; ebenso auch die Ideen des Robert Malthus (1798). Die bilden ja bis heute noch den Untergrund u. a. der grünen Ideologie mehr noch als ihrer Politik.

Auf dem Kontinent, im deutschen Sprachraum etwa, war der Widerstand aus dem Volk sowieso gering. Die Bauern hatten die alten Eliten, teils in Zusammenarbeit mit den neuen Bürgern, bereits vor Jahrhunderten zusammengehauen. Sie schieden auf Dauer aus der Debatte, ja aus der Geschichte, aus. Die Unterdrückung traf jetzt viel stärker die Intellek­tuellen. Doch nur wenige unter ihnen begriffen: Wenn sie politische und geistige Freiheit wollten, waren sie auf das Volk angewiesen. Dazu hätte man über den Tellerrand hinaus sehen müssen. Doch gerade das wollte eine neue Retro-Ideologie verhindern. Sie schwärmte vom deutschen Mittelalter (Novalis: „Die Christenheit und Europa“) und suchte dort ihre Wurzeln. So transformierte sie die große revolutionäre Idee der Franzosen, die Nation, in einen reaktionären deutschen Ethno-Nationalismus, der sich nicht zuletzt gegen alle unkontrollierten Freiheits-Regungen wandte.

Um die Zeit der Revolution von 1848 allerdings realisierten einige der radikal-liberalen Intellektuellen: Wir brauchen eine Volksbewegung. Ein reiner Intellektuellen-Protest ist fast machtlos. Karl Marx und die Personen um ihn herum identifizierten so die Entrechteten als die Triebraft der Geschichte: „Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.“ Die Arbeiterklasse, von den Eliten gleichzeitig verachtet und gefürchtet, ist die Organisatorin der neuen Gesellschaft. Was die Intellektuellen nicht dazu sagten, weil es ihnen absolut selbstver­ständlich war: Sie würden der Generalstab und die Offiziere dieses Volksheers sein. Sie würden es befehligen. So erhielt das Konzept der Arbeiterklasse und des Proletariats einen völlig anderen und neuen Inhalt, weit über einen Schicht-Begriff hinaus. Dieser neue politische Mythos war allerdings höchst ambivalent.

Die Sozialdemokratie war in den damals hoch entwickelten Gesellschaften Europas ziemlich schnell erfolgreich. Im Deutschen Reich organisierten sie bald die zahlenmäßig ansehnlichste Partei. Mit dem Erfolg kamen nicht nur die politisch notwendigen Kompromisse, sondern das langsame Vergessen auf die alten revolutionären Ziele. Schließlich hatte das Wirtschafts­wachstum etwa ab 1850 auch den Arbeitern gewisse materielle Ergebnisse gebracht. Die Löhne begannen zu steigen, wenn auch langsam.

Doch im Osten Europas lagen unterentwickelte Gebiete. Im zaristischen Russland gesellte sich zur extremen Ausbeutung, vor allem der Bauern, die extreme Unterdrückung, die auch die Bürger und Intellektuellen traf. Und diese sahen sehr aufmerksam in den Westen. Die Debatte ging um den Entwicklungsweg. Der Fortschritt war ohne wenn und aber westlich. Die Nativisten der russischen Seele waren ja wirklich religiöse Reaktionäre. Sozialismus wurde für nicht wenige synonym mit Entwicklung schlechthin. Die russische Demokratie übernahm den Marxismus.

Derselbe Prozess ließ sich in den Entwicklungsländern der Gegenwart erkennen, jedenfalls bis zum Zusammenbruch des Sowjetsozialismus. Heute gibt es in manchen progressiven Krei­sen eine Neubewertung der diversen drittweltlichen Nativismen, man denke an die Zapatisten in Mexiko und andere indigene Beweguingen. Die Situation hat sich tatsächlich verkompli­ziert.

Nach mehreren erfolglosen revolutionären Anläufen dieser Bewegung trat Russland in den Ersten Weltkrieg ein. Der Zusammenbruch der alten Gesellschaft kam noch schneller als bei den Mittelmächten. Und nun traten die konsequentesten der revolutionären Kräfte auf. Es gelang ihnen schnell, die Macht zu übernehmen.

