Bipolare EU

von Stefan Rossi*

Als EU-Kritiker werde ich oft mit dem Vorwurf konfrontiert politisch rechts zu stehen, während die EU selbst als politische Mitte oder sogar links bezeichnet wird. Vor allem junge Menschen verorten die EU wegen Integrationsprozess und Per­so­nen­frei­zü­gig­keit als links und beschuldigen die Kritiker Mauern zwischen den europäischen Völkern bauen zu wollen. Leider verkennen die Befürworter, dass dieser Völkerbund keine linken Werte verteidigt, sondern rechte Wirtschaftspolitik unter dem Deckmantel der Völkerverständigung transportiert und die Europäer im Interesse der Großkonzerne gegeneinander ausspielt. Die EU kann somit nicht als links, rechts oder Mitte bezeichnet werden, tatsächlich verfolgt sie einen bipolaren Ansatz der zwar gesellschaftspolitisch vermeintlich links ist aber wirtschaftspolitisch rechts. Dies gilt auch für die meisten Parteien Europas die sich selbst als politische Mitte bezeichnen.

Links oder rechts?

Ist es nicht so, dass linke Politik die Interessen des “kleinen Mannes” vertreten sollte, für gerechte Löhne und zeitgemäße Sozialstandards? Davon kann in der neoliberalen EU keine Rede sein. Der Lohnfindungsprozess hat sich im europäischen Binnenmarkt zu Gunsten der Arbeitgeber entwickelt und Gewerkschaften können ihre Lohnforderungen nicht einmal ansatzweise durchsetzen, da die Arbeitgeberseite regelmäßig damit droht die Produktion in ein anderes Mitgliedsland zu verlagern.[i] Besonders Großkonzerne haben hier einen Vorteil, da sie in der Regel bereits über mehrere Standorte in der EU verfügen und problemlos Teile der Fertigung in ein anderes Werk übertragen können. Durch die drohenden Arbeitsplatzverluste bleibt den Gewerkschaften nichts anderes übrig als das Angebot der Arbeitgeberseite zu akzeptieren da eine Lohnzurückhaltung das kleinere Übel darstellt. Mit dem gleichen Drohpotenzial werden die nationalen Regierungen unter Druck gesetzt die Unternehmenssteuern niedrig zu halten bzw. zu senken.[ii] Dadurch ist es den Unternehmen gelungen sich vor ihrem gerechten Anteil an der Finanzierung der von ihr benötigten Infrastruktur zu drücken,[iii] Arbeitnehmer werden schließlich in Schulen und Universitäten ausgebildet und pendeln zum Arbeitsplatz auf öffentlichen Straßen und Verkehrsmitteln. Aber nicht nur die drohende Auswanderung der Unternehmen hat zu einer Senkung des Lohnniveaus geführt, sondern auch die Personenfreizügigkeit die massive Migrationsbewegungen innerhalb der EU zur Folge hat.[iv] Durch die Auswanderung aus den osteuropäischen Ländern, die wirtschaftlich noch nicht aufgeholt haben, und dem krisengebeutelten Süden des Kontinents, wurden die Arbeiter in den Zielländern verstärkter Konkurrenz ausgesetzt, der sie sich nur durch Lohnverzicht zur Wehr setzen konnten. Einst riefen die Linken “Arbeiter aller Länder vereinigt euch”, doch momentan stehen sich die Arbeiter der EU-Länder feindselig gegenüber und kämpfen mit Lohnverzicht, um ihre Arbeitsplätze. Englische EU-Kritiker nennen das “The race to the bottom”, die kontinuierliche Abwärtsspirale aus sinkenden Löhnen, Renten, Sozialstandards und Unternehmenssteuern. Versucht ein Land sich dieser Entwicklung zu widersetzen hat es im Binnenmarkt und vor allem in der Eurozone keine Überlebenschance. Einst dienten die Wechselkurse bei Lohnsenkungen eines Handelspartners als Puffer, da die anderen Länder dies durch Abwertung ihrer Währung kompensieren konnten, mit einer Einheitswährung ist dies jedoch nicht mehr möglich. Die südeuropäischen Länder, die versuchten ihre Wirtschaft mit Konjunkturpaketen zu stimulieren mussten feststellen, dass mit dem Geld vor allem deutsche Produkte gekauft wurden, da Deutschland durch Lohnverzicht eine sogenannte innere Abwertung vorgenommen hatte.[v] Dieser Lohnverzicht war ein klarer Bruch der Verträge von Maastricht weil dadurch die deutsche Inflation über mehrere Jahre unter dem geforderten Zielwert von 2% blieb.[vi] D.h. also die Krisenländer haben sich verschuldet und statt der eigenen nur die deutsche Wirtschaft stimuliert, was mit einer eigenen Währung nicht passiert wäre. Griechenland war das erste Opfer dieser Wirtschaftspolitik, andere werden zwangsläufig folgen.

Kann man also diese EU als links bezeichnen? Wirtschaftspolitisch jedenfalls nicht und die gesellschaftspolitischen Aspekte, vor allem die Personenfreizügigkeit, wären eigentlich eine linke Position, wenn die Unternehmen sie nicht zur Lohndrückerei nutzen würden. Alle EU-Migranten die ich in England und Deutschland kennengelernt habe wollten ihre Heimat nie verlassen, waren aber aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation dazu gezwungen. Es ist eine (vor allem deutsche) sozialromantische Verklärung wenn die Menschen glauben, dass die EU-Bürger aus Abenteuerlust oder kulturellem Interesse umsiedeln. Die EU kann also durchaus als rechts bezeichnet werden, da selbst die gesellschaftspolitischen linken Merkmale nur der Durchsetzung einer rechten Wirtschaftspolitik dienen. Dies sollte bedingungslosen EU-Unterstützern aus dem vermeintlichen Mitte-Links-Lager zu denken geben, allen voran den Wählern der sozialdemokratischen und grünen Parteien. Bei diesen wird zwar Reformbedarf angemeldet aber es darf auf keinen Fall Druck, z.B. durch eine Austrittsdrohung, ausgeübt werden, doch ohne diesen Druck wird sich die EU sicherlich nicht reformieren lassen. Vor allem Deutschland profitiert momentan von Binnenmarkt und Währungsunion, warum sollte es also einer Reform zu seinem Nachteil zustimmen? Da eine Änderung der europäischen Verträge Einstimmigkeit erfordert ist davon auszugehen, dass es zu solch einer Reform nicht kommt. Auch die Steueroasen innerhalb der EU (z.B. Luxemburg und die Niederlande) profitieren von der nationalen Steuersouveränität gepaart mit dem freien Kapitalverkehr und haben kein Interesse an einer Änderung des Status Quo.

Was tun?

Gibt es überhaupt einen Ausweg aus der derzeitigen Situation? Die vielzitierte Transferunion die momentan bei Macron und den deutschen Grünen hoch im Kurs steht halte ich nicht für eine geeignete Lösung. Transfers sind nur eine Mittel gegen die Symptome doch die ursächlichen Probleme werden dadurch nicht gelöst. Es gibt genügend europäische Beispiele die belegen, dass Transfers zu Unmut bei den Geberregionen und zu keiner Besserung in den Regionen der Empfänger führt, z.B. Nord-/Süditalien, Nord-/Südspanien, West-/Ostdeutschland, Süd-/Nordengland. Besser wäre die Rückkehr zu nationalen Währungen und Kapitalverkehrskontrollen, was jedoch in krassem Gegensatz zu den Interessen der deutschen Exportindustrie steht. Nur eine Austrittsdrohung hätte eventuell das Potential Deutschland zum Einlenken zu bewegen und falls nicht, muss das jeweilige Land auch bereit sein seine Drohung umzusetzen. Hier sind besonders die Netto-Zahler Frankreich und Italien gefragt, warum sollen sie eine Union mitfinanzieren die ihre Wirtschaft schwächt? Bei Netto-Empfängern wie Spanien wird es wahrscheinlich schwer die Bevölkerung von einem Austritt zu überzeugen. Die spanische Wirtschaft leidet zwar auch unter dem deutschen Lohndumping und der von der EU verordneten Austerität, aber solange EU-Gelder ins Land fließen wird sich kein Widerstand mobilisieren lassen.[vii] Dasselbe gilt auch für die osteuropäischen Länder, noch dazu verfügen sie über eine eigene Währung wodurch ihre Wirtschaften etwas mehr Luft zum Atmen haben. Diese Länder sind zwar formal verpflichtet den Euro einzuführen sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllen, doch eines dieser Kriterien ist allerdings die Teilnahme am Wechselkursmechanismus II. Da sie eine Teilnahme verweigern haben sie die Möglichkeit ihren Beitritt zur Eurozone auf die lange Bank zu schieben. Das heisst nach dem Austritt Großbritanniens liegt es vor allem an Frankreich und Italien Druck auf Deutschland auszuüben und zu einer Reform zu bewegen. Leider waren die Bemühungen beider Länder in den letzten Jahren nicht von Erfolg geprägt. Frankreich entschied sich mit der Wahl von Macron für den Weg der Kooperation mit Deutschland doch wurden seine Vorschläge von deutscher Seite freundlich aber bestimmt zurückgewiesen.[viii] In Italien scheint die Anti-EU-Stimmung ausgeprägter zu sein, doch solange seine Geldversorgung von der EZB abhängt ist ein Austritt unmöglich. Durch die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für die sogenannten Mini-Bots, könnte Italien diese als Ersatzwährung für den Euro verwenden und somit von der EZB unabhängig werden, zumindest theoretisch ein potentielles Druckmittel.[ix] Da zur Zeit die EU-freundliche PD in der Regierungskoalition vertreten ist wird ein solches Szenario wahrscheinlich nicht intern diskutiert.

Weiter so?

Da sich die europäischen Mitte-Links Parteien nicht zu einem Anti-EU Kurs durchringen können, ruhen die letzten Hoffnungen auf linken EU-kritischen Parteien oder Bewegungen wie z.B. La France insoumise oder Liberiamo l’Italia, ansonsten müssen wir wohl oder übel mitansehen wie rechte Parteien immer mehr Zulauf erhalten und die heute noch bipolare EU irgendwann nicht mehr nur wirtschaftspolitisch sondern auch gesellschaftspolitisch auf der rechten Seite steht. Das ganze Drama, dass Europa glaubte hinter sich gelassen zu haben, könnte wieder von vorne beginnen.

