„Die Wut der Bürger und der Friede Europas“

Milan Obid, Klagenfurt

[Bild: Friedensprojekt? Nato- und EU-Osterweiterung Hand in Hand gegen Russland]

Die Sorgenfalten der Europäisten unter den „progressiven“ Intellektuellen werden tiefer. Sie sehen ihr „Friedensprojekt“ von Neoliberalen gekapert und von rechten wie linken Nationalisten attackiert.

Es ist zum Verzweifeln. Da bietet sich die historisch einmalige Gelegenheit, auf den Trümmern zweier Weltkriege und der darauf folgenden Blockkonfrontation ein europäisches Friedensreich zu schaffen und dann stellen sich dieser schönen Idee die kurzsichtigen Interessen von nationalistischen Kleinkrämern, gierigen Kapitalisten, tagespolitisch beschränkten Provinzpolitikern und der unwissenden Masse entgegen. Da große Ideen bekanntlich an den Leuten zu scheitern pflegen, empfiehlt es sich neue Wege zu beschreiten. „Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen, dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist„, so der europabewegte österreichische Schriftsteller Robert Menasse bereits im Jahr 2012 in „Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas“, einem seiner zahllosen Lobgesänge auf die Europäischen Union.

Engagierte Literatur muss belohnt werden, l‘art pour l‘art war gestern. Und so streicht einer, der dazu rät „die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen“ – selbstverständlich dialektisch ganz im Sinne der späteren Entstehung einer wahren, weil nicht nationalstaatlich begrenzten Demokratie – einen Preis nach dem anderen ein. Öffent­liche Intellektuelle wie Menasse gefallen sich in der Rolle von Visionären und jenen muss ein Denken jenseits der Grenzen des normal Zulässigen auch mal erlaubt sein, Zitatfälschung und das willkürliche Zurechtrücken historischer Begebenheiten inklusive. Es wäre aber auch zu schön gewesen, hätte der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hall­stein, seine Antrittsrede 1958 tatsächlich in Auschwitz gehalten! Dass dies nicht der Wahr­heit entspricht, hätte sich Menasse denken können. Doch ist er scheinbar vom unter öster­reichischen Intellektuellen beliebten aber historisch haltlosen Motiv des vorbildhaft antifa­schistischen Nachkriegs-Westdeutschlands derart geblendet, dass er selbst die unglaub­würdigsten Anekdoten über Politiker der BRD ungeprüft mehrfach nacherzählt und als histo­rische Wahrheit ausgibt, treffen diese nur den Nerv der politisch korrekten Befindlichkeiten von sich und seinesgleichen. Was nun, wenn sich herausstellt, dass (nicht bloß) die rühren­de Geschichte über die Rede von Auschwitz frei erfunden war? Dann hat die Wahrheit eben Pech gehabt! Ein Menasse spricht im Namen der übergeordneten Wahrheit, und diese lautet eben, dass der Nationalstaat den Weg nach Auschwitz bereitete. Folglich: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“ Ende der Debatte. Und doch bewegt eine Frage das ihm sonst so wohlgesonnene Feuilleton: „Ja darf er denn das?“ Aus dem Springer-Blatt „Welt“ lässt Menasse ausrichten: „Was kümmert mich das Wörtliche, wenn es mir um den Sinn geht?“, was wiederum als ein Hinweis auf die Qualität seiner Schriftstellerei dienlich sein kann.

„Wer als erster Auschwitz sagt, hat gewonnen“ brachte einst ein deutscher Satiriker den Opportunismus so manchen „antifaschistischen“ Debattenstils auf den Punkt. Menasse hat diese schäbige Instrumentalisierung des Völkermordes nicht erfunden, sondern nur die neueste schmutzige Episode dazu geliefert. Wer nun erwartet, die sonst recht schnell em­pörten Wächter des Erbes der Opfer des Holocaust würden auch diesmal öffentlich prote­stieren, hat die Funktion der hegemonialen Gedenkkultur der Gegenwart missverstanden. Der faschistische Völkermord hat als ein obszönes Volksfest dargestellt zu werden, was eine Politik der Massen für immer desavouieren soll. Nicht zufällig ist das Demokratieverständnis der Europabewegten in der vorgeblichen Abgrenzung zum Populismus begründet, womit in Wahrheit freilich eine Absage an die Anliegen breiter Bevölkerungsschichten gemeint ist.

Das wirkungsvollste Instrument in den Händen europatümelnder Intellektueller ist nun mal ihre Rede vom Frieden, den sie auf Gedeih und Verderb mit dem Los der Europäischen Union verknüpft wissen wollen. „Europa oder Barbarei“ ließe sich Rosa Luxemburgs Diktum über die Alternativlosigkeit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung im Sinne der „progressiven“ Europafreunde umschreiben. Ein friedliches, soziales, demokratisches und solidarisches Europa soll es werden. Weil aber die Wirklichkeit dem so gar nicht ähnlich sieht, werden Klagelieder angestimmt. Im „Alpen-Adria Manifest“, einem vom ehemaligen Universitätsprofessor Werner Wintersteiner redaktionell verantworteten Appell von offenbar um die Zukunft des Kontinents besorgten Intellektuellen aus der so genannten Region Alpe-Adria, heißt es etwa: „Die Logik des maximalen Profits droht aus einer ökonomischen Doktrin zu einem generellen Prinzip der menschlichen Beziehungen zu werden. Eine Kultur des Misstrauens und der Rivalität, der Neidgenossenschaft und des kleinlichen Vorteils macht sich breit“. Das Vokabel „Neidgenossenschaft“ kennt man als einen Kampfbegriff jener, die selbst gegen bescheidenste Umverteilungsversuche nach unten Sturm laufen, aber es stimmt eben auch im Allgemeinen mit der Gefühls- und Erfahrungswelt sozial privilegierter Schichten überein. Schon die naive Verwendung dieses Propaganda-Vokabels spricht Bände darüber, wie wenig die Autoren ihre eigene soziale Position in der Gesellschaft reflektieren. Da es sich um ein Manifest handeln soll, haben sie aber selbstverständlich auch eine Lösung für die unhaltbaren Zustände parat: „Transnationale Formen der Demokratie zur Eindämmung der entfesselten Märkte“. Der Begriff „transnational“ kommt im Appell satte zwölfmal vor. Wenig überraschend, ist doch alles in Verbindung mit dem Präfix „trans“ eine dem Zeitgeist entsprechende akademische Modeerscheinung. „[N]ational kann weder die Demokratie gerettet noch der Kapitalismus zivilisiert werden; dazu muss die Demokratie transnational als politische Gegenmacht zum Markt konstituiert werden“, wird der Schweizer Sozialdemokrat und EU-Aktivist Andreas Gross zitiert. Ob er deshalb wie Menasse vorschlägt, die überholten demokratischen Institutionen des Nationalstaats lieber gleich ganz abzuschaffen, bleibt der Vorstellungskraft des Lesers überlassen.