Lenin hatte den Marxismus weiter formuliert und globalisiert („Imperialismus“). Er hatte daraus auch eine Technik des Kampfes um die Macht abgeleitet („Was tun?“). Und er hatte ihn dogmatisiert und zur Intellektuellen-Ideologie ausgebaut („Empiriokritizismus“, „Staat und Revolution“). Damit war klar, wer das Sagen hatte. Die praktische Folgerung zogen die Bolschewiki. als sie die Konstituierende Nationalversammlung nach Hause schickten ˗ mit guten Gründen. Aber sie ließen keine neue mehr wählen. Die nächsten, die es erfuhren, dass die intellektuellen Führer allein Recht hatten, waren die Matrosen von Kronstadt.

Es war also nach Lenins Tod nur schlüssig, dass Stalin vom Sekretariat der Partei aus gerade diese Punkte weiterzog und aus dem Leninismus die Legitimations-Ideologie einer neuen Elite machte. Der Marxismus-Leninismus wurde so im sozioökonomischen Bereich zur Entwicklungs-Diktatur einer übernationalen Führungsgruppe. Die Industrialisierung der Sowjetunion schritt zügig voran. Aber sie erforderte menschliche Kosten in schrecklichem Ausmaß. Die mehr als eine Million Toten des großen Terrors sind die eine Seite. Der Eliten-Marxismus dieser Sorte wurde auf Dauer diskreditiert. Bei allen unschätzbaren intellektuellen Ergebnissen ist es heute nur mehrmit viel Rechtfertigungsaufwand möglich, sich auf ihn zu berufen.

Die Planung und der administrative Prozess seitens der Nomenklatura hatte die UdSSR und Osteuropa in kürzester Zeit industrialisiert. Doch diese „ursprüngliche sozialistische Akkumu­lation“ von oben herab zeigte in einer hoch entwickelten Wirtschaft auch bald ihre Schwä­chen. Das Wachstum verlangsamte sich. Die Überakkumulation wurde ineffizient in dem Sinn, dass die hohen Investitionen einen zu geringen Ertrag brachten. Die Leitungsmechanis­men und Prozesse wurden kostspielig, weil sie die Selbstregulierung zu wenig einbezogen. In ihr nehmen Menschen Informations- und Organisationsaufwand auf sich, ohne dies als Kosten zu empfinden. Doch die Nomenklatura fürchtete auch diesen beschränkten Markt, diesen Markt ohne „Konsumentensouveränität“, wie es Oskar Lange im Jargon der mainstream-Ökonomen ausdrückt. Gemeint ist ein Markt, welcher durchaus im Rahmen der Global-Planung bleibt und die Entwicklung nicht den Starken überlässt.

Im Ergebnis wuchs neben der lautstarken Opposition einiger Intellektueller auch der passive „Widerstand“ seitens der Bevölkerung. Sie war wenig motiviert, sich für den weiteren Aufbau einzusetzen. Seit Mitte der 1970er fielen die UdSSR und ihr westlicher Gürtel zurück. Das lässt sich weniger an Kennwerten wie dem BIP ablesen, als an solchen, viel wichtigeren, der sich verlangsamenden Lebenserwartungs-Zuwächse u. ä. Wohlstands-Indikatoren.

Zusätzlich ließen sich die Herren vom Politbüro noch auf einen Rüstungs-Wettlauf mit den USA und dem Westen ein, den sie angesichts der Kräfte-Verhältnisse nur verlieren konnten. Einige unter den Satteliten-Staaten hatten zudem mit aktiven Widerstand aus ihrer Bevölke­rung zu kämpfen. War diese, z. B. in Polen, auch wirklich reaktionär geführt und gelenkt, so bleibt doch, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ihn unterstützte. Dazu kamen innere Kon­flikte in der Führungsgruppe. Sie waren nach Außen kaum erkennbar, gaben aber schließlich den Anlass zu jenen Prozessen, die seit Mitte der 1980er zum Zusammenbruch führten.

Damit aber war der Weg für weitreichende Entwicklungen im Westen frei.