* Stefan Rossi – Tontechniker, geboren 1974 in München, als Produktionstechniker für Sportübertragungen tätig. Ende der 90er bis 2008 positiv gegenüber EU und Euro eingestellt, doch nach der Eurokrise, den fortwährenden Problemen Südeuropas und den Wahlerfolgen rechter Parteien intensiver mit dem Thema beschäftigt.


[i] Die Metall- und Elektroindustrie hat im vergangenen Jahr mit einer Netto-Umsatzrendite von 3,6 Prozent ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Und trotzdem drohen die Unternehmer mit der Abwanderung von Investitionen und Arbeitsplätzen. Dass die Beschäftigten an den satten Gewinnen beteiligt werden sollen und müssen, lehnen die Arbeitgeber strikt ab.

https://www.igmetall.de/download/700_bayern_02-2015_komplett_a0e5ee4ed762fa9569f27ff88d968aaef63b993c.pdf

[ii] Die mittlere Steuerbelastung für Unternehmen in der EU liegt derzeit bei 22 %, während die deutschen Firmen durch Körperschafts- und Gewerbesteuer mit durchschnittlich 30 bis 32 % belastet werden. Als Folge verstärkt sich die Abwanderung deutscher Industriefirmen ins Ausland.

https://www.markt-intern.de/themen/mittelstandspolitik/gastkommentar-schleichende-deindustrialisierung/

[iii] Die Gesamt- einnahmen aus Steuern auf Unternehmens- und Vermögenserträge, um die es in der vorliegenden Studie geht, betrugen dabei rund 156,8 Milliarden Euro und damit 22,2 Prozent des gesamten Steueraufkommens.

https://www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AP28_Unternehmensteuer_Trautvetter.pdf

[iv] Die gewerkschaftsnahe Hans Böckler-Stiftung hat errechnet, dass die Löhne und Gehälter in Deutschland zwischen 1995 und 2004 um – preisbereinigt – 0,9 Prozent gesunken sind. Seit 1992 gab es (bis 2016) keine Reallohnerhöhung. Das ist freilich nicht nur dem ständigen Zufluss billiger Arbeitskräfte im Gefolge des Zusammenbruchs von Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und Sowjetunion sowie Bürgerkriegen und NATO-Intervention in Jugoslawien et cetera geschuldet, aber die Migration trägt ihr Scherflein dazu bei.

https://www.heise.de/tp/features/Massenwanderungen-haben-sowohl-in-den-Herkunftslaendern-als-auch-den-Ziellaendern-der-Migranten-4205760.html?seite=all

[v] Deutschland hat die Euroeinführung genutzt, um 2002 und 2003 eine Abwertungsstrategie zu fahren und die anderen Euroländer unter Druck zu setzen. Zehn Jahre vorher hätten Frankreich und Italien in einer solchen Situation ihre Währung abgewertet, und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber mit dem Euro ging das nicht mehr.

https://www.spiegel.de/spiegel/clemens-fuest-und-heiner-flassbeck-wir-leben-in-einer-perversen-welt-a-1196235.html

[vi] https://www.iwipo.eu/arbeitsfelder/europaeische-integration/die-eurokrise-am-beispiel-griechenlands/

[vii] https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/70580/nettozahler-und-nettoempfaenger

[viii] Vor allem Deutschland steht Fuchs zufolge auf der Bremse, was eine Vertiefung der deutsch-französischen Beziehungen angeht. Macron hingegen habe diesbezüglich am Anfang Schwung gehabt.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/elysee-2-0-vor-allem-deutschland-steht-auf-der-bremse.1008.de.html?dram:article_id=438966

[ix] Sie ermöglichen es, schleichend eine Ersatzwährung für den Euro einzuführen. “Es geht um die Stärkung der Verhandlungsposition gegenüber Brüssel und Frankfurt”, sagt Mayer. In Rom habe man sich genau angeschaut, wie es der Syriza-Regierung in Griechenland im Streit mit der EU-Kommission und der EZB erging – und daraus Lehren gezogen.

Mind the Gap

ein Dokumentarfilm von Robert Schabus

Österreich 2020

Es ist eine Dokumentation der besonderen Art über die Europäische Union. Es sind nicht die Gewinner des neoliberalen Projekts, die üblicherweise die Medienlandschaft beherrschen, sondern die großen Massen der Verlierer in Frankreich, Großbritannien, Griechenland und anderen EU- Ländern, denen eine Stimme gegeben wird. Eine ehrliche, authentische Stimme, der mit der Achtung begegnet wird, die sie verdient! Die Menschen schildern ihre Lebensbedingungen, für die Europa sich schämen muss, sie fühlen sich verraten und im Stich gelassen und sie setzen sich mit der Situation auf verschiedene Weise auseinander. Der besondere Verdienst der Dokumentation ist, dass man diesen Menschen zuhören mag. Sie werden, nur weil sie beispielsweise für den Brexit sind, nicht in ein Rassisteneck oder sonst ein Eck, wo man sich angeblich nicht mit ihnen auseinander zu setzen braucht, gestellt –  man nimmt ihre Argumente ernst und will mehr verstehen, wenn man wirklich zuhört.

Untermauert durch die wichtigsten Fakten der Entwicklung der letzten Jahre, wie zum Beispiel die Missachtung des Willens des griechischen Volkes zu seiner weiteren Erdrosselung durch die EU, und den Beiträgen verschiedener Analytiker, stellt die Dokumentation insgesamt implizit das EU-Projekt in Frage.

Elisabeth Lindner-Riegler  

DIE BRITISCHEN WAHLEN UND LABOUR, DIE BRITISCHE SOZIALDEMOKRATIE: Der EU verschlägt es die Sprache – erste vorläufige Bemerkungen

[Bild: Die Tories konnten vor allem dort Labour schlagen, wo es eine Brexit-Mehrheit gab (rechts der Linie).]

Zumindest kurzfristig hat es der EU für einmal die Sprache verschlagen. Das Ergebnis der britischen Wahlen ist für sie wesentlich schlimmer als sie es erwartete, zumindest, schlimmer, als sie ihre Medien, den ORF z.B., senden und verbreiten lies. Doch zu klar ist diesmal der Brexit-, der Anti-EU-Charakter der Wahl. Zu schwierig ist es für die EU-Propaganda, dies sofort umzudeuten in einen Erfolg. In Österreich hat der „Standard“ versucht, vorzubeugen: Immer wieder hat er Meinungsumfragen publiziert, welche eine Anti-Brexit-Mehrheit belegen sollen. Das ist nun schwieriger geworden. Nach dieser Wahl kann man das Ergebnis der britischen Volksabstimmung kaum mehr als augenblickliche Geistes-Verwirrung der spinnerten Briten hinstellen. Aber der gibt nicht auf: In der letzten Ausgabe (vom Samstag Sonntag, 14. / 15. Dezember 2019) haben wir das Spiel wieder. Denn es gilt, dem österreichischen Publikum jede Idee einer Unabhängigkeit auszureden.

Boris Johnson und die Führungsgruppe der britischen Konservativen haben die Stimmung für diesmal richtig eingeschätzt: „Wir wollen endlich die EU verlassen!“ Eine Mehrheit hat die Intrigen der Parlamentarier gründlich satt. Zugegeben: Diese Mehrheit ist nicht überwälti­gend, aber sie besteht. Und Johnsons Slogan: Volk gegen Parlamentarier war von den Fakten gestützt und daher überzeugend.

Wenn die EU-Ultras immer wieder die Volksabstimmung wiederholen wollen, so könnte man dazu sagen. Bei knappen Mehrheiten ist das eine Überlegung wert, warum nicht? Aber das müsste dann für alle knappen Mehrheiten gelten! Da hätte man nicht nur seinerzeit die Volksabstimmungen in Irland mehrmals wiederholen müssen. Warum hat man nicht die EU-Abstimmung in Schweden 1994 wiederholt, die auch 52 : 48 % ausging? Warum hat man nicht die französische Abstimmung für den Maastricht-Vertrag wiederholt, die 1992 im gleichen Verhältnis für die EU ausfiel? Das zeigt, worum es geht: Die Europäer, die EU-Ultras, wollen schlicht und einfach Entscheidungen nach den üblichen demokratischen Regeln nicht zur Kenntnis nehmen, wenn sie gegen ihre Absichten ausfallen. Und das kommt immer öfter vor. Wie es ja der gewesene Kommissions-Präsident gesagt hat: Gegen die EU gibt es keine Demokratie, darf es keine geben.

Verloren ging in diesem Wahl- und Abstimmungskampf vorerst Eines: Das May-Johnson-Abkommen mit der EU ist fast das schlechteste denkbare Austritts-Abkommen, das man sich vorstellen kann. Wir haben darüber schon gesprochen. Aber dazu oder dagegen muss man jetzt sagen: Das Wichtigste ist, dass der Brexit endlich vollzogen wird, dass das Vereinigte Königreich endlich den Willen seiner Mehrheit entspricht und austritt. Ist es erst einmal draußen, kann die politische Auseinandersetzung wieder einsetzen und vielleicht sogar aus diesem Abkommen etwas machen. Bisher war dies nicht möglich. Insofern muss man als Linker dieses Wahlergebnis begrüßen.

Ebenso klar, wie die Konservativen gewonnen haben, hat Labour verloren. Verwundern kann dies niemanden. Die Konservativen – ob Altkonservative oder „Linksliberale“ – versuchen dies, auf das Konto des Corbyn’schen „Linksradikalismus“ zu schreiben. Sie wissen selbst natürlich sehr gut, dass sie lügen. Corbyn hat mit seinem gemäßigten Linkskurs die vergange­nen Wahlen fast gewonnen. Dann aber kam die rechts dominierte Fraktion des Unterhauses und versuchte ihn und damit die Partei kaputt zu machen. Sie wählten ihn kurzfristig sogar ab, Das schlug fehl. Dann versuchten sie es anders herum, und damit hatten sie Erfolg: Sie drängten der Partei einen pro-EU-Kurs auf.