Die Verfasser des Manifests sind angetreten um die „mutwillige Zerstörung des­sen, was vom Friedensprojekt Europa übergeblieben ist“ aufzuhalten. Denn „starke Gegen­kräfte“ stellen sich der „demokratischen Vereinigung von ganz Europa“ entgegen. Das könn­en nur die Handlanger von Hass und Zwietracht oder bestenfalls alten politischen Projekten nachhängende Ignoranten sein. Die Entstehungs-Geschichte der Europäischen Union wird als die Verwirklichung einer Utopie von Frieden und Wohlstand umgeschrieben. Verblüffend, wie unverfroren sich links wähnende Europäisten verdrängen, dass sie selbst diese hehren Idea­le der EU und ihrer Vorläufer erst recht spät anzuerkennen wussten. Die Grünen sind dafür das Musterbeispiel. Waren sie einst noch gegen den EU-Beitritt Österreichs, tummeln sich dort heute die bedingungslosesten Europäerinnen. Und so wimmelt es im „Alpen-Adria Mani­fest“ von Zitaten mehr oder weniger berühmter öffentlicher Persönlichkeiten, zu finden ist je­doch kein einziges historisches Zitat aus linker Feder, das sich positiv auf die Vorläuferinsti­tutionen der EU bezieht. Man begnügt sich vielmehr mit Allgemeinplätzen wie „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann). Menasse hätte passendere Zitate gefunden.

Spätbekehrte gehören mitunter zu den fanatischsten Verkündern von Glaubensdoktrinen. Dieses allgemeine Phänomen lässt sich unter den in die Jahre gekommenen (ehemals) linken intellektuellen Europatümlern gut beobachten. Was ihnen einst als imperialistisches Projekt des europäischen Großkapitals erschien, wissen sie heute als die Verwirklichung von Frieden und Wohlstand zu würdigen. Bei einschlägigen Veranstaltungen übertreffen sich die „überzeugten Europäer“ regelmäßig gegenseitig. Dass ihnen das Bekenntnis zu „Europa“ eine heilige Bürgerpflicht ist, müssen sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit unter Beweis stellen. Und so ist die Phrase vom „gemeinsamen Europa“ zur Orthodoxie geronnen. Da das „Friedensprojekt“ längst nicht mehr über alle Zweifel erhaben scheint, wird der Ton immer schriller. Je breiter die Ablehnung, desto höher der Einsatz, der auf dem Spiel steht. „Wenn die EU zusammenbricht, dann kommt der Krieg zurück nach Europa, davon bin ich fest über­zeugt“, droht Gregor Gysi in der „taz“. Es gehört zu den Absonderlichkeiten bei postmodern gewendeten Linken, die sich in kritischer bis ablehnender Distanz zum sowjetischen Sozialis­musmodell begreifen, dass sie gerade das schlechteste Erbe linker Tradition bewahren, wenn sie das Schicksal der Menschheit mit einem politischen Projekt der Machteliten verknüpfen. Dass die EU – anders als die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene spätere Weltmacht – nie als Emanzipationsprojekt gedacht war, kommt erschwerend hinzu. Es bleibt zu hoffen, dass die Rede vom Krieg von Historikern zukünftiger Generationen nicht als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung abgehandelt wird werden müssen.

Und so wünscht man sich ein ganz anderes Europa, als man es in der Wirklichkeit vorfindet. „Europa als Friedensprojekt kann aber nur in dem Maße erfolgreich sein, als es sich nicht auf die Ideologie des Nationalstaates und des entfesselten Kapitalismus gründet“ steht im „Alpen-Adria Manifest“ geschrieben. Schade nur, dass die Autoren solcher Appelle bei den entscheidenden Stellen in Brüssel auf taube Ohren stoßen. Dort nimmt man derartige Stellungnahmen gegen „die Ideologie des Nationalstaates“ zufrieden zur Kenntnis und verbucht das Unbehagen gegenüber dem „entfesselten Kapitalismus“ als unvermeidliche Alt-68er-Marotte. Die Loyalität gegenüber ihrem politischen Großprojekt ist ihnen aus dieser Richtung offenbar gewiss, ganz unabhängig davon, wie weit sie es mit der „Entfesselung der Kräfte des Marktes“ treiben.

15. Jänner 2019

Italien: Der Kompromiss der Regierung des Wandels

Bemerkungen zur Verständigung über das Budgetgesetz zwischen Rom und Brüssel

 

Knapp vor Weihnachten konnte also doch noch ein Kompromiss im Budgetstreit zwischen der italienischen Regierungskoalition von Lega (Matteo Salvini) und 5 Sterne Bewegung (M5S, Luigi Di Maio) und der EU-Kommission verkündet werden: Nicht 2,4 % Neuverschuldung, sondern nur 2,04 %, also knapp 10 Mrd. € mehr an Leistungsabbau, geringere Mittel für Investitionen (-4,2 Mrd. €) , eine mögliche Mehrwertsteuererhöhung als Sicherheit im Fall der Zielverfehlung und regelmäßige Überprüfung durch die EU. Dafür vorerst kein Defizitverfahren und die Verteidigung der beiden „Leuchtturmprojekte“ Grundsicherung (reddito di cittadinanza; mit späterem Beginn im April 2019 und schärferen Zugangskriterien) sowie sozialen Änderungen im Pensionssystem (Rücknahme des Fronero Gesetzes; Quota 100, Pensionsantritt bei einer Summe aus Alter und Beitragsjahren = 100). Im Folgenden ein paar Gedanken dazu.

  1. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Den meisten Kommentatoren und wahrscheinlich auch den Protagonisten ist klar, dass der Kompromiss die Konfrontation nicht löst, sondern nur hinausschiebt. Die strukturellen Probleme Italiens (Niedergang der Industrie und der öffentlichen Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung, Bankenkrise, Staatsschulden) bleiben ungelöst – mit dem gestutzten Budget mehr als mit dem ursprünglichen Vorschlag von 2,4 %, mit diesem schon mehr als mit dem im Koalitionspakt vom März geplanten/proklamierten Maßnahmen, die wiederum selbst schon ein unzureichend expansives Ausmaß hatten.

Auch die politischen Kräfteverhältnisse bleiben unverändert. Die Regierung hat nach wie vor eine große Mehrheit hinter sich und es gibt keine Anzeichen einer Erholung auf Seiten der Opposition. Gestärkt wurde durch den Kompromiss die „fünfte Kolonne“ in der Regierung (die Loyalen von Staatspräsident Sergio Mattarella, v.a. Wirtschaftsminister Giovanni Tria und Außenminister Enzo Moavero Milanesi), die für „Stabilität“, gleichbedeutend Kontinuität des Euro-Austeritätsregimes, steht.