Die westlichen Eliten hatten den Sozialismus stets zutiefst gefürchtet. Jede von ihnen unab­hängige Strömung, die nur entfernt daran erinnert, sahen sie als „Weg zur Knechtschaft“ für die Eliten, und wenn es nur kleine Schrittchen auf dem Weg zur Freiheit für die Bevölkerung waren. Und auch der Sowjet-Sozialismus war eine schwere Bedrohung. Solange er über etwas Glaubwürdigkeit in den entwickelten Ländern verfügte, war er ein Impetus für jede ernsthafte Opposition. Als diese Glaubwürdigkeit im Westen längst flöten gegangen war, war da noch immer ein anderer Aspekt, den man als höchst geschäftsschädigend empfand.. Die Nomenklatura bot sich als Entwicklungs-Modell für die Dritte Welt an.

Damit trat sie in unmittelbare Konkurrenz zum Imperialismus. Unterschiedlichste Entwick­lungs-Diktaturen begannen sich auf die Sowjetunion zu berufen, wenn sie westliche Abhän­gigkeit und liberalistische Globalisierung ablehnten. Die sowjetische Führung ihrerseits war gerne bereit, jedes solches Regime als sozialistisch zu punzieren, wenn es nur antiwestlich war, ja, wenn es sich nur an der Oberfläche als etatistisch gerierte, wie immer die politische Wirklichkeit aussah. So wurde Nasser zum „arabischen Sozialisten“ und Nyerere zum „afri­kanischen Sozialisten“. Indira Gandhi betrachtete man zumindest als verwandte Seele. Aber selbst so schmutzige und blutige Figuren wie Mengistu Haile Mariam, der in Äthiopien Mitte der 1970er jede sozialistische Regung unterdrückte und die linken Militanten mit Stalin‘scher Konsequenz ausrottete, waren für die sowjetische Partei und im Falle von Äthiopien: auch für die DDR Sozialisten.

Mit dem Zusammenbruch hatte man das Ende dieser Art von Geschichte erreicht. Die westli­che Elite war sanguninischer und glaubte: Jeder Widerstand gegen ihr globales Design sei nun am Ende. Zu ihrem Schrecken musste sie am Beispiel Islamismus nun feststellen: Der Wider­stand kann in ganz neuen Kleidern auftreten. Aber das ist eine Geschichte für sich. Für uns ist eine andere Wendung wichtiger.

Die Elite ging nun daran, im eigenen Land aufzuräumen. Nun dachte man, jene Verhältnisse zu schaffen, die man sich seit Langem wünschte. Nun sollte die Ein-Viertel-Gesellschaft verwirklicht werden.

1.2 Globale Strukturtendenzen

Der Schwenk der EG zur EU, vom Ultra-Imperialismus Kautsky’schen Angedenkens zum übernationalen bürokratischen Staat mit einer neuen Verteilung innen und neuen Abhängig­keits-Verhältnissen außen, ist ohne den Zusammenbruch des Sowjetsystems nicht denkbar. Aber die fortschreitende Entwicklung des Finanzkapitalismus war nicht zum Stillstand ge­kommen. Wir sind allerdings gegenwärtig noch im Stadium, diese Entwicklung sehr tastend und versuchsweise zu analysieren. Das Folgende ist also eher eine Aufzählung auffälliger Merkmale als eine wirkliche Strukturanalyse.

In den Jahren 1985 – 2008 war die Blasenbildung vor allem in den hoch entwickelten Län­dern, aber damit auch global, sehr auffällig. In den Daten der Nationalen Buchhaltungen drückt sich dies u. a. im starken Steigen der Vermögenswerte und damit des Kapital-Koeffizienten aus (vgl. Piketty / Zucman 2014, die dies allerdings in höchst naiver und theoretisch geradezu skandalösen Weise angehen).

Die Dualisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verstärkte sich rapide. Sie geht auf mehre­ren Ebenen vor sich. Die eine ist die eben angeführte stärkere Konzentration des ohnehin schon hoch konzentrierten Vermögens. Es ist ein ambivalenter Prozess für die Eigner des Finanzkapitals. Denn das geht vor sich mit einem Sinken des Zinssatzes. Es ist nicht völlig klar, wie sehr dies auch die Renditen betrifft. Denn als Daten ergeben sie sich nicht zuletzt aus den Realisierungen von spekulativen Kapital durch die Einzelnen. Die aber können große Gewinne ergeben, wenn der Verkäufer seinen Akt zeitlich richtig placiert. Aber das ist u. U. nur ein Gewinn auf Kosten seiner Miteigentümer, der anderen Kapitalisten.