Das, was sich bei Labour abspielt, ist die Krise der europäischen Sozialdemokratie auf Britisch. Es zeigt auch, dass eine Rückwende zur klassischen Sozialdemokratie – nichts anderes war ja der Corbyn’sche „Links-Kurs“ – unmöglich ist. Labour hatte für diesmal noch Glück. Zu stark ist offenbar die Erinnerung an die Thatcher- und Major-Politik. Mit den 32 % ist die Partei noch lange nicht dort angekommen, wo inzwischen die SPD oder die SPÖ sind, ganz zu schweigen von den französischen Sozialisten. Aber es wird schon werden. Denn noch immer ist die Fraktion oder sind die jungen „Linken“ der Parteiführung bereit, die Partei selbst zu ruinieren, wenn sie ihnen nicht auf dem EU-Weg folgt. Dass Labour noch nicht soweit ist wie SPD und SPÖ, dürfte es vor allem dem linken Ruf Corbyns zu verdanken haben. Den beschleunigten Weg nach Unten kann man aber für Labour nach dem Rücktritt Corbyns ohne große Angst vor fehlgehenden Prophezeiungen voraussagen. Da wird es auch darauf ankommen, ob die Konservativen ihre für britische Verhältnisse großzügigen Versprechungen halten werden oder wieder auf Erzreaktionär schalten.

Die extremen pro-EU-Parteien haben etwas gewonnen. Die Liberalen haben zwar wegen des britischen Systems eine schwere Niederlage eingefahren, auch einen wirklichen Prestige-Verlust, da ihre Vorsitzende ihr Mandat verloren hat. Aber da sollten wir auch auf die Stimmen, nicht nur die Mandate sehen. Die SNP hat dagegen gewonnen, ohne dass dies wegzudiskutieren wäre. Aber es mag paradox klingen: Auch dieser Gewinn beider EU-Unterwürfigen ist eher ein Zeichen der Schwäche. Denn das kommt aus der Polarisierung der britischen Gesellschaft. Die hat die Konservativen zur eindeutigen Brexit- und damit Anti-EU-Partei gemacht, was sie vorher ja keineswegs waren.

Konservative                           43,6 %            +1,2 Punkte    365 Mandate

Labour                                     32,1 %            -7,9                 203 Mandate
SNP                                         3,9                  +0,8                48 Mandate
Liberale                                   11,5                +4,2                11 Mandate
Grüne                                      2,7                  +1,1                1 Mandat
Brexit                                      2,0     
DUP                                        0,8                  -0,2                 8 Mandate
Sinn Féin                                 0,6                  -0,1                 7
Plaid Cymru (Wales)              0,5                                          4

Alliance (Nordirland)             0,4                                          1

Die offenen EU-Opportunisten allerdings haben eine vernichtende Niederlage erlitten. Es reicht denn doch nicht aus, sich im Äußeren und wegen der Hautfarbe als Obama-Imitat zu gebärden.

Eine Garantie für eine bessere Entwicklung ist das britische Wahl-Ergebnis natürlich keineswegs. Eine solche Garantie gibt es auch mit einem EU-Austritt nicht. Jetzt müsste der politische Kampf erst einsetzen. Aber wer soll ihn führen? Immerhin ist eines zu sagen: Jetzt wäre ein solcher Kampf wieder möglich. Bisher hat ihn die EU-Mitgliedschaft und die EU-Politik verhindert. Zwar war das Vereinigte Königreich nicht Teil der Eurozone und damit nicht den schlimmsten Zwängen unterworfen. Aber die EU-Politik war auch so hinreichend. Gerade Johnsons Versprechungen während des Wahlkamps schaffen eine gute Ausgangslage für eine neue politische Auseinandersetzung. In diesem Sinn können wir als Linke den Wahlausgang durchaus begrüßen.

Albert F. Reiterer, 5. Dezember 2019

Vortrag bei Omas gegen Rechts HH

Was ist neu an der Neuen Rechten – sprich AfD?

gehalten von Rainer Brunath am 14.11. 2019

Ich denke, wir hier in unserer Runde brauchen keine Erklärungen, wo die Gefahren der Rechten im allgemeinen und der AfD im speziellen liegen. Wir müssen aber verstehen, …. verstehen, warum … warum wählen – und gerade in den neuen Bundesländern – so viele Menschen diese Rechte. Die Geschichte Deutschlands, die mit den Nazis zu tun hat, ist den Wählern mit sehr wahrscheinlich bekannt und mit Sicherheit wollen die AfD-Wähler nicht eine Wiederholung dieser Geschichte. Etwas also muss neu sein an der Rechten. Was ist das?

Das Neue an den Neuen Rechten, sprich AfD,  findet man nicht in ihren politischen Programmen. Die werden so abgefasst, dass sie den Eindruck machen sollen, bürgernah zu sein.  Sie orientieren sich dabei an Vorbildern aus dem gesamten demokratischen Spektrum. Das entscheidende und nicht sofort erkennbare aber ist:  Die Neue Rechte (in allen Ländern Europas) verdreht in verklausulierten Textblasen die Krise des Kapitalismus, lenkt die Erklärung dafür auf angeblichen und vermeintlichen Verlust nationaler Souveränität und auf ein vermeintlich  verloren gegangenes Zeitalter einer kulturellen (gemeint ist völkischen) Identität. Der Begriff „völkisch“ wird weitgehend vermieden, und wird ersetzt durch „kulturell“!

Als Sündenbock dafür werden die seit einigen Jahren in Europa vor sich gehenden  Migrationsentwicklungen benannt. Die Migranten werden als die politischen Gegner ausgemacht,  die den „kulturellen Verlust“ verschulden.

Nichts ist an dieser Politik neu. Im Gegenteil: sie hat Vorbilder im europäischen Faschismus.

Neu ist das Auftreten, neu sind die öffentlichen Formen (freundliches Blau statt schwarz-rot-weiß und Runen), die Nutzung aufwendiger Darstellungen und die Strategien der Kommunikation. Neu sind folglich auch die Vertriebs- und Verteilungswege sowie die Techniken der Vermarktung. Mit anderen Worten: Das Neue an den Neuen Rechten ist ihr Design.

Was ist das, dieses Design?

Ein moderner Bereich der „Gestaltung“ nennt sich  „Public Interest Design“. Politische Kräfte nutzen das, ein politisches Design zu entwickeln, damit die Auftraggeber – also die Parteien –  vom Wahlvolk als Akteure gesellschaftlicher Veränderungen wahrgenommen werden können. Wir kennen das von den großen Parteien, die Vereinfachungen, Plattitüden erfunden haben (oder durch Werbeagenturen erfinden ließen)  und auch pragmatische Versprechungen, die ins Gegenteil umgedreht werden können. Und unter  diesem neuen, erweiterten Designbegriff stellt sich in der Konsequenz die Frage: Was heißt es, im Sinne eines öffentlichen Interesses zu gestalten? Und weiter gegriffen: Was heißt es,  wie gelingt es, das öffentliche Interesse selbst zu gestalten?

An diesem Punkt sehen wir, wohin die Reise gehen soll.

Die Neue Rechte hat ihre strategischen Vordenker, die im Hintergrund, im Gegensatz zum öffentlich auftretenden AfD, agieren. Zu jenen „Vordenkern“ gehört u.a. auch die „Identitäre Bewegung“. Wikipedia schreibt darüber:

Als Identitäre Bewegung bezeichnen sich mehrere aktive und völkisch orientierte Gruppierungen, die ihrem Selbstverständnis nach die Ideologie einer geschlossenen, ethnisch homogenen „europäischen Kultur“ (der Europäischen Völker) vertritt, deren „Identität“ vor allem von einer Islamisierung bedroht sei. Wissenschaftler und Verfassungsschützer beschreiben solche Vorstellungen als  Rassismus ohne Rassen und ordnen diese Gruppen dem Rechtsextremismus zu.

Deutlich geworden ist das besonders in Österreich, aber auch in Ungarn oder Polen.

Martin Sellner, der sich als strategischer Kopf der Identitären Bewegung gefällt, wird nicht müde, den Angriff auf die offene und  multikulturelle Gesellschaft als ästhetisches Vorhaben zu beschreiben.

Und der identitäre Aktivist Mario Müller sekundiert: „Die Identitäre Bewegung schafft nun auch alltägliche Kultur-, Sozial- und Freizeitangebote von rechts.“

Demnach haben große Teile der Rassisten die Bomberjacken abgelegt. Und tausende Kasernenstiefel wurden durch Sneakers (Turnschuhe)  ersetzt. Ihren Fremdenhass und aggressiven Nationalismus haben die Rassisten  durch Anpassung ihrer ästhetischen Erscheinung kaschiert, verdeckt, übertüncht.

Mittlerweile geben sie sich als zugewandte und  sorgende Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft. Ihr nach außen getragenes Engagement vermählt sich mit den dominierenden Themen der Zeit: z.B. dem Umwelt- und Klimaschutz.  So gründen manche der Neuen Rechten  NGO-ähnliche Zirkel,  engagieren sich im Naturschutz und sorgen sich um den Erhalt nachhaltiger Lebensräume – wie sich überhaupt die allermeisten bei nahezu jeder Gelegenheit als intellektuell engagiert und emanzipatorisch bewegt ausgeben.

Ideologische Form gewinnt diese Auffassung eines kulturell (sprich völkisch) gesäuberten Zusammenlebens im Konzept des „europäischen, Pluralismus“ . Die europäischen Völker sollen ethnisch definiert werden und jede ein qualitatives Merkmal haben. Dieses Merkmal, in Deutschland ist das  „Arische“ gemeint, soll bestimmend für die jeweilige nationale   Kultur sein, während kulturelle Durchmischung  Kulturverlust bedeute.  Vermeidung, sich mit anderen Kulturen zu infizieren, gelinge nur durch Abgrenzung. Die schützenswerte eigene Volkskultur kann so zu einem „gesunden Volkskörper“ führen.

Das ist schlichtweg hirnkrank!

Wer dieses Potenzial gestalten will, d.h. innerhalb dieser Ideologie Politik machen will, muss sich überlegen, in welchem Design es erscheinen soll. Das Herangehen der Neuen Rechten an diese Aufgabe ist „Identität“. Durch sie – also die Identität –  werden die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse, die äußerst komplex sind, auf die vorgeblichen Wesenskerne, nämlich Kultur, Nation und Volk reduziert. Die Vielschichtigkeit der modernen Gesellschaft  wird somit vereinfacht dargestellt, und soll so für den Normalbürger (also für den irre geleiteten Wähler)  angeblich durchschaubar dargestellt werden.

Die Neuen Rechten sind mitten unter uns, sie sind Kinder und Bewohner moderner Gesellschaften. Entsprechend geübt sind sie im Umgang mit den Mechanismen derselben. Sie, die  Neue Rechte stellt die demokratischen und linken Kräfte vor die Aufgabe, die Gesellschaft präziser als bisher zu beschreiben und  Politik daraus zu entwickeln. So scheint die  ursprünglich  erstmalig von sozialistischen Parteien erkannte „nationale Frage“, was mit der Sehnsucht der Menschen nach Heimat und Verbundenheit zusammenhängt, von der Neuen Rechten okkupiert worden zu sein, was dann zumindest in den Ländern der ehemaligen DDR zum Erfolg der AfD führte.