In Griechenland 2015 war die Sache mit dem Ja zum Memorandum gelaufen, die Regierung hatte sich offen gegen die Bevölkerung gestellt und in vollem Umfang das Troika-Regime akzeptiert. In Italien ist es in der Tat ein Kompromiss, der mehr einer politischen Verschnaufpause, denn einer Einigung auf halbem Weg gleichkommt. Der Ausgang der Europawahlen im Mai und die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Einbruchs könnten diesen Waffenstillstand bereits 2019 jederzeit wieder aufkündigen, noch bevor das nächste Budget ansteht.

  1. Die EU ist kein Papiertiger, aber dennoch in der Krise

Nach Griechenland zeigt Italien neuerlich, dass ein auch nur vorsichtiges Ausscheren aus dem neoliberalen Korsett des Fiskalpaktes in Brüssel als Kriegserklärung gewertet wird. Die politischen Eliten wissen, dass ein Zeichen der Schwäche gegenüber Herausforderern – denn um die politische Herausforderung geht es, nicht um die Zahlen (siehe Frankreich: 3,2 % Defizit) – zu einem Dammbruch führen kann. Es birgt die Gefahr eines Endes des Euro, der den politischen Weg der Herrschenden während der letzten zwei Jahrzehnte repräsentierte, das Markenzeichen der sich vertiefende Einigung Europas unter neoliberalem Vorzeichen.

Ein Nachgeben Brüssels gegenüber den Herausforderern wäre eine Beschleunigung hin zur Neuformierung der Machtverhältnisse innerhalb und zwischen den Ländern Europas. Und die neoliberalen Parteien der Mitte sind sich der Präzedenzfälle der Sozialdemokratien Griechenlands, Italiens und Frankreichs im Klaren: in kürzester Zeit ist ein Abstieg von den Zentren der Macht in die völlige Bedeutungslosigkeit möglich, wenn man die Zügel aus der Hand legt.

Und auch das Export- und Finanzkapital fürchtet zu Recht, dass seine ungebremste Gestaltungshoheit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik von einer Erschütterung der neoliberalen Globalisierungsarchitektur in Europa empfindlich getroffen werden könnte.

Bei einem solch gewichtigen Einsatz ist die Unnachgiebigkeit Brüssels daher nicht verwunderlich, und die Herren sitzen durchaus noch auf einem langen Ast: das Damoklesschwert des Defizitverfahrens war begleitet durch die Artillerie des Spread und die Hand am Colt des Geldhahns der EZB.

Die Durchsetzungskraft Brüssels darf aber über die Politikschwäche und den Glaubwürdigkeitsverlust des Projekts EU nicht hinwegtäuschen. Das (verspätete) Abfangen der verschuldeten Mitgliedsstaaten durch die EZB kombiniert mit einem in die Verfassungen gemeißelten deutschen Austeritätsregime (z.B. Sixpack, Schuldenbremse) sind keine Strategie zur Lösung der strukturellen Krisenherde der EU und schon gar kein Modell, das mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung mobilisieren kann.

  1. Institutionelle Repräsentanz ohne soziale Mobilisierung ist wenig standfest

Auch in Italien ist trotz massivem Unmut der Bevölkerung – siehe Niedergang der ehemaligen Regierungsparteien von Forza Italia/Berlusconi und Partito Democratico/Renzi, aber auch das sinkende Vertrauen in die EU (Eurobarometer 2008: 51 % vs. 2018: 36 %) – die soziale Mobilisierung auf den Straßen und in den Betrieben äußerst gering. Der Protest äußerte sich, wie vielerorts in Europa, institutionell in den Wahlen, indem Parteien jenseits des Establishments, in Italien eben die M5S und Salvini‘s Lega, stark gemacht wurden und in die Regierung kamen. Die italienische Koalition spiegelt dieses passive Protestpotential wieder, wird von ihm getragen und muss dementsprechend agieren. Dennoch ist die Verbindung zwischen „Führung“ und „Basis“ eben keine „organische“.

Lega und M5S folgen einer widersprüchlichen, programmatisch inkonsistenten Agenda und sind von internen Gegensätzen zerrüttet. In der Lega die alte Padaner-Riege mit ihren proeuropäisch-großbourgeoisen Elementen, vertreten etwa durch Staatssekretär Giancarlo Giorgetti, gegen die kleinbürgerlich-plebejische Salvini-Riege. Bei der M5S haben sich in der EU-Frage die Fronten weitgehend hinter Di Maio geschlossen (offenbar inklusive Europaminister Paolo Savona), ohne hörbares eurokritische Ausscheren in den oberen Rängen. Wobei die Gruppe der „Parteilosen“ Moavero, Tria und tendenziell auch Ministerpräsident Giuseppe Conte im Preis wohl noch billiger zu haben sind als Di Maio. Letzterer fürchtet hier sicher stärker – bestätigt durch Wählerumfragen- um seine Sichtbarkeit innerhalb der Koalition gegenüber Salvini. Die kritischen Stimmen in der M5S haben sich dann auch in diesem Kontext geäußert, etwa hinsichtlich des autoritären „Sicherheitsdekrets“ der Lega. Nur sind unter diesen Lega-kritischen Stimmen leider auch viele, die als Alternative einer Koalition mit der PD zugeneigt sind (mit Parlamentspräsident Roberto Fico als Wortführer). Für den Machiavelli Mattarella ist das eine zweite Stütze in seiner „Subversion“ gegen die „Populistenregierung“.

Mitten in der Konfrontation mit Brüssel beschäftigt sich die Regierung dann noch mit allerlei Hickhack und Theater um Nebensächlichkeiten. Dazu noch die lächerlichen Twitter-Schauspielereien von Salvini, die lautstarken Proklamationen nach Ereignisse, um sich dann wieder um die konsequenten Entscheidungen herumzudrücken (siehe Nationalisierungsdebatte nach der Katastrophe der Morandi-Brücke): all das sind Symptome von dem Phänomen, das der Begriff „Populismus“ nicht schlecht umschreibt.

Der Kompromiss im Budgetstreit zeigt also nicht nur, dass die politische Führungsgruppe und die Parteien der Regierungskoalition weder inhaltlich noch organisatorisch auf eine Konfrontation mit Brüssel vorbereitet sind. Er ist auch das Zeichen der Schwäche eines unorganisierten Unmutes, der nicht in der Lage ist aktiv zu reagieren und gezielt Druck auszuüben. Dementsprechend ist die aktuelle Periode der Krise und des Kampfes auch eine sehr sprunghafte, die genauso gut wieder in Resignation und Rückzug enden kann (siehe Griechenland), um dann von neuem und an anderen Schauplätzen auszubrechen.