Die Dualisierung lässt sich aber auch im Umbau des Sozialstaats erkennen. Er wird zur Grundsicherung und zur Disziplinierung der Unterschichten und zur Drohung an die Unteren und Mittleren Mittelschichten genützt. Funktionell kommt dies auf Ähnliches heraus, was vor zwei Jahrhunderten mit den Arbeits- und Armenhäusern in der Frühzeit der britischen Indu­striellen Revolution geschah. Das mag angesichts des (noch!) riesigen Niveau-Unterschieds nicht nur übertrieben, sondern sogar zynisch gegenüber den Elenden der Dritten Welt klingen. Aber vergessen wir nicht: Die Entwicklung seither hat nicht nur das Pro-Kopf-Produkt ver­vielfacht. Sie hat auch sozial und kulturell zum Postulat eines neuen Menschenbilds geführt, das auch die Eliten nicht so einfach versenken wollen und vor allem können.

Die Dualisierung drückt sich nicht zuletzt in einer Dualisierung der Lebensform aus. Für die unteren drei Viertel wird eine Daseins-Vorsorge mit stark kollektivistischen Tendenzen ange­strebt. Das beste Beispiel ist die Entwicklung des Care-Sektors. Für die Oberschichten und die Oberen Mittelschichten wird hingegen durch Umverteilung nach oben die Möglichkeit ausge­baut, sich privat komfortable Lebensumstände zu schaffen.

 

Einige Literatur-Hinweise

Burke, Edmund (1968 [1790]), Reflections on the Revolution in France and on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to That Event. Ed. with an Introduction by Connor Cruise O’Brien. Harmondsworth: Pemguin.

Graml, Hermann (1969), Europa zwischen den Kriegen. München: dtv.

Grantham, George (2006), The Prehistoric Origins of European Economic Integration. http://www.mcgill.ca/files/economics/theprehistoricorigins.pdf (Download 8. Juni 2015).

Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000), Empire. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.

Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.

Malthus, Thomas Robert (1977 [1798]), Das Bevölkerungsgesetz. München: dtv (Übersetzung der Erstauflage von 1798).

Naumann, Friedrich (1915), Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer.

Piketty, Thomas / Zucman, Gabriel (2014), Capital is Back: Wealth ˗ Income Ratios in Rich Countries 1700 ˗ 2010. In: The Quart. J. of Economics, 1255 ˗ 1310.

Reiterer, Albert F. (2014), Der Euro und die EU. Zur politischen Ökonomie des Imperiums. Berg­kamen: pad.

 

TIA statt TINA: Politische Alternativen statt Sachzwang-Ideologie

Albert F. Reiterer

„TIA“ statt „TINA“: Politische Alternativen und Sachzwang-Ideologie

Wirtschaftliche Prozesse sind auch kurzfristig politisch gesteuert

Man könnte manchmal staunen. Ökonomische Kennzahlen folgen den politischen Prozessen oft erstaunlich eng. Wenn ich hier „politisch“ schreibe, meine ich nicht nur fundamentale Einschnitte, wie etwa den Zusammenbruch des Sowjetsystems, des „Realsozialismus“ in Osteuropa. Insbesondere in den USA zeichnen sich Präsidentschaften oft in wichtigen sta­tistischen Zeitreihen sehr deutlich ab. In Europa, möchte man meinen, sind die Unterschiede zwischen den mainstream-Parteien im ökonomischen Bereich nur mehr mit der Lupe zu finden: Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Gründe unterscheiden sich allenfalls in einigen Symbolbereichen kulturelles Politik: der Homo-Ehe, vielleicht in der Familien-Politik – aber nicht mehr in der Wirtschaftspolitik. Und doch kann man selbst hier manchmal, in der Vergangenheit allerdings, Legislatur-Perioden in den statistischen Daten wieder finden.