Die Solidarität der Völker kommt bei den Neuen Rechten nicht vor, die ja statt dessen das Konkurrenzprinzip zum Guru erhebt. Hier ist der  Punkt, den die demokratischen Kräfte  aufgreifen und mit der „nationalen Frage“ verbinden sollten. 

Kräftiges Lebenszeichen für den Italexit auf Basis der sozialen und antifaschistischen Verfassung

Wenige Tage vor der Vorstellung des Budgets im Parlament marschierten Tausende am Samstag, den 12. Oktober 2019 durch Rom. „Liberiamo l’Italia“ – befreien wir Italien von der Euro-Diktatur. Für die demokratische Souveränität des Volkes auf der Grundlage der Verfassung von 1948, die Ergebnis des demokratischen Befreiungskampfes vom deutschen Faschismus ist.

Tatsächlich war es die erste linkssouveränistische oder verfassungspatriotische Artikulation dieser Größenordnung. Möglich wurde das vor dem Hintergrund der existentiellen Krise der Fünfsternebewegung (M5S). Diese hat kürzlich einen fliegenden Wechsel von der populistischen Koalition mit der Lega zurück zur Zentralpartei des Establishments und der EU, dem Partito Democratico (PD), vorgenommen, dem die ehemalige Rebellenpartei nun als Mehrheitsbeschaffer dient.

Vergegenwärtigen wir uns nochmals dieser 180-Gradwende, die dramatischer nicht sein könnte: Vor einem Jahrzehnt war der Komiker und Kabarettist Pepe Grillo angetreten, um das Establishment, „die Kaste“, zu verjagen. Die starke Ansage: man würde niemals eine Koalition eingehen, mit keiner Partei, man sei ja eine Formation gänzlich neuer und unkorrumpierbarer Form. Mit vielen internetdemokratischen Illusionen gruben die Fünfsterne dem PD die Basis ab, sei es ganz unten, sozial wie geografisch gesehen, aber auch bei den Intellektuellen. Die von der EU verordnete und den Eliten exekutierte Austerität und die daraus resultierende wirtschaftliche Stagnation und der soziale Abstieg breiter Schichten taten das ihre. Zuerst die Niederlage des Berlusconi-Rechtspopulismus und dann die Niederlage von Renzis populistischen Autoritarismus machten die Cinquestelle 2018 zur mit Abstand wichtigsten Partei, ohne der keine Regierung mehr gebildet werden konnte.

Nicht nur die Basis der Partei, sondern die große Mehrheit des einfachen Volkes forderten eine Regierung unter Führung der Fünfsterne, die einen grundlegenden Wechsel weg vom Austeritätsdiktat vollziehen sollte. Nur mit großer Mühe gelang es die Lega von Berlusconi sowie dem Establishment des industriellen Nordens loszueisen. Schon damals war in der PD die kühne Idee aufgeblitzt, die Fünfsterne reiten zu können. Aber dazu musste sie noch gezähmt werden.

Nun sind die Grillini zurückgekehrt in die Arme des Systems, namentlich der PD. Vom Bruch mit dem Euro kann keine Rede mehr sein, im Gegenteil. Neben sozialen Phrasen im PD-Stil, die an der Realität des kommenden Budgets zerschellen werden, bleibt nur mehr das Hohelied auf die EU.

Die Fünfsterne sind der Schatten ihrer Vergangenheit. Spaltung ist keine zu erwarten, denn sie waren ja tatsächlich keine Partei, es gibt also nichts zu spalten. Vielmehr handelt es sich um Zerfall, freien Fall. Im Milieu gibt es große Enttäuschung, die sich bisweilen in Wut äußert und zumindest am Rande zu Widerstand führt. So hat sich vor kurzem in Florenz eine Cinquestelle-Basisplattform gegründet, die zurück zu den Wurzeln der Bewegung will. Weitere Beispiel sind der Journalist und M5S-Senator Gianluca Paragone, der die Demo politisch unterstützte oder auch die Journalistin und Kandidaten der Fünfsterne zum EU-Parlament, Tiziana Alterio, die sich sogar im Organisationskomitee der Demo engagierte. So gibt es zahllose weitere Figuren wie Blogger, Künstler, Aktivisten, Intellektuelle, die nach einer Alternative suchen und sich an der Demo beteiligten.

Der Mainstream, sowohl die Medien als auch die etablierte Linke, setzt auf Verschweigen, gelegentlich auch auf Verleumdung. Direkt wurde über den Aufruf und die Demo nicht berichtet, die sich zunächst sogar gegen die populistische Regierung gerichtet hatten, sie zur Einlösung ihrer Versprechen aufforderte. Das Flaggschaff des Linksliberalismus „La Repubblica“ schreibt dennoch ganz nebenbei in einem Artikel zum „Flop der 10-Jahresfeier der Cinquestelle“: „Heute artikuliert sich die „Rechte“ [der Fünfsterne] mit Senator Paragone auf der Straße. Dieser hat einen Aufruf für eine Demonstration unterschrieben, „Liberiamo l’Italia“, die heute in Rom stattfindet unter deren Organisatoren sich alles befindet: die Kommunisten der CARC, die Rotbraunen von Vox Italia und verschiedene Souveränisten, die nicht direkt mit der Lega verbunden sind.“

Vox Italia ist eine Gründung des marxistischen Fernsehphilosophen und Schülers des verstorbenen Costanzo Preve, Diego Fusaro, der von einer Talkshow zur nächsten geschleppt wird. Mit der Formel „Linke Ideen, rechte Werte“ versucht er in vielen Wassern zu fischen und gibt vor allem den Gegnern eine Steilvorlage – was von dem Demo-Organisatoren auch kritisiert wurde. Aber selbstverständlich unterstützt Fusaro die protosozialistische und antifaschistische Verfassung von 1948, auch wenn er es nicht für wert befand zur Demo zu erscheinen.

Tatsächlich wurde die Demo von der souveränistischen Rechten boykottiert, nicht nur weil sie die Tradition des vorwiegend kommunistischen Partisanenwiderstands verabscheut – es waren nur italienische Fahnen sowie Symbole des historischen CLN, des Nationalen Befreiungskomitees unter dessen Führung Italien die Nazi-Herrschaft abschüttelte, zugelassen. Es gab aber auch dutzende sardische Fahnen, ein Zeichen für den einschließenden, Diversität und Autonomie zulassenden demokratischen Charakters des Konzepts der nationalen Souveränität, wie es in die 48er-Verfassung herausgelesen werden kann. Den Rossobunismo (rotbraun) gibt es nicht. Er ist eine Erfindung der linksliberalen Eliten gegen die Verfassungspatrioten.

Die soziokulturelle Zusammensetzung der Demo war vielversprechend. Nicht nur alle Altersklassen waren vertreten, sondern die sonst dominante Linkskultur, die von der Mehrheit zunehmend isolierend wirkt, war nur eingesprenkelt vorhanden.

Zu Abschluss auf der Piazza Venezia beim Forum Romanum sprachen allzu zahlreiche, die bunte Mischung der Bewegung repräsentierende Exponenten, wie beispielsweise der auch hierzulande bekannte Giullietto Chiesa, Starjournalist des Manifesto, sowie Vertreter des Europäischen Komitees gegen Euro, EU und Nato aus Frankreich, Spanien und auch des österreichischen Personenkomitees Euroexit. Armanda Hunter, Linksaktivistin und Kandidaten der Brexitpartei, erklärte ihre Solidarität genauso wie Manolo Monereo, ehemaliger Abgeordneter von Podemos und politischer Ziehvater von Julio Iglesias sowie eine Vertreterin der Gelbwesten. Paul Steinhardt von Makroskop schickte eine Großbotschaft aus Deutschland. Wichtig auch der Beitrag von Mohamed Konarè, des Sprechers der Panafrikanischen Bewegung in Italien. Die Organisatoren betonten, der der Kampf für die Volkssouveränität in Form der nationalen Selbstbestimmung gegen die globalistische und europäistische Oligarchie die heutige konkrete Form des Internationalismus sei. Moreno Pasquinelli, Sprecher von „Liberiamo l’Italia“, meine zum Abschluss in der Assemblea-artigen Versammlung, dass man das großartige Momentum nutzen würde, eine Basisbewegung mit Komitees im ganzen Land zu bilden. Denn die Demo hat zwar in Rom stattgefunden, doch es gab Teilnehmer aus allen wichtigen Teilen des Landes vom Norden bis zum Süden.

Wilhelm Langthaler

Brexit, eine unendliche Geschichte?

Rainer Brunath, Hamburg

Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland, wo Mitbestimmung über ein Referendum in der deutschen Verfassung erst gar nicht vorgesehen ist, sind in Großbritannien Referenden vorgesehen und sogar bindend für den Gesetzgeber.

Man erinnere sich: Nachdem das Ergebnis des Referendums in GB feststand –  bekannt war, dass die Mehrheit der Stimmen für einen Austritt aus der EU war, begann das Hick-Hack der Brexit-Gegner, wie man die Wirkung der Abstimmung umdeuten könnte.

Das begann mit einem Gerichtsurteil darüber, dass das Parlament dazu auch noch ja zu sagen habe bis hin zu diversen Vorschlägen von Theresa May, die in der Quintessenz aus dem Brexit einen No-Brexit gemacht hätten  –  worauf die bundesdeutschen Mainstream-Medien publizierten, die Briten seien Chaoten, sie wissen nicht was sie wollten ecc. Man hatte absichtlich vergessen, dass die Mehrheit der Briten, wenn auch knapp, für den EU-Austritt gestimmt hatten. Das war eine klare Ansage.

Dann kam Boris Johnson. Er schickte das Parlament in eine Zwangspause und versprach den Brexit.  Das löste panische Schreibarbeit der im Lohn der  deutschen „Qualitätsmedien“ stehenden Journalisten aus. Das gipfelte sogar in der unsinnigen Forderung, Johnson müsse zurücktreten, als bekannt wurde, dass ein britisches Gericht die verlängerte Parlamentspause für ungültig erklärt hatte. Die „FAZ“ verstieg sich sogar zu der lächerlichen Aussage, das Gerichtsurteil schlage „in Westminster wie eine Bombe ein“. 