Die andere Seite desselben Zeitgeistes sind die „Gelbwesten“ in Frankreich. Sie zeigen die Kraft des Volksprotestes auch ohne eine „organische Führung“. Der Protest ist das analoge Phänomen zur Regierung in Italien, nur eben von unten. So wie die EU-Eliten vor einer wirren und nicht einschätzbaren Fünf-Sterne/Lega-Regierung mehr Angst haben als vor einer linken Partei à la Syriza oder Podemos, da erstere den Hass gegen die Eliten viel unmittelbarer wiedergeben, so fürchten sie die Gelbwesten mehr als etwa eine CGT-Streikbewegung, da auch diese viel stärker die unbändige Entschlossenheit (konsensfähiger) sozialer Wut wiedergibt. Kein Wunder, dass die Kommission also in Frankreich ein Defizit über der 3%-Grenze durchgewunken hat, damit ihr Freund und (schneller als gedacht am Müllhaufen der Krisenmanager gelandete) Hoffnungsträger Macron diesem Alptraum gegensteuern kann.

Aber auch hier muss man sich vor „spontaneistischem“ Überschwang hüten. Die Skepsis der Gelbwesten gegen politische Repräsentanz ist zwar verständlich und auch sympathisch, angesichts der Unzulänglichkeiten selbst von France Insoumise. Aber damit ist natürlich vorgezeichnet, dass die Bewegung keine „organische“ Kontinuität finden wird.

Dennoch, so sind eben die vorläufigen Ausdrucksformen in den Momenten der holprigen Geschichte zu einer anti-neoliberalen Opposition in Europa: Gelbwesten, die „populistische“ Regierung Italiens, die turbulenten Monate Januar bis Juli 2015 in Griechenland, der Brexit.

  1. Der nationalen Souveränität ein fortschrittliches Bild geben?

Die Gegner der italienischen Regierungskoalition von PD, Forza Italia und Konsorten, jahrzehntelange Verursacher der ganzen Misere, waren sich nicht zu blöd, angesichts des Budgetkompromisses (und des damit erforderlichen Änderungsantrags zum Budgetgesetz im Parlament) die Verletzung der Souveränität des Landes anzuklagen. Kein Wunder, dass die Menschen sich mit Ekel von Politik und Wahlen abwenden, bei derart lächerlichen Eskapaden! Aber dennoch sagt das einiges: Souveränität ist ein Thema, objektiv, angesichts der wieder einmal als eisernes Korsett an den Tag getretenen Budgetregeln aus Brüssel, und subjektiv, im Empfinden vieler Menschen.

Die positiven Argumente für das Rückholen von Entscheidungsmacht auf die Ebene des Nationalstaates sind wirtschafts-, sozial- und demokratiepolitisch vielfältig und klar (siehe dazu z.B. die Gründungserklärung von Euroexit). Auch die Krise der Globalisierung (sichtbar u.a. als Handelskonflikte) und der EU legen nahe, sich heute wieder über die Rolle des Nationalstaates Gedanken zu machen.

Dennoch gibt es dabei ein ungelöstes Hegemonieproblem. Sowohl unter den politischen Akteuren/Parteien als auch im Empfinden jener sozialen Schichten, die sich von den Elitenparteien abwenden, ist der links-souveränistische dem eher rechts konnotierten Diskurs (mit all seinen Widersprüchen, siehe Italien) noch völlig unterlegen. Das macht Probleme: es verhindert, der Idee des Nationalstaats den Mief des Nationalistischen, Ausländerfeindlichen und Rückwärtsgewandten zu nehmen, ihr etwas Fortschrittliches und Zukunftsweisendes zu geben. Das wiederum erschwert es ungemein, in den immer noch (in Österreich völlig) von der EU-Ideologie („Friedensprojekt“) dominierten Bereich der Intellektuellen vorzudringen. Auch hier braucht es einen Bruch, um weiter zukommen von den Turbulenzen der Gelbwesten und Regierungspopulisten hin zu einer organisierten Opposition mit durchdachter politischer Strategie und anstrebenswerter (demokratischer und sozialer) gesellschaftlicher Vision.

 

Gernot Bodner, Wien 27.12.2018

Gelbwesten: Eine a-politische, tendenziell linkspopulistische plebeische Bewegung

Vorgestern (13. Dezember) veröffentlichte „Le Monde“ kurze Ergebnisse einer Gruppe französischer Sozio- und Politologen zu den Gelbwesten und ihren Motivationen. Ich habe die Grafiken der Zeitung vereinfacht und nachgebaut.

In Kürze zusammengefasst:

Der beruflich-soziale Schwerpunkt liegt bei kleinen Angestellten. Auch das alte Kleinbürger­tum (Handwerker, Kleinunternehmer) ist etwas überrepräsentiert, macht aber nur einen geringen Anteil aus. Dafür liegt der Anteil der Arbeiter etwas unter dem nationalen Schnitt. Dem Einkommen nach stehen sie sich nicht besonders gut, leicht unterdurchschnittlich, aber nicht ganz unten.

Massiv unterrepräsentiert sind, wenig verwunderlich, die höheren und leitenden Angestellten und Beamten.

Der Großteil der Aktiven war bisher a-politisch, wie es heute ganz üblich ist. Den Parteien schlägt größtes Misstrauen entgegen, aber auch die Gewerkschaften werden ziemlich misstrauisch betrachtet. Auf der politischen Links-Rechts-Achse ordnet sich die Mehrzahl „Links“ und sogar „extrem Links“ ein – soweit sie sich dort positionieren: ein Drittel weigert sich. Vor allem aber wollen sie nicht „Zentrum“ sein. Es ist ein Protest gegen die Hegemonie, die wir gern linksliberal nennen, die aber in Wirklichkeit liberal-konservativ ist – liberal in kulturellen Fragen, aber erzkonservativ in soziö-ökonomischer Hinsicht. In Österreich stellt der „Standard“ das Muster-Beispiel.

Das Hauptanliegen sind Einkommens-Erhöhung, bessere Verteilung und Steuersenkung. Und sie wollen gehört werden. Die Immigration spielt keinerlei Rolle.

Das ist nicht der Ort für eine Analyse. Es ist jedoch klar: Hier haben wir eine wirkliche Bewegung vor uns, wo die liberal-konservativen mainstream-Leute zornig hinschimpfen: „(Links-) Populisten“!! Es ist eine plebeische Rebellion derer, die von den abgehobenen Akademikern auch in Österreich voll Arroganz und voll Klassen-Verachtung von oben herab als „Modernisierungs- und Globalisierungs-Verlierer“ bezeichnet werden. Das sind jene Leute, welche selbst heute noch den Sozialdemokraten den guten Rat geben: Mit diesen Abgehängten könnt ihr keinen Staat machen. Oder wie es ein viel im ORF (und auch anderen Medien) interviewter österreichischer Politologe ausdrückte: „Das sind nur Objekte der Sozialpolitik.“

Tories vergeigen Brexit

Ist ein People’s Brexit gegen das neoliberale Regime möglich?

von Wilhelm Langthaler

Zwei Jahre Verhandlungen haben eindrucksvoll bewiesen, dass die Tories und hinter ihnen die britischen Eliten weder fähig noch bereit sind, den Austritt aus der EU so zu organisieren, dass er die Wünsche der unteren Hälfte der Bevölkerung auch nur annähernd reflektieren würde.