Die Einkommensverteilung, d. h. die wachsende Ungleichheit und der immer größere Anteil der Eliten gehört hierher. Piketty hat uns hier bekanntlich (auf seiner website, nicht im Buch) mit langen Zeitreihen über einige wichtige Wirtschaften versorgt. Bereits die Ära Nixon lässt sich erkennen. Reagan / Bush I ist überaus deutlich; Bush II wiederholt das Muster noch einmal. Aber auch in der BRD zeichnet sich, allerdings viel verwaschener, der Übergang von Brandt zu Schmidt / Kohl ab. In Schweden hingegen fällt der Bruch und das starke Ansteigen der Umverteilung nach oben zur Gänze in die sozialdemokratische Regierung Ende des Jahrhunderts. Die erste konservative Regierung ist überhaupt nicht sichtbar.

Die alten sozialdemokratischen Parteien sind ausnahmslos zur neoliberalen / neokonserva­tiven Wirtschaftspolitik übergegangen. Interessant ist nur, wann dies passierte. In einigen Ländern passierte diese vorbehaltslose Konversion mitten in der Regierungszeit. In Frank­reich fand der Bruch für alle sichtbar mitten in der ersten Präsidentschaft Mitterrand statt. Der damalige altsozialdemokratische Ministerpräsident Maurois musste gehen. Das Sagen hatte nun Delors, bis er dafür die Weihen Brüssels und Berlins erhielt und Kommissionspräsident werden durfte. Dort hat er dann dieselbe Politik verstärkt durchgezogen. Auch in Österreich lief dies mitten in einer Legislatur-Periode ab. Sinowatz beseitigte die alte SP-Garde in der Regierung, bevor er sich auch selbst beseitigte, und Vranitzky hat dies richtig durchgezogen und durch den EG-Beitritt abgesichert.

In Großbritannien hingegen entstand der Blairismus von Labour in der Opposition. Interessant war die BRD. Auch dort verzweifelte die SPD offenbar an Helmut Kohl. Aber die eigentlich scharfe Wendung – eine grundsätzliche hatte es ja schon zu Helmut Schmidts Zeiten gegeben – kam erst nach dem neuerlichen Regierungsantritt 1998. Da manövrierte Schröder Lafontai­ne mit einer Leichtigkeit aus, die unmöglich gewesen wäre, wenn der Politikwechsel nicht bereits innerparteilich fixiert gewesen wäre. In der Regierung stützten ihn freilich die Grünen des Franz Josef Strauss, … äh: Fischer.

Es gibt neben dem Einkommen andere Indikatoren, die besonders aussagekräftig sind. Die Finanzkrise entstand bekanntlich in den USA als Sub-prime-Krise, als Krise der Überschul­dung privater Hausbesitzer aus der Unterschicht und den unteren Mittelschichten. Wir hjaben schon des Öfteren darüber gesprochen, woraus dies entstand.

Die niedrigen Einkommen stagnierten real oder gingen sogar zurück. Gleichzeitig redete man den Menschen die Großartigkeit des US-Systems ein. Insbesondere die Jüngeren unter den Abgehängten wollten daran auch teilnehmen. Für Einige unter ihnen bot sich nun eine unverhoffte Gelegenheit: Die Hauspreise begannen zu steigen. Eine Immobilienblase baute sich auf. Und nun begann ein wahnsinniger Zirkel. Denen, die bisher als kreditunwürdig galten („Subprime-Sektor“), drängten nun Banken-Vertreter die Kredite geradezu auf. Über die Mechanismen zu sprechen, über „Fanny Mae“ und Freddy Mac“ und die Banken, etc., ist hier nicht der Platz. Jedenfalls verschuldeten sich nicht wenige, die es sich eigentlich nicht leisten konnten. Sie wollten auch am „amerikanischen Traum“ partizipieren.

Da gäbe es noch viel zu sagen: Es waren die nicht am allerschlechtest gestellten Unter- und unteren Mittelschichten, vor allem die Jüngeren, welche sich da hineinziehen ließen. Die obe­ren Mittelschichten waren von der Chose kaum betroffen. Die Kredite gingen auch keines­wegs nur in den Hauskauf. Es waren Konsumkredite, welche in Vertrauen auf steigende Hauspreise und damit auf die Deckung dadurch aufgenommen wurden.