Wie sähe es denn umgekehrt aus? Haben jemals ausländische Medien eine Forderung gegenüber Merkel erhoben, sie müsse zurücktreten, weil Gesetzesentwürfe ihrer Ministerrunde vom Bundesverfassungsgericht zurückgewiesen wurden? Ja – solche hat es gegeben. Und haben jemals deutschsprachige Medien den Rücktritt der Kanzlerin oder der Regierung wegen eklatanter Grundgesetzverletzung gefordert?

Also, nach dem Motto, was ich tue, darfst du noch lange nicht träumten die deutschen Leitmedien vor sich hin. Aber nur kurz, dann begann man, auch in den Etagen der EU-Prominenz in Brüssel an Alternativen basteln. Scheinbar glaubt man dort, Johnson wisse selbst nicht was er wolle, befürchtet jedoch, dass Johnson bei Neuwahlen mit einem Sieg seiner Tories rechnen könnte. Deshalb meinen deutsche Politiker und Medien „zu Recht“, dass Neuwahlen in GB nicht zur Debatte stünden. Und deshalb muss der Brexit, wenn er nicht verhindert werden kann  auf die lange Bank geschoben werden.

Selbst ein „weicher Brexit“– angeblich zum Wohle aller Beteiligten – wäre aus Sicht des deutschen Kapitals nur die mit weitem Abstand zweitbeste Lösung, denn eine mögliche Beispielwirkung auf Ost- und Südeuropa brächte ein erfolgreicher Austritt aus der EU die Nazikriegsziele deutscher Export- und Politikdominanz über Europa in Gefahr. So geht es den EU-Verhandlungsführern nicht um „hart“ oder „weich“, sondern allein um den Verbleib in der EU: „Drinbleiben– egal wie“, und Johnson weiß das.

Die Kommunistische Partei Britanniens weist die Diffamierung zurück, dass der Brexit  ausschließlich rechtsgerichtet sei, da der Anteil linker Kräfte beträchtlich war und ist.  Sie hat erklärt: „Die Verträge, Regelungen, Direktiven und Politiken der EU wurden dazu gemacht, die Interessen des Big Business und der kapitalistischen Märkte gegen jede Möglichkeit des Sozialismus in EU-Staaten zu schützen (…). Nicht die zeitweise Abwesenheit der Abgeordneten von Westminster, sondern die Weigerung, das Ergebnis des Brexit-Referendums umzusetzen, würde die größte Drohung gegen die demokratischen Rechte und Prinzipien in Britanniens Geschichte für viele Jahrzehnte bedeuten.“

Jeremy Corbyn forderte, wie berichtet, beim Labour-Parteitag  Neuwahlen und eine Neuverhandlung mit der EU und danach ein Referendum darüber – jedoch ausdrücklich mit der Option, dass dieses Referendum bei mehrheitlichem „Nein“ ein neues Referendum über den Brexit als solchen nach sich ziehe.

Auch das ginge gegen Demokratie und linke Politik – würde den EU-Befürwortern in GB zuarbeiten. Stattdessen müsste Labour den linksmotivierten Anteil bei der britischen Brexit-Mehrheit stärken – mit Johnson aber in der Ausgestaltung mit eigenem Profil im Interesse der Brexitmehrheit in GB.

Paul Steinhart’s support for Italexit demo

The economic and social desasters of the neoliberal EUROpean regime has stirred popular revolts all over Europe. Brexit and the yellow/green coalition government in Italy were definitely the most promising events signalling the beginning of the end of the neoliberal hold on of democracy in Europe.
This is still true today even though it has to be acknowledged that the recent events in both countries have to be interpreted as defeats in the strugggle for democratic self determination.   
Particularily dissappointing is the fact, that it were two forces, that we on the political left had reason to consider as our allies, who turned out to prefer to fight for the EUROcracy.
That there is still a Left, that is on the side of the People, shows your demonstration today. I therefore wholeheartedly wish you all the best for the event and very much regret of not being able to support you in Person today in Rome.   

Dr. Paul Steinhardt is editor in chief of makroskop.eu

Erste Linkssouveränisten-Demo in Italien

Verfassungspatriotische Demo für den Euro-Austritt in Rom am 12. Oktober 2019

[Bild: Tiziana Alterio, Journalistin und Kandidatin für die Fünfsterne]

 Eigentlich handelt es sich um die erste größere Demo, die offensiv und zentral für den Italexit eintritt. Die Idee stammt vom „Movimento Populare di Liberazione“ (MPL) und fand guten Zuspruch im Milieu, das sich linkspatriotisch nennt. Sehr schnell schlossen sich Hunderte Intellektuelle, Aktivisten, Blogger und normale Bürger an, oft aus dem großen Pool der ehemaligen Wähler der Fünfsterne (M5S). Viele von ihnen stoßen zum ersten Mal in die Sphäre aktiven politischen Engagements vor.

Ende Juli bildete sich ein Vorbereitungskomitee, das einen Aufruf mit fünf Forderungen herausbrachte:

  • Raus aus der EU-Falle
  • Wiederherstellung der Währungssouveränität
  • Wiedergewinnung der Demokratie
  • Verfassung von 1948 anwenden
  • Arbeit und Würde für Alle

In der Zwischenzeit haben Tausende den Aufruf „Liberiamo L’Italia“ unterzeichnet, einschließlich vieler Dissidenten der M5S. Der Bekannteste unter ihnen ist vielleicht Gianluca Paragone, ein bekannter Journalist und ehemaliger Senator der M5S.

Das Vorbereitungskomitee wird nur Fahnen der Italienischen Republik sowie den historischen „Komitees der Nationalen Befreiung“ (CLN), unter dessen Führung Italien von der Nazi-deutschen Besatzung befreit wurde, zulassen.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Demonstration in Konkurrenz zur Lega Matteo Salvinis stattfindet, die für eine Woche später zu einer eigenen Demo aufgerufen hat, an der sich verschiedene Rechtsparteien beteiligen werden. Die Mobilisierung vom 12.10. hat sich also als klare politische Alternative zur Lega positioniert.

Der Demo-Aufruf war noch unter der populistischen Koalitionsregierung von Fünfsternen und Lega lanciert wurden, die in der Zwischenzeit von Salvini gestürzt worden ist. Das Vorbereitungskomitee hat die neue Koalition aus Demokratischer Partei (PD) und M5S als Regierung der „eurokratischen Restauration“ verurteilt.

Ziel ist es das Momentum des 12. Oktober für die Bildung einer demokratischen Massenbewegung zu nutzen, die sowohl von Mitterechts als auch Mittelinks unabhängig ist.

Bei der Schlusskundgebung sind zahlreiche reden vorgesehen, unter anderen von ausländischen Delegierten. Am Vormittag ist ein Zusammentreffen zwischen den Gästen aus dem Ausland und den Veranstaltern vorgesehen.

EU-Parlament: Shame on you!

Anlässlich des 80. Jahrestags des Beginns des 2. Weltkriegs schwenkt das EU-Parlament auf rechtsextremen Geschichtsrevisionsimus ein: Die Kriegsschuld Hitler-Deutschlands wird relativiert, die präzedenzlose Charakter des Holocaust geleugnet. Die Schlächter und die Befreier von Auschwitz werden auf eine Stufe gestellt.

Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen der 2. Weltkrieg. Dieser Krieg kostete über 55 Millionen Menschen das Leben und mündete in den beispiellosen Gräuel des Shoa, der industriellen Ermordung von 6 Millionen Juden. Über die Triebfeder des Krieges schrieb der Linzer Historiker Hans Hautmann: Den aggressiven imperialistischen Gruppierung mit dem nationalsozialistischen Deutschland an der Spitze ging es nicht mehr bloß um die Frage der Neuverteilung der Welt wie im Ersten Weltkrieg, sie strebten die Erringung der Weltherrschaft, verbunden mit der Versklavung und sogar Vernichtung ganzer Völker an.“ (1) Diese Aussicht auf Außenexpansion war – neben der Liquidierung der ArbeiterInnenbewegung im Inneren – ein wesentlicher Grund dafür, dass das deutsche Industrie- und Finanzkapital den Aufstieg und die Machtergreifung der NSDAP unterstützte.

Rechtsextremer Geschichtsrevisionismus…

Nach 1945 versuchten rechtsextreme Kräfte wie die FPÖ, die als Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten entstanden war, immer wieder diese faschistische Aggression wenn schon nicht zu leugnen, so doch immer wieder zu relativieren. Auf dem Boden der 2. Republik waren sie dabei weitgehend erfolglos. Schließlich bauen die Gründungsdokumente der 2. Republik – Staatsvertrag und Neutralitätsgesetz – auf einem klaren Grundkonsens der Nachkriegszeit: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg – verbunden mit dem Bekenntnis zu einem unabhängigen, kleinstaatlichen Österreich, das nie wieder bei imperialistischen Abenteuern mitmarschiert, sondern sich als internationaler Brückenbauer versteht. Die Realpolitik wich auch vor dem EU-Beitritt nicht selten von diesem Grundkonsens ab, aber seit dem EU-Beitritt und mit der sukzessiven Militarisierung der EU verflachte dieser Grundkonsens zunehmend zum Schein, unter dessen Oberfläche kräftig am schrittweisen Aufbau einer imperialen EU-Großmacht mitgewirkt wurde und wird (EU-Battlegroups, EU-SSZ, uvm.).

Der FPÖ-Ideologe Andreas Mölzer jubiliert bereits unmittelbar nach dem EU-Beitritt, dass nun der 2. Republik und ihren Gründungsdokumenten, die dem deutschnationalen Rechtsextremismus schon immer verhasst waren, das Sterbensglöckchen läuten würden. Mölzer im O-Ton: „Der biedere Angehörige der ‚österreichischen Nation’ muss zur Kenntnis nehmen, dass das angeblich primäre Kriterium seiner Identität, die Neutralität, auf dem Misthaufen der Geschichte landen dürfte. … Der Staatsvertrag, zentral das Anschlussverbot an Deutschland, ist durch den Beitritt zur Europäischen Union, womit sich ja Österreich im gleichen supranationalen Gefüge befindet wie die übrigen Deutschen, von der Geschichte schlichtweg überholt.“ (2)

Der Mainstream des österreichischen Establishments hat sich bislang jedoch davor gehütet, diese Grundlagen der 2. Republik offen in Frage zu stellen. Für das linksliberale Milieu wurde sogar versucht, die EU als Hort des Antifaschismus schönzureden. Diese Erzählung war schon immer falsch: Denn das neoliberale EU-Konkurrenzregime entfachte massenhafte Existenzangst und damit auch wieder die Furien von Rassismus und Rechtsextremismus. Zur Durchsetzung neoliberaler Freihandelsverträge bediente sich die EU beim prowestlichen Regime Change in Kiew neofaschistischer und antisemitischer Kräfte, die offen ukrainische NS-Kollaborateure verehren. Im Jahr 2014 verweigerten deshalb die EU-Staaten unisono einer UNO-Resolution gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus die Zustimmung.