Die Vielen („the many“) oder die „working-class“ haben mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt, weil sie sich Take-back-control erwarteten, nämlich über ihre Lebensumstände, die ihnen in vier Jahrzehnten des Neoliberalismus abhandengekommen sind.

Der Versuch der Tories, diese Stimmung von unten mittels einer Reminiszenz des britischen Großmachtstrebens auf ihre Mühlen zu lenken, ist gründlich gescheitert. Denn sie gingen davon aus, dass die Abstimmung gegen den Brexit ausgehen würde. Sie hätten sich damit als Demokraten profilieren könnten, die zwar den Brexit ermöglicht hatten, lediglich das Volk hätte nicht gewollt. Jetzt ist es umgekehrt: Weder können noch wollen die Tories einen Bruch mit der neoliberalen Machtstruktur Europas vollziehen.

Die No-Dealers am rechten Rand der Tories sind nur mehr abgehalfterte ideologische Desperados, die ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, sowohl oben als auch unten.

Denn die Idee eines reaktionären Souveränismus, eines eigenständigen Großbritanniens als globale liberale Macht mit noch engerer Beziehung zur USA, trägt schon lang nicht mehr. Selbst wenn das Trump gefällt, der nicht versteht, dass die EU ein Teil des globalen US-amerikanischen Machtdispositivs ist. Obama sah da im Sinne der US-Vorherrschaft klarer und stellte sich entschieden gegen den Brexit.

Nationale Souveränität hat nur als linker Entwurf für größere soziale Gerechtigkeit Sinn, selbst in einem Zentrumsland. Als wirtschaftsliberales Konzept stößt die nationale Souveränität gegen das historisch-konkrete, institutionelle globalistische Freihandelsregime – eine freifliegende rechte Träumerei, die der City of London nicht dienstbar ist.

 

Am Erbe der kolonialen Weltmacht gescheitert

Hauptstolpersein für den Brexit ist Nordirland. Unter allen Kolonien ist Irland (neben Indien) jenes Land, dass am meisten unter dem britischen Joch gelitten hat – mit Millionen Toten, Generationen des Elends, Unterentwicklung und Unfreiheit bis heute.

Es ist eine tragische Tatsache, dass der jahrzehntelange Bürgerkrieg über die koloniale Grenze mitten durch die grüne Insel (und damit über den unionistischen Machtanspruch), auf reaktionäre Weise (vorläufig) gelöst werden konnte, nämlich durch die EU-Personenfreizügigkeit. Diese hat eigentlich einen anderen Sinn, nämlich die freie Bewegung des Produktionsfaktors Arbeit unter der Botmäßigkeit und nach den Bedürfnissen des Kapitals. (Wir gehen hier auf die zahlreichen Probleme des Karfreitagsabkommen nicht ein.)

Mittlerweile haben sich die Verhältnisse auf den Inseln jedoch stark verändert. Die Republik ist eine der größten Profiteure der EU als Eintrittspunkt des US-Kapitals nach Europa. Das soziale Niveau der Republik hat mittlerweile jenes Nordirlands überholt. Und die kulturelle Modernisierung des Neoliberalismus dämmte den politischen Katholizismus substanziell ein. Die Krise der traditionellen Industrien Ulsters hat für die nordirische Mittelklassen die Republik denkbar gemacht, während die protestantische Arbeiterschaft und die Elite hart unionistisch bleiben. Und es kommt noch die demografische Entwicklung dazu, die das katholisch-republikanische Lager zur Mehrheit machen, obwohl die Counties extra so ausgewählt und maßgeschneidert wurden, dass dauerhaft eine unionistische Mehrheit gewährleistet bliebe.

Jede Form des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU muss zwangsläufig Irland wieder teilen. Doch eine volle Grenze wird von der republikanischen Mehrheit Nordirlands nicht akzeptiert werden. Schon jetzt funktioniert die Karfreitags-Machtteilung mit den Unionisten nicht. „Direct rule“ Londons droht als Rute im Fenster. Doch eine Grenze brächte die Möglichkeit eines abermaligen Bürgerkriegs und damit die Frage des Anschlusses an die Republik wieder auf das historische Tapet. Das will London vermeiden, zumal die britischen Eliten nach Jahrzehnten des Neoliberalismus eine tiefe Krise durchlaufen.

So blieb Theresa Mey nichts anderes übrig als die Frage auf die Zukunft zu verschieben und in einer Zollunion mit der EU zu bleiben – mit (fast) allen Konsequenzen des Binnenmarktregimes, einschließlich der Jurisdiktion des EU-Gerichtshofs. Die EU bestand darauf als Rückfalllösung („backstop“ im Brüsselsprech), falls es nach der vereinbarten zweijährigen Übergangsperiode zu keiner Einigung kommen sollte, eine harte Grenze auf der grünen Insel zu verhindern. Das heißt entweder, dass Großbritannien in der Zollunion bleibt oder die Zollgrenze zwischen den Inseln aufgezogen werden muss. Ein gewaltiger Schritt zur De-facto-Rückkehr Ulsters zur Republik.

Das kommt einer historischen Demütigung jener imperialen Macht gleich, die die Welt wie niemand zuvor und niemand danach alleine beherrscht hatte. Und nun können sie nicht einmal mehr ihre Siedlerenklave in nächster Nähe unter Kontrolle halten. Es zeigt, wie groß die Verzweiflung, der Machtverlust, die Schwierigkeiten der Londoner Eliten sind. Natürlich können da die nordirischen Unionisten der DUP nicht mit und haben May die zur Stimmenmehrheit notwendige parlamentarische Unterstützung aufgekündigt. Doch auch wichtige Teile der Tories verweigern May die Gefolgschaft.

 

Stürzt May?

Die Premierministerin hat mit großer Sicherheit die Mehrheit verloren und sollte eigentlich stürzen. Doch was ist für die Tories die Alternative?

No Deal, der unkontrollierte Austritt wie er in der Führungslosigkeit möglich werden könnte und wie ihn einige Tory-Hinterbänkler vollmundig propagieren, ist für die City ein Graus. Für sie bedarf es unbedingt eines modus vivendi mit der zentralen kapitalistisch-liberalen Macht Europas.