Aber dies ist nicht eigentlich das Thema hier. Hier wollen wir uns den Zeitablauf ansehen!

Quelle: Mian / Sufi 2011

 

Der steile Anstieg in der Verschuldung der Haushalte fand erst in der Bush II-Präsidentschaft statt. Der Knick in die massive Überschuldung, beim Verhältnis Schulden zu Einkommen, fand 2001 scharf ausgeprägt statt. In der Clinton-Zeit gab es auch einen bescheidenen Anstieg, aber der entsprach eher dem Üblichen in einer Zeit des wirtschaftlichen Wachstums. Das geht übrigens ganz gegen den Eindruck, den der heutige indische Zentralbank-Präsident Rajan, bestellt vom neoliberalen und hindu-nationalistischen Modi, zu erwecken versucht. Er schreibt ausführlich über die Welt­wirtschaftskrise und die Subprime-Krise in den USA und verteilt Schuldzuweisungen: Clinton habe leichtfertig die Kreditvergabe ermutigt, und was sonst noch alles dann auch hier in Europa nachgeschrieben wurde.

Auch die Schulden der Alteigentümer beginnen erst 2002 wirklich zu klettern. Sie wurden offenbar für Konsumkredite eingesetzt. Die Krise aber setzt schleichend im Jahr 2006 ein. Da beginnt der Haus-Preis-Index zu sinken. Damit aber war auch das wirtschaftliche Todesurteil über viele jener Kreditnehmer gesprochen, welche sich auf die Versprechung dauernd steigender Hauspreise verlassen hatten.

Es geht hier keineswegs um eine Verteidigung von Clinton. Zwar gilt er, im Gegensatz zu seiner Frau, die sich eben wieder um die Präsidentschaft bewirbt, unter den Demokraten als „Linker“. Aber was das in den USA im Besonderen und in der globalen politischen Klasse im Allgemeinen heißt, wissen wir.

Worum es geht: Auch in diesem System ist Politik nicht wirkungs- und machtlos. Es gibt immer Alternativen. Das Gegenteil zu behaupten – und dazu neigen auch manche Linke – heißt, sich ganz den extrem Konservativen und Reaktionären ausliefern. Der Sachzwang, das ist nichts Anderes als die Politik von gestern. Aber selbst innerhalb der Logik dieser „Sachzwang“-Politik gibt es stets Handlungsmöglichleiten.

In einem alten Film aus den 1960ern, Dr. Strangelove, wird die Idee der Doomsday-Maschine umgesetzt: Wenn es vonseiten der USA einen Atomangriff auf die UdSSR gibt, dann erfolgt automatisch und unabänderlich ein Gegenschlag mittels Atomwaffen. Das ist das Politik-Konzept, welches nicht nur die Konservativen allgemein uns verkaufen möchten. Es ist das Konzept der EU, der Troika (damit man die griechische Regierung besänftigt, heißt sie nun: Die Institutionen) gegenüber Griechenland, aber auch generell gegenüber den Mitgliedern der Eurozone und der EU.

Das Konzept ist mit Eklat selbst im Sinn seiner Erfinder gescheitert. Aber was nicht sein darf, kann nicht sein. Es wird auf Biegen und Brechen fortgesetzt. Die Frage ist, ob es so endet, wie seinerzeit Dr. Strangelove: Die Welt geht im Atomkrieg unter, und auch die US-Regierung, welche die Kontrolle über ihre Handlanger verloren hat, verschwindet für die nächsten Jahrzehnte in den unterirdischen Bunkern.

Als Linke aber halten wir fest: There is an alternative – TIA statt TINA!

  1. Juni 2015

 

Literatur

Mian, Atif / Sufi, Amir (2011), House-Prices, Home-Equity based Borrowing, and the US Household Leverage Crisis. In: AER 101,2132 – 2156..

Rajan, Raguram G. (2010), Fault Lines. How Hidden Fractures Still Threaten the World Economy. Princeton: Univ. Press.