… findet große Mehrheit im EU-Parlament

Anlässlich des 80. Jahrestags des 2. Weltkriegs hat das EU-Parlament nun mit großer Mehrheit eine Resolution (3) angenommen, die offen auf den Geschichtsrevisionismus rechtsextremer Kräfte einschwenkt, indem die Kriegsschuld des nationalsozialistischen Deutschland relativiert und der präzedenzlose Charakter des Holocaust geleugnet wird. Verantwortlich für den 2. Weltkrieg seien Hitler-Deutschland und die Sowjetunion gleichermaßen, da sie „gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgt hätten.“ Als Beleg dafür wird insbesondere der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) vom 23. August 1939 angeführt.

Nun kann vieles an diesem Pakt kritisiert werden (v.a. hinsichtlich des geheimen Zusatzprotokolls) – ebenso wie an der Politik Großbritanniens, Frankreichs und anderer Mächte im Vorfeld des 2. Weltkrieg, z.B.
– die Weigerung der Westmächte, die vom Faschismus bedrohte und letztlich vernichtete spanische Republik zu unterstützen (1936 – 1938)
– das grüne Licht der britischen Außenpolitik für die Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland Monate vor dem Einmarsch im März 1938
– das Münchner Abkommen von Großbritannien und Frankreich mit Hitler und Mussolini (September 1938), mit dem das tschechische Sudentenland an Hitler ausgeliefert wurde (und damit ein entscheidendes militärisches Bollwerk gegen einen Angriff Deutschlands auf die mit der Tschechoslowakei verbündete Sowjetunion)
– die Kollaboration Polens mit Hitler bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei
– der deutsch-französische Nicht-Angriffspakt (Dezember 1938)
– die Auslieferung des in London lagernden tschechischen Goldbestandes an die Nazis, nachdem diese die Tschechoslowakei völlig besetzt hatten (März 1939).Das möglicherweise größte Versäumnis war, dass es nicht gelang, ein System kollektiver Sicherheit gegen die faschistische Aggression zu entwickeln. Vor dem Hitler-Stalin-Pakt drängte die sowjetische Außenpolitik – seit 1933 bis in den August 1939 – auf eine solche Anti-Hitler-Allianz. Diese Bemühungen wurden jedoch von der britischen und französischen Staatsführung permanent unterlaufen (4), wohl auch mit der Intention, den bevorstehenden deutschen Angriff nach Osten zu kanalisieren. Hitler hatte schließlich nie ein Hehl daraus gemacht, dass die „Vernichtung des jüdischen Bolschewismus“, die „Eroberung von Lebensraum im Osten“, die Versklavung bzw. Vernichtung der „slawischen Untermenschen“ zu seinen obersten Kriegszielen zählten. Ein Teil des britischen Establishments war einer Annäherung an Berlin nicht abgeneigt. Exemplarisch dafür die Erklärung des britischen Lord Halifax, die dieser 1937 nach einem Besuch bei Hitler im Namen der britischen Regierung abgab: „Der Führer habe nicht nur in Deutschland Großes geleistet, sondern auch durch die Vernichtung des Kommunismus im eigenen Land diesem den Weg nach Europa versperrt … Daher kann Deutschland mit Recht als Bollwerk gegen den Bolschewismus angesehen werden“ (5). Nach 1945 kamen Dokumente ans Tageslicht, aus denen hervorgeht, dass noch im Juli 1939 geheime deutsch-britische Gesprächen über ein weitgehendes Arrangement mit Nazi-Deutschland stattfanden, z.B. die Errichtung „eines ‚Colonial Condominiums‘, demzufolge die europäischen Kolonien in Afrika durch die europäischen Großmächte (einschließlich Deutschlands, Anm.d.Red.) gemeinsam verwaltet werden sollten.“ Deutschland könne „neben englischer auch mit amerikanischen (Kapital-)Hilfe rechnen“, wenn es zu einem Abkommen über die Nicht-Einmischung in die jeweiligen Interessenssphären käme. Dabei erhielte Deutschland – so ist zumindest den Aufzeichnungen der deutschen Seite zu entnehmen – „freie Hand im Osten“ (6).

Der spätere britische Premierminister Churchill rechnete scharf mit dieser Politik unter seinem Vorgänger Chamberlain ab. Er sah es als fatalen Fehler, die Angebote der Sowjetunion zu einer „Großallianz“ gegen Hitler-Deutschland übergangen zu haben (7). Aufgrund dieses Versagens der westlichen Diplomatie kam der stramme Antikommunist Churchill zu einer nüchternen Einschätzung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts: „Vom Standpunkt der Sowjetregierung aus muss gesagt werden, dass es für sie lebenswichtig war, das Aufmarschgebiet der deutschen Armeen so weit wie möglich im Westen zu halten, damit die Russen mehr Zeit gewinnen konnten, ihre Streitkräfte aus allen Teilen des ungeheuren Reiches zusammenzuziehen. Wenn ihre Politik kaltblütig war, so war sie jedoch damals in höchstem Maße realistisch“ (7).

Mit der Gnade der späten Geburt muss im historischen Rückblick vieles beleuchtet und kritisiert werden. Aber für eines eignete sich weder die sog. Appeasement-Politik der Westmächte noch der Hitler-Stalin-Pakt: zur Relativierung der Kriegsschuld Hitler-Deutschlands, zur Relativierung der Verbrechen des auf Weltherrschaft und Vernichtung ganzer Volksgruppen gerichteten NS-Regimes. Wer das tut – wie es das EU-Parlament getan hat, setzt die Schlächter und die Befreier von Auschwitz auf eine Stufe. Wer dies tut, verhöhnt die unermesslichen Opfer, die die Sowjetunion mit über 25 Millionen Toten für die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gebracht hat, nicht zuletzt auch für das Wiederstehen eines demokratischen und unabhängigen Österreich.

Täter-Opfer-Einebnung

Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal Centers in Jerusalem, hat schon früher einmal eindringlich vor dieser Täter-Opfer-Einebnung gewarnt: „Die Parallelisierung des Nationalsozialismus und des Kommunismus ignoriert die entscheidende Besonderheit der Naziideologie, die darauf abzielte, bestimmte Menschen nur ihrer Herkunft wegen zu vernichten … Die behauptete Austauschbarkeit beider Phänomene übersieht den präzedenzlosen Charakter des Holocaust.“ Begehe man den 23. August als Gedenktag (Tag des Abschlusses des Hitler-Stalin-Pakts, Anm. d. Red.), dann impliziere dies, „dass die Sowjetunion und Nazideutschland gleichermaßen für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verantwortlich wären … als wären jene Länder, deren Soldaten den industriellen Massenmord beendeten, genauso schuldig wie das Regime, das das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ersonnen, gebaut und betrieben hat“. Eine „unzutreffende[…] Gleichsetzung kommunistischer und nationalsozialistischer Verbrechen würde zukünftige Generationen mit einer vorsätzlich verfälschten Darstellung des Holocaust aufwachsen lassen“ sowie „den entscheidenden Unterschied zwischen Tätern und Opfern einebnen“, warnte Zuroff (8).

Dem ist nichts hinzuzufügen.

ÖVP, SPÖ, Grüne, Neos Hand in Hand mit der FPÖ

Doch eines noch: Alle österreichischen Abgeordneten im EU-Parlament haben diese Resolution zugestimmt. Die Abgeordneten von SPÖ, ÖVP, Grünen und Neos stimmten Hand in Hand mit der FPÖ. Ein bemerkenswerter Erfolg des rechtsextremen Geschichtsrevisionismus, der über die EU-Ebene implementiert werden soll. Wehren wir uns dagegen! Verteidigen wir den antifaschistischen Grundkonsens, wie er nach wie vor in der österreichischen Verfassung verankert ist!

Und stellen wir die Abgeordneten zur Rede, die diesem skandalösen Angriff auf den antifaschistischen Grundkonsens, zugestimmt haben (9): Alexander Bernhuber, Karoline Edtstadler, Othmar Karas, Lukas Mandl, Simone Schmiedtbauer, Barbara Thaler, Angelika Winzig (alle ÖVP), Hannes Heide, Evelyn Regner, Andreas Schieder, Günther Sidl, Betina Vollath (alle SPÖ), Roman Haider, Georg Mayer, Harald Vilimsky (alle FPÖ), Monika Vana, Sarah Wiener (beide Grüne), Claudia Gamon (Neos).

Shame on you!

Gerald Oberansmayr auf solidarwerkstatt.at
(3.10.2019)

Quellen:
(1) in: guernica 3/2005
(2) in: Servus Österreich – Der lange Abschied von der zweiten Republik, Andreas Mölzer, Berg 1996
(3) European Parliament resolution of 19 September 2019 on the importance of European remembrance for the future of Europe (2019/2819 (RSP)) 2019/2819 (RSP))
(4) siehe auch die sehenswerte ARTE-Dokumentation “Der Hitler-Stalin-Pakt” https://www.bing.com/videos/search?q=hitler+stalin+pakt&&view=detail&mid=E55550E746FD4B9A23DEE55550E746FD4B9A23DE&rvsmid=D1A204651340674C0060D1A204651340674C0060&FORM=VDQVAP
(5) zit. nach L. Besymenski, Generale ohne Maske, Berlin 1963
(6) in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Oktober 1966, in: Helmut Metzmacher, Deutsch-englische Ausgleichsbemühungen im Sommer 1939
(6) vgl. Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bern 1954, S. 122/123
(8) Efraim Zuroff: Der Rückfall. taz.de 16.03.2012
(9) https://oegfe.at/wordpress/wp-content/uploads/2019/09/Abstimmungsmonitoring_September_2019.pdf

‚Operation Ursula‘: Wohin treibt die EU?

von Klaus Dräger

Mit großer Fanfare („Eine Union, die mehr erreichen will“) stellte die künftige Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen ihre politischen Leitlinien und die designierten Kommissionsmitglieder vor. Das neu gewählte Europäische Parlament (EP) soll im Oktober 2019 die vorgeschlagenen KommissarInnen anhören und prüfen. Bis zum 1. November soll die neue Kommission vom EP bestätigt werden. Wie in der Vergangenheit werden einzelne mögliche neue Kommissionsmitglieder von den EP-Abgeordneten scharf kritisiert.