Rechnerisch gesehen wäre der May-Plan mit der Hilfe der Blairisten in Labour durchzudrücken. Doch das könnte nicht nur die Tories zerrütten, sondern auch den Blairismus auslöschen und das Land dem Corbynismus als Linkskeynesianismus ausliefern. Das wäre für die City der absolute Supergau, noch schlimmer als No Deal.

Hinzu kommt der im Sinne der Eliten unverantwortliche Revanchismus Brüssels. Angesichts dieser Szenarios müssten sie May beistehen und mit gewissen symbolischen Zugeständnissen helfen, die Ehre der Vereinigten Königreichs zu retten. Doch dazu scheinen sie nicht bereit, umso mehr als sie auch vom Süden bedroht sind und dort absolute Härte zeigen wollen.

Was schreibt sich May nun gut, um ihren Plan zu verkaufen? Zunächst die Einschränkung zukünftiger Arbeitsimmigration von Nicht-EU-Bürgern aus der EU. Ob das Substanz hat, darf bezweifelt werden. Denn der Lohndruck ging vorwiegend von Arbeitskräften aus osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten aus, die auch in der Übergangsphase vollen Zugang haben werden. Dann ein Ende des EU-Agrarregimes, wobei nicht klar ist, wie das mit der Binnenmarktregeln und der Zollunion zusammengeht. Und schließlich ein Ende der Beitragszahlungen, die nun angeblich für das Gesundheitssystem verwendet werden könnten. Das EU-Regime bleibt also für die Übergangsphase überwiegend bestehen, nur kann London politisch nicht mehr mitbestimmen. Und was danach sein wird, steht noch in den Sternen. Der Soft Brexit Mays hat also kein Fleisch an den Knochen. Anders gesagt: May hat den Brexit vergeigt.

 

Links-Brexit?

Wir beobachten eine spektakuläre Metamorphose, welche aber im Kern schon als Larve angelegt gewesen war. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde das Ergebnis des Referendums als Rechtsschwenk abgekanzelt, waren doch die linken Stimmen für den Brexit nur schwach hörbar und die traditionelle Linke dagegen. Man dachte, die Tories hätten sich schlicht verzockt und ihr reaktionärer Flügel gewonnen. Ein klassischer Fall von gerufenen Geistern, die man nicht mehr los wird?

Ja, aber diese Geister heißen nicht Nigel Farage von UKIP oder Boris Johnson, das den Wilden spielende Elite-Kind, sondern Jeremy Corbyn und John Meynard Keynes.

Der Brexit kam überwiegend von unten. Doch politisch konnte er sich nicht als solcher klar artikulieren und wurde so von den reaktionären Tories missbraucht. Das gelang auch deswegen, weil New Labour keine Alternative geboten hatte. Doch das überwältigende Gefühl der Vielen nach Jahrzehnten des Neoliberalismus und seinen Verwüstungen – Großbritannien diente ja als Versuchskaninchen – ist, dass der „freie Markt“ endlich in die Schranken gewiesen werden muss. Selbst May, deren Tories einer historischen Niederlage entgegengehen und deren Eiserne Lady Thatcher das Flaggschiff des Neoliberalismus darstellgestellt hatte, muss das Ende der Austerität versprechen – aber nun ist es zu spät, keiner glaubt ihr mehr. Stattdessen ist Corbyn mit einem linkskeynesianischen Programm als konkrete Alternative aufgetaucht und elektrisiert die Massen.

Doch das Problem von Labour liegt beim blairistischen Apparat, der linken Deckung des Neoliberalismus. Neu Labour stellt den Kern der Kampagne für eine zweite Abstimmung. Nur mit äußerster Mühe konnte Corbyn seine politische Exekution verhindern, die aber weiterhin immer droht. Er und seine Basisbewegung, wovon Momentum nur der am besten organisierte Teil ist, sind im Labour-Apparat höchst umstritten und werden von einer gewichtigen Sektion bekämpft.

Diese Koexistenz ist ungesund, denn sie hindert Corbyn am People’s Brexit. Er muss ständig herumeiern und die Blair-Jünger mit Kompromissen in Schach halten. Die terroristische Verleumdungskampagne wegen seiner propalästinensischen Haltung, die ihm Antisemitismus vorwirft, ist nur ein Vorgeschmack darauf, welcher Sturm losbrechen könnte, wenn er die Wahlen gewinnen sollte. Nicht nur, dass die gesamte Presse sich gegen Corbyn stellte und stellen wird, sondern eben auch das Trojanische Pferd in Labour selbst.

Doch es gibt die konkrete Möglichkeit des People’s Brexit und paradoxerweise im Mutterland des europäischen Neoliberalismus. Der Austritt aus der EU macht die versprochenen Renationalisierungen, die Regulierungen, die öffentlichen Investitionen in allen Bereichen, die Wiederbelebung des Sozialstaates erst möglich. Corbyns Labour könnte ein solches Mandat erhalten, wenn er im Vorfeld nicht zu zu vielen Abstrichen gezwungen wird, auch in der Frage des Brexits.

Der Kampf wird sich nicht zwischen Labour und Tories abspielen, sondern innerhalb von Labour oder besser gesagt, das ganze alte System wird sich auf Corbyn stürzen. Und es wird ein schwerer Kampf, der vor allem von der Volksmobilisierung abhängt, denn England ist ein Zentrumsland des globalen Kapitalismus. Wenn sowas dort möglich ist, dann erst recht in mehr peripheren Ländern.

Eine weitere positive Folge eines People’s Brexit könnte die vollständige Entkolonisierung der geschundenen grünen Insel Irland sein.

Gelbwesten bringen „Präsident der Reichen“ in Bedrängnis

von Wilhelm Langthaler

Sozialer Protest des peripheren Frankreich wird zum politischen Revolte

[Bild: Macron raus – Lügner und Dieb – wir sind die 99% – Fuck the system – Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit]

In den vergangenen Wochen ist scheinbar aus dem Nichts eine Massenbewegung entstanden, die die tiefsitzende Unzufriedenheit der Bevölkerung zum Ausdruck bringt, sich aber über das traditionelle politische System nicht auszudrücken vermag. Anders gesagt, Macron verfügt zwar über eine enorme institutionelle Macht, aber sein Wahlerfolg war eine kurzfristige Medienblase, während der Hegemonieverlust der euroliberalen Eliten nachhaltig ist.

Anlass war eine geplante Steuererhöhung auf Diesel, die zu Straßenblockaden vor allem in der vernachlässigten Peripherie führten, während normalerweise immer die Zentren und Paris das Sagen haben.

Doch die Breite und Wucht der Bewegung wirkte wie ein Funke, der auch auf die Städte übersprang und praktisch die gesamten Unterklassen erfasst hat. Medien berichten von sensationellen Zustimmungswerten von über 80% der Bevölkerung.

Proteste gegen Erhöhung von Kraftstoffpreisen lassen auf der Linken berechtigterweise Fragen aufkommen. Wie sehr verkleiden sich hier Interessen von Frächtern und anderen Kleinunternehmen als Allgemeininteressen? Oder steht gar die individualistische Autoideologie der Rechten und der Industrie dahinter, die sich gegen den öffentlichen Verkehr und ökologische Eingriffe im Allgemeinen zur Wehr setzen? Wo bleiben die Interessen der unselbständigen Lohnempfänger? Waren nicht die Taxifahrer und Kleintransportunternehmer immer tendenziell der Rechten zugehörig?

Die Gelbwesten sind schon lange über die Frage der Spritpreise hinausgewachsen. Die Medien berichten über ihre Heterogenität und politische Führungslosigkeit. Interviews und Augenzeugen bringen eine große Wut auf die Eliten zum Ausdruck, gegen deren schamlose Bereicherung, während die einfache Bevölkerung in immer größere Schwierigkeiten gelangt. Macron selbst ist hervorragendes Symbol dieses Abgehobenheit und Arroganz. Forderungen nach höheren Löhnen und Pensionen, sowie ein Ende der Steuer- und Subventionsgeschenke an die Wohlhabenden werden erhoben. Zudem ist es ein Schrei der politisch Entmündigten nach mehr Demokratie, die über direkte Beteiligung und Referenden erreicht werden soll. All das wird in einer Forderung zusammengefasst: Macrons Rücktritt!

Die Reaktion der herrschenden Eliten, ihrer Medien und auch weiter Teile der institutionellen Linken war die Gelbwesten als rechte Bewegung zu denunzieren, die sich gegen ökologische Anliegen wenden würde. Die kommunistische Gewerkschaft CGT stellte ihnen die Rotwesten entgegen und verurteilt die Gewalt und selbst France Insoumise (FI) von Jean-Luc Mélenchon brauchte einige Zeit um ihre Unterstützung auszusprechen – jetzt dafür aber im vollen Umfang und ohne Paternalismus.

Während dessen stellte sich Marine Le Pen vom Rassemblement National, früher Front National, von Anfang an auf die Seite der „gilets jaunes“.

Doch die Bewegung selbst hat vielfach zum Ausdruck gebracht, dass sie keine Instrumentalisierung durch die etablierten politischen Kräfte wünscht, teils weil sie sich nicht repräsentiert fühlen, teils weil das der breiten Unterstützung Abbruch tun könnte.

Selbst die exzessive Repression durch Macrons Polizei auf den Champs-Élysées, dem Symbol der Macht der Eliten des vom Protest der einfachen Leute abgeschirmt werden sollte, hat der Bewegung offensichtlich nicht geschadet. Trotz des Sperrfeuers der Medien, die die Gewalt der Bewegung anlasten und sie damit diskreditieren wollen, machen die unteren Schichten die Regierung verantwortlich. Die harte Linie des Präsidenten erweist sich als ein Schuss nach hinten. Nun musste er die Notbremse ziehen und ein Steuermoratorium erklären, allerdings nur für sechs Monate bis nach den EU-Wahlen. Ob das ausreichen den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist fraglich.

Das wesentliche Charakteristikum der Gelbwesten ist, dass es ein umfassender und transversaler Protest der Unterklassen ist, ein sozialer Protest gegen die Eliten, der weder von der Linken aber auch nicht von der Rechten repräsentiert werden kann. Was die Rechte betrifft, so kanalisiert der FN seit Jahrzehnten politisch-kulturellen Unmut von unten auf chauvinistische Art und Weise, doch wirklichen sozialen Protest konnte und sollte er nie artikulieren. Dazu ist und bleibt er zu sehr mit dem Bürgertum verbunden. Die Tatsache, dass viele ihrer Anhänger von unten an den Protesten teilnehmen, ändern daran nicht.

Wahrscheinlich sind an der Basis viel mehr Aktivisten und Sympathisanten linker Bewegungen beteiligt, doch zeigt die große Distanz zur organisierten Linken eine Entfremdung an, obwohl die Linke im Gegensatz zur Rechten historischen nicht nur mit der Arbeiterschaft, sondern den unteren Schichten im Allgemeinen verbunden war.

Diese Entfremdung gilt für die linke Kultur, die mit gewissem Recht (aber auch einem Schuss Übertreibung) mit den Eliten verbunden wird. Denn es stimmt, dass die Eliten nach der Wende viele Elemente linker Ideologie und Kultur angenommen haben, ja oft die organisierte Linke adoptierten. Denn der kulturelle Schild des Konservativismus gegen die die Arbeiterklasse war nicht mehr nötig.

Aber auch im engeren politischen Sinn gibt die Linke keine Antwort. Die Sozialdemokratie ist sowieso verschwunden und hat in Macron ihren Endpunkt als in einem ultraliberalen Bonaparte gefunden. Die KP ist ihr Anhängsel, während die kommunistische Gewerkschaft CGT keine selbständige politische Rolle spielen will.

Und was ist mit FI von Mélenchon? Es ist zumindest eine Teilantwort, doch einerseits kann Mélenchon als Person als Abkömmling des alten Systems angesehen werden. Die Episode um die Hausdurchsuchung wegen Korruptionsverwürfen, gegen die er sich mit „La République c’est moi“ zur Wehr setzte, kann auch als typisch für die über dem Volk stehende Eliten interpretiert werden. Aber auch sein Unwillen konsequent gegen das von Euro/EU-Binnenmarkt repräsentierte neoliberale Regime vorzugehen andererseits. Seine politische Formation ist nicht fähig der Mehrheit des Volkes in seiner Diversität eine Plattform zu bieten, auch wenn sein eingeschlafener Ruf nach einer neuen verfassungsgebenden Versammlung in die richtige Richtung ging. Zugute muss man ihm halten, dass er als einer der ganz wenigen etablierten Linken sich von der Antiberlusconite befreien konnte. Gegen Le Pen rief er nicht für Macron auf und das kommt ihm heute zu gute. Aber ob er wirklich mit den Eliten zu brechen bereit ist, muss sich erst zeigen.

Die Bewegung der Gelbwesten ist jedenfalls eine riesige Chance. Sie hat sich den Sturz des Präsidenten zum Ziel gesetzt. Das ist eine sehr, sehr große Aufgabe, von der sie noch einigermaßen weit entfernt ist. Dazu müsste nicht nur der Straßenprotest verbreitert und radikalisiert werden, sondern er müsste wahrscheinlich auch auf die Betriebe mit einer Streikbewegung überbringen.