‚Empört euch‘ – EP-Style …

Im Visier sind dabei vor allem die Vorschläge aus Osteuropa. Dem designierten Erweiterungskommissar Laszlo Trócsányi aus Ungarn wird seine Rolle bei der autoritären Justizreform von Viktor Orbàn vorgehalten. Der rumänischen Kandidatin Rovana Plumb wird eine mögliche Korruptionsaffäre von 2017 zur Last gelegt. Gegen den polnischen Kandidaten Janusz Wojciechowski von der PiS läuft ein Ermittlungsverfahren der EU-Anti-Betrugsbehörde OLAF wegen ungeklärter Reisekostenabrechnungen. Auch Macrons Kandidatin, die vormalige französische Verteidigungsministerin Sylvie Goulard, steht in der Kritik. Als frühere Europaabgeordnete beschäftigte sie EP-Mitarbeiter, die eigentlich zuhause nur für ihre Partei arbeiteten – was illegal ist.

Das EP interessierte sich hingegen nicht für die frühere Affäre der designierten Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde. Als Finanzministerin unter dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy hatte sie eine später als illegal verurteilte Entschädigung von mehr als 400 Mio. Euro an dessen befreundeten Geschäftsmann Bernard Tapie durch gewunken. Sie wurde von einem französischen Sondergericht dafür für schuldig befunden – allerdings ohne strafrechtliche Konsequenzen.

Zweierlei Maß

Dass Ursula von der Leyen wegen der Bundeswehr-Berater-Affäre vor einen Untersuchungsausschuss des Bundestages geladen wird – dies hat die Europaabgeordneten bei ihrer vorläufigen Bestätigung als Kommissionspräsidentin im Juli 2019 nicht gekümmert. Dem scheidenden Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker hatten damals die Luxemburg-Leaks Recherchen ja auch nicht geschadet. Als Finanzminister und Ministerpräsident von Luxemburg hatte er das Land zu einem Steuersenkungssparadies für multinationale Unternehmen gemacht, und bestehendes EU-Recht elegant dabei umgangen. Das Feuer von Medien und EP-Abgeordneten konzentriert sich jetzt auf die vorgeschlagenen Kommissionsmitglieder aus Osteuropa – aus Sicht des westlichen Publikums ist diese Region ohnehin ein ‚Hort der Korruption und Vetternwirtschaft‘.

Frei nach der Bibel (Matthäus 7,3) gilt aber: „Was siehst Du den Splitter im Auge deines Nächsten, aber den Balken in deinem Auge nimmst Du nicht wahr?‚Crony capitalism‘ – die Kumpanei von politischen Funktionsträgern mit dem Kapital und reichen Freunden- ist jedenfalls kein spezifisch osteuropäisches Problem. Auch im Westen und weltweit werden oligarchische Strukturen und die Vorteilsnahme daraus in öffentlichen Ämtern immer deutlicher sichtbar.

Möglicherweise wird das EP dem einen oder anderen aktuell umstrittenen Personalvorschlag nicht zustimmen. Im Großen und Ganzen wird von der Leyen ihr Team aber wohl durchbekommen. Spötter frotzeln bereits über die ‚Unschuldig-bis-zum-Beweis-des Gegenteils--Kommission‘. Unterhalten, kurzfristig das Interesse an Skandalen und Sensationen schüren, das ist ihr Geschäft. Strukturelle Analyse? Fehlanzeige. Bald wird die ganze Aufregung um die neue Kommission wohl wieder unter einem Mantel des Vergessens zugedeckt werden – wie damals bei Juncker, und wie bei den umstrittenen EU-Kommissionen zuvor (Santer, Barroso). Die bewältigten ähnliche Vertrauenskrisen erfolgreich: einige Fehler zugeben, einige nominierte Kommissare opfern – aber bitte die europäische Staatsräson berücksichtigen. Umstrittene Personen austauschen, dann ’sozial‘ blinken – und danach lief es wieder wie vorher.

Das ‚Ursula-Bündnis‘ – was steckt dahinter?

Im Europawahlkampf 2019 positionierten sich fast alle deutschen und westeuropäischen Parteien entlang der Linie: ‚Europa nicht den Nationalisten überlassen‘, gegen ‚Populismus‘, für die EU als ‚Friedensprojekt‘ und vieles mehr. Dazu waren die Botschaften von konservativ, sozialdemokratisch, liberal, grün bis zu großen Teilen der ‚radikalen Linken‘ ziemlich ähnlich. ‚Feinde‘ waren für all diese die Brexit Party in Großbritannien, die Lega in Italien, die PiS in Polen, Victor Orbán in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreich, AfD und FPÖ, und auch die Fünf-Sterne Bewegung (M5S). Es ging dabei vereinfachend um ‚Pro‘ oder ‚Kontra‘ Europa – nicht um links und rechts.

Nach der Europawahl wollten sowohl das EP als auch Angela Merkel das ‚Spitzenkandidaten‘-Modell retten (Macron eher nicht). Das gelang nicht: im EP gab es weder eine Mehrheit für den konservativen Spitzenkandidaten Manfred Weber (EVP), noch für Frans Timmermanns (Sozis), noch für Margrethe Vestager (Liberale). Das EP konnte so das von ihm stets hoch gehaltene Spitzenkandidatenmodell nicht durchsetzen. Im Rat der EU (Regierungschefs) gelang das erst Recht nicht.

Dieses Modell ist vorerst tot. Viele WählerInnen fühlten sich betrogen – auch weil sie über die rechtlichen Hintergründe dazu von den Mainstream Medien nicht oder kaum verständlich informiert wurden. Sie glaubten an eine ‚europäische transnationale Demokratie‘, die es im wirklichen Leben nicht gibt.[1] Alles Wesentliche in der EU wird in erster Linie von nationalen Regierungen ausgehandelt.

Macron zauberte deshalb erst mal Frau von der Leyen aus dem Hut, um diese institutionelle Blockade aufzulösen. Viele Analysten außerhalb von Deutschland denken: das war ein intelligenter Coup. Damit habe er einen deutschen EZB-Präsident Jens Weidemann verhindert, der stets gegen die lockere Geldpolitik der EZB wetterte. Mag sein – aber Angela Merkel war stets zufrieden mit der ultra-lockeren EZB-Geldpolitik von Mario Draghi. Diese hat den Bundeshaushalt stark entlastet. Beide konnten Berlusconi 2011 in die Wüste schicken (was Protestbewegungen in Italien – mit ganz anderen Motiven – nicht schafften). Danach wurde erst mal eine Expertenregierung ‚Monti‘ installiert. Merkel und Draghi waren dazu ein gut eingespieltes Duo.

Sie hoffen, dass Lagarde auf dieser Linie weiter macht, was diese auch beteuert. Dies gefiel dem EP-Ausschuss für Wirtschaft und Währung, der Lagarde bereits grünes Licht erteilte. Unbequemen Fragen wegen der auch unter ihrer Ägide als IWF-Präsidentin drakonischen Austeritätspolitik gegen Griechenland musste sie sich dort kaum stellen.

Kräfteverhältnisse in der EU

Hinter Ursula von der Leyen als neuer Kommissionspräsidentin versammelten sich sehr heterogene politische Kräfte. Dies geschah entlang ’nationalstaatlicher Interessenlagen‘ – also der nationalen Kapitale, ihrer Fraktionen, und der jeweiligen Regierungen, die so was stets intern und ‚international‘ austarieren müssen. Ein klares ‚Links-Rechts‘ Schema gibt es in der EU dazu nicht.

In der entscheidenden Abstimmung im EP hatte sie die volle Unterstützung von Macrons gestärkten Liberalen. Kleinere Teile ihrer konservativen EVP und der Sozialdemokraten stimmten offenbar aber nicht für sie, allen voran die MEP der deutschen SPD. Sowie die EP-Fraktion der Grünen.

Diese Opposition ist für die Zukunft nicht Ernst zu nehmen. Die Führung der deutschen Grünen (Parteivorsitzende, Bundestagsfraktion) waren die Ersten, die von der Leyen zu ihrer Bestätigung durch das EP auch inhaltlich wegen ihres ‚mutigen Programms‘ gratulierten. Und damit ihr eigenes Spitzenteam im EP (Ska Keller, Sven Giegold) düpierten. Diese kamen zu dem (m.E. realistischen) Urteil, dass von der Leyens Green Deal und viele ihrer anderen Versprechen nach genauer Lektüre der Unterlagen nur heiße Luft seien. Dies wurde von den deutschen Grünen herunter gespielt. Diese Reaktion von den Bundesgrünen ist m.E. leicht zu deuten: Schwarz-Grün in Deutschland ist ihre bevorzugte Perspektive.

Wie auch immer: am Ende kam Ursula nur auf knappe 9 Stimmen über der absoluten Mehrheit im EP (dafür sind 374 Stimmen nötig). 383 MEP stimmten für sie; 327 dagegen. Unterstützt wurde sie unter anderem von Mitte-links: z.B. von den Sozis aus Spanien (Pedro Sanchez), aus Portugal (Antonio Costa), der PD aus Italien und sogar von den EP-Abgeordneten von Jeremy Corbyn’s Labour.

Ohne die Stimmen der ‚Populisten‘ – gegen die die CDU und andere ja hauptsächlich Wahlkampf machten – wäre sie krachend durchgefallen. Für Ursula stimmten die ‚Populisten‘ der Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien (14 MEP), und auch mehrheitlich die EP-Mitglieder der ‚rechtspopulistischen‘ PiS aus Polen (26 MEP) und von Viktor Orbàns Fidez aus Ungarn (13 MEP). Insofern: von der Leyen wird Kommissionspräsidentin von Kaczyński’s und Orbàn’s Gnaden.

Das ist den deutschen Mainstream-Medien peinlich. Sie hatten ja die Kampagne ‚überzeugte Europäer gegen Nationalisten‘ maßgeblich vorangetrieben. Sie warnten stets auch vor einem angeblich anti-europäischen ‚Linkspopulismus‘ (z.B. DIE LINKE, Unidas Podemos in Spanien, Mélenchon in Frankreich usw.).

Dass ‚ihre Ursula‘ ohne Unterstützung der zuvor so gebrandmarkten ’nationalistischen Populisten‘ nicht bestätigt worden wäre – dies besser ausblenden. Auch ansonsten eher kritische Medien wie die Nachdenkseiten und andere hatten diesen Widerspruch zwischen CDU-Kampagne und deren ‚Realpolitik‘ kaum thematisiert.

Ein holpriger Beginn …

Von der Leyen hatte einen schwierigen Start als designierte EU-Kommissionspräsidentin. Kurz später hatte sie auch Glück. Die Koalition in Italien von Salvinis Lega und der 5-Sterne Bewegung (M5S) brach auseinander. Damit ist Ursula ein Problem los: den ansonsten eskalierenden EU-Haushaltsstreit mit Italien. Die neue PD-M5S Koalition gibt sich europapolitisch deutlich moderater. Dort wird dieses neue Bündnis von Freund und Feind als coalizione Ursula‘ betitelt, weil sowohl PD als auch M5S im EP für von der Leyen votierten. M5S verlangt jetzt nur, dass Italien etwas mehr ‚Flexibilität‘ bei den Regeln des ‚EU-Stabilitäts & Wachstumspakts‘ (SWP) erlaubt wird. Matteo Renzi (PD) forderte das stets zu seiner Zeit als Italiens Premierminister. ‚Flexibilität‘ beim SWP – für Deutschland und Frankreich wurde das zuvor ja auch schon mal gemacht – auf Druck von Schröder und Chirac. Am EU-Austeritätsregime (und dem Zwang zu weiteren neo-liberalen Strukturreformen) änderte das aber nichts, und sollte es auch nicht.

Die italienische Fünf-Sterne-Bewegung möchte sich jetzt übrigens der Fraktion der Grünen im EP anschließen. Deren Mehrheit ist dafür aufgeschlossen und verhandelt. Letztlich geht es dabei um Status und Geld: wenn die MEP der Grünen/EFA-Fraktion im EP aus Großbritannien wg. Brexit wieder weg wären, verlöre diese 11 Sitze aus dem UK (7 Grüne, 3 SNP Schottland, 1 Plaid Cymru Wales) von ihren derzeit insgesamt 75 EP-Sitzen. Da wären 14 Neuzugänge aus Italien schon willkommen. Früher hatten die Grünen übrigens auch kein Problem damit, dass die flämische ‚rechtspopulistische‘ N-VA aus Belgien lange Zeit zu ihrer EP-Fraktion gehörte. Der Wandel von M5S vom ‚populistischen‘ Saulus zum EU-freundlichen Paulus, die Grünen ohnehin von der CDU umworben? Das wäre doch viel versprechend für die Stabilisierung der ‚extremen Mitte‘ im EP …

Von der Leyen versucht andererseits alles, um die osteuropäischen Regierungen (und insbesondere die von Polen und Ungarn) in einen Konsens der ‚extremen Mitte‘ in der EU einzubinden. Ungarn’s Viktor Orbàn bekundete, sie verstehe die Haltungen Osteuropas besser als andere in der Juncker-Kommission zuvor. Frans Timmermanns soll nun EU-Kommissar für Klimaschutz werden (Green Deal im EU-Sprech). Zuvor war dieser in der Juncker-Kommission prominent gegen die Regierungen von Ungarn und Polen eher propagandistisch als rechtlich aktiv, um deren autoritäre Justiz- und Medienreformen anzuprangern. Von der Leyen schlug dann vor, ein Ressort in der Kommission „Schützen, was Europa ausmacht“ (Protecting the European Way of Life) zu schaffen – ein deutliches Signal an Orbàn und Kaczyński. Dies hat eine kontroverse Debatte selbst unter den Mainstream Parteien in der EU ausgelöst. Denn ‚Europa vor den Fremden schützen‘ – so wird dies m.E. zu Recht in ideologischer Hinsicht verstanden – war ja stets ein zentraler Slogan nicht nur der osteuropäischen harten Rechten. Im wirklichen Leben passt dazu allerdings schon lange kein Blatt mehr zwischen die Anti-Flüchtlings-Agenda von Orbàn und Konsorten und der offiziellen EU-Politik von Merkel, Macron und anderen EU-Granden.

Die Balkan-Route wurde mit dem EU-Türkei-Deal dicht gemacht, und die Mittelmeer-Route durch Druck auf afrikanische Länder weitgehend auch. Salvini wurde nie dafür sanktioniert (wie auch), dass durch seine Dekrete die zivile Seenotrettung kriminalisiert wurde und deren Schiffe italienische Häfen nicht anlaufen durften. Das dahinter stehende EU-Regime soll nach Macron, Merkel, von der Leyen so weiter gehen. Wer ein ‚begründetes Recht‘ auf Asyl nachweisen kann – o.k., dies solle man schon in ‚Afrika‘ prüfen. Ansonsten gilt: die als Wirtschaftflüchtlinge betrachteten Personen möglichst schnell zurück führen. Sollten welche dabei sein, die die EU wg. ‚Fachkräftemangel‘ usw. gebrauchen kann – auch gut. Das sind halt die (neoliberalen) Kriterien dafür, welche MigrantInnen rein dürfen und wer draußen bleiben soll.

„Strategische Souveränität“?

Um von der extremen Mitte im EP (Konservative, Liberale, Sozis und Grünen) erst mal als designierte Kommissionspräsidentin bestätigt zu werden, versprach Ursula von der Leyen den diversen Akteuren dort das Blaue vom Himmel. Gegenüber Macron: Ausbau der Aufrüstungsunion‘ und der etablierten Politik zur ‚Festung Europa‘. Den EU-Südländern: Man könnte ja den bestehenden Stabilitäts- und Wachstumspakt ‚flexibler‘ anwenden. Sozis und Grünen: Klimaschutzfonds bei der Europäischen Investitionsbank, EU-Regeln zum Mindestlohn, EU-Initiativen zu einer ‚EU-Arbeitslosen-Rückversicherung‘ und einiges mehr.

Eine bemerkenswerte Reaktion auf diese ‚Operation Ursula‘ kommt von Andrew Watt (vom Europäischen Gewerkschafts-Institut ETUI und dem Wirtschaftsforschungs-Institut der Hans-Böckler-Stiftung IMK). Folgt man dem Gewerkschafts-Experten Watt, so vertritt von der Leyen „die internationalistischste progressive Agenda, die seit vielen Jahren auf EU-Ebene präsentiert wurde.“

Na dann … – welchen ‚Internationalismus‘ strebt von der Leyen denn an? Ihr Leitbild ist ’strategische Souveränität‘ – ‚Europas Wille zur Macht‘. Dies wird von ihr, von Macron und europäischen Denkfabriken schon länger propagiert. Was ist damit gemeint?

Aufrüstungsunion, Festung Europa – wie gehabt, und Konsens in der EU. Die EU müsse ein ‚global player‘ werden, um zwischen USA, China und Russland nicht zerrieben zu werden. Sie benötige vor allem eine eigenständige Geo-Politik und Geostrategie, erst Recht nach einem möglichen ‚No-Deal-Brexit‘. Deshalb brauche sie auch eine neue Industriepolitik. Deren Ziel: größere ‚EU-Champions‘ schaffen, die im globalen Wettbewerb mit den USA und China mithalten können. Etwa so, wie der deutsche Wirtschaftsminister Altmaier und der französische Präsident Macron dies wegen der angestrebten Fusion von Siemens und Alstom schon längst forderten. Dafür sei das EU-Wettbewerbsrecht zu lockern. Die EU solle zudem eigene Standards zu Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz schaffen und dies massiv fördern. Die ‚internationale Wettbewerbsfähigkeit‘ von EU-Champions solle durch einen EU-Fonds gestärkt werden. Das Leitbild ‚Strategische Souveränität‘ beinhaltet somit sowohl wirtschaftliche, militärische, geo-politische und andere Aspekte. Diese weiter gehenden Visionen der EU-Denkfabriken werden auch in internen Diskussionspapieren der Kommission aufgegriffen.

Ob sich das durchsetzt? Flexiblere Regeln zum Stabilitätspakt, das EU-Wettbewerbsrecht lockern – dagegen sträubt sich die ‚Hanseatische Liga 2.0′ (ein von den Niederlanden geführtes Staatenbündnis mit Dänemark, Finnland, Schweden und den baltischen Staaten). Sie verteidigen eisern Schäubles und Scholz‘ Prinzip der ’schwäbischen Hausfrau‘ in der Haushaltspolitik (die ’schwarze Null‘). Sowie den freien Wettbewerb in einer ‚freien Marktwirtschaft‘. ‚Europäische Champions‘ fördern- das würde aus ihrer Sicht vor allem deutschen und französischen Unternehmen nutzen. Eine durchaus realistische Analyse, die auch von osteuropäischen Regierungen geteilt wird…

Auch in der CDU sind solche Ideen sehr umstritten. Von der Leyens‘ ’soziale Versprechen‘ wie z.B. zu einer EU-Arbeitslosen-Rückversicherung wurden dort stets abgelehnt. Ob diese wirklich ’sozial‘ wäre, steht noch mal auf einem anderen Blatt.

Aussichten

Insofern gilt für die ‚Operation Ursula‘ wie für die EU insgesamt: sich durchwursteln ist das Gebot der Stunde. Dass die neue Kommission bestätigt wird, könnte gelingen. Auch wenn mit dem einen oder anderen ‚blauen Auge‘.

Danach kommen aber härtere Probleme, die ihre Schönwetter-Agenda schnell zu bloßem bedruckten Papier machen könnten. Möglichweise ein No-Deal-Brexit zum 31. Oktober 2019 (weil kein Austrittsvertrag des UK mit der EU zustande kommt), neue Handelssanktionen von Trump (Flugzeuge, Autos) gegen die EU, eine internationale Rezession, Krieg gegen den Iran und vieles mehr. Die EU-internen Konflikte (z.B. um die künftige Osterweiterung um Balkanstaaten wie Albanien, Nord-Mazedonien, Kosovo usw., um Geopolitik gegenüber China, USA und Russland, um die Durchsetzung von ‚Rechtsstaatlichkeit‘, die Verteilung der noch ankommenden Flüchtlinge und die Migrationspolitik, um die künftige Wirtschafts- und Geldpolitik) – diese werden sich eher zuspitzen. ‚Operation Ursula‘ – eine ‚Mission impossible‘? Wir werden sehen …


[1] Siehe meinen Beitrag in Z 119, September 2019, zu ‚ Europawahl 2019 – Debakel für die EU-Linke ‚