Jedoch bleibt die größte Hürde ist politisch. Hat initial die Ablehnung von etablierten politischen Parteien ihren Sinn und Zweck, so müsste sich das nun umdrehen. Es bedarf einer breiten politisch-sozialen Plattform für eine Regierung der Mehrheit, die mit dem euroliberalen Regime bricht und sich die Volkssouveränität im Anschluss an die Ziele der Französischen Revolution von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit auf die Fahnen schreibt. Die Forderung nach einer Konstituante könnte dabei auch eine wichtige Rolle spielen.

Doch selbst wenn ein kleiner Schritt in diese Richtung gemacht wird, wäre das ein großer Fortschritt.

Jedenfalls zeigen die Ereignisse in Frankreich wie tief nicht nur die soziale Krise der neoliberalen EU ist, sondern dass sie auch die politische Sphäre erreicht hat, von unten wie von oben. Die Beispiele sind bekannt: Diktat gegen Griechenland; Brexit; der Katalonienkonflikt, der durch die Austerität radikalisiert wurde; die Weigerung der italienischen Regierung sich der EU unterzuordnen usw.

 

Werden sie den Tsipras machen?

Interview mit Leonardo Mazzei, Exponent der „Patriotischen Linken“ und langjähriges Führungsmitglied von Rifondazione Comunista in der Toskana

von Wilhelm Langthaler

[Bild: Der Spiegel vom 27.1018, Kampfblatt des EU-Regimes]

Die EU-Kommission hat den italienischen Budgetentwurf als „präzedenzlose Abweichung “ vom „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ zurückgewiesen. Warum diese Härte?

Die “präzedenzlose Abweichung” ist eine offensichtliche Übertreibung. In den vergangenen vierzig Jahren gab es nur vier Jahre, in denen das Verhältnis Defizit/BIP unter 2,4% lag, so wie es die Regierung für 2019 vorgesehen hat. Die Ablehnung durch die EU-Kommission lässt sich nur politisch erklären. Man will gegen eine Regierung hart vorgehen, die zwar keinen entscheidenden Schwenk hin zu einer expansiven Politik verfolgt (wie es notwendig wäre), aber die zumindest die Richtung in Bezug auf die Austerität umdreht.

Die Regierung scheint auch ihrerseits hart zu bleiben. Ist eine Eskalation unvermeidlich?

Die Regierungsmehrheit kann sich keinen Rückzug erlauben. Das wäre ein politisches Desaster. Sie versucht konkrete Maßnahmen zu setzen – Verbesserung der Pensionen, Transfereinkommen für die ärmsten Schichten, Steuersenkungen – und dabei einen Frontalzusammenstoß mit der EU zu vermeiden. Aber diese Suche nach einem Kompromiss wurde in Brüssel nicht aufgenommen, im Gegenteil. Die Eskalation ist daher ein wahrscheinliches Szenario.

Bleibt nicht trotzdem noch Raum für einen Kompromiss? Premier Conte meinte, man könne einige kostspielige Ausgaben auf später verschieben. Ein paar Promille auf oder ab macht doch keinen großen Unterschied.

Theoretisch müsste ein Kompromiss immer möglich sein. Praktisch gesehen halte ich ihn für schwierig. Vor allem wenn das Haushaltsjahr einmal zu laufen beginnt, wird es gänzlich unrealistisch. Wenn das Budget so wie von der Regierung vorgeschlagen (der Text wurde noch nicht ans Parlament weitergeleitet) beschlossen wird, sehe ich nicht, wie die Regeln bezüglich Pensionen und Grundeinkommen nachträglich verändert werden könnten. Sicher, man kann an den Steuereinnahmen immer drehen, zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöhen, aber das ist sowohl für die Fünfsterne und noch mehr für die Lega ein unantastbares Tabu.

Könnte die italienische Position nicht auch ein Bluff sein um Zugeständnisse zu erwirken, so wie es damals Tsipras versuchte?

Es gibt in der Regierung sicher Kräfte, die in diese Richtung arbeiten. Und nicht nur die Leute von Präsident Mattarella, sondern auch Komponenten der zwei Regierungsparteien. Aber gegenwärtig handelt es sich um Minderheiten. Der wahre Einsatz sind nicht die Stellen hinter dem Komma der Defizitzahlen, sondern wer in Italien das Sagen hat: die Regierung, die die Mehrheit der Stimmen und Sitze hinter sich hat, oder die EU-Kommission mittels ihrer Diktate? Das wirkliche Thema ist die Souveränität. Deswegen erachte ich Ende à la Tsipras für wenig wahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte in diesem Kontext nur sehr vorübergehend sein.

Gibt es Anzeichen, dass die Regierung mit der Kündigung des Fiskalvertrags droht?

Formal nicht, aber es ist offensichtlich, dass genau das am Spiel steht. Außerdem weiß jeder, dass der Fiskalpakt, so wie er ist, unanwendbar ist.

Viele meinen, dass das Kabinett Conte auf einen harten Konflikt nicht vorbereitet ist. Was denken Sie?

Natürlich hat diese Regierung unzählige Schwächen, objektive und subjektive. Die subjektiven sind Ausdruck der Natur der populistischen Kräfte und ihrer inneren Widersprüche. Die objektiven leiten sich vom Faktum ab, dass die systemischen Kräfte, die der EU dienen, die entscheidenden Schalthebeln der Macht noch in der Hand halten: das Präsidentenamt, die Nationalbank, das Wirtschaftsministerium, praktisch die Gesamtheit des technokratischen Apparates (die Ministerien und nicht nur die), die Presse und die Medien in der überwiegenden Mehrzahl. Ein Problem der gegenwärtigen Regierungsmannschaft ist, dass sie zu viele Illusionen hat, sei es zum möglichen Wirtschaftswachstum oder zum Ausgang der kommenden EU-Wahlen. Illusionen, die zu einer gewissen Unterschätzung der konkreten Effekte der Brüsseler Kriegserklärung verleiten. Es scheint in diesem Rahmen unmöglich den Zusammenstoß durchzustehen. Aber sie hätten eine Waffe, auf die sie bisher noch nicht zurückgegriffen haben, nämlich die Mobilisierung des Volkes. Wenn der Konflikt eskaliert, kann er sich nicht nur auf die Paläste der Macht beschränken – und wenn doch, wäre die Niederlage ausgemachte Sache.

Die entscheidende Waffe der EU ist die EZB und die Kontrolle über das Geld. Weiß die Regierung sich zu verteidigen?

Wir sind nicht an der Regierung und man kann dazu keine sichere Aussage machen. Es ist klar, wenn wir wirklich zu diesen Punkt kommen würden, wäre die erste Antwort die Ausgabe einer Parallelwährung für den internen Zahlungsverkehr – eine ihrer Natur nach vorübergehende, aber trotzdem unausweichliche Maßnahme. Es zirkulieren einige Vorschläge in diese Richtung, unter anderen die Mini-Bot, die den Volkswirten der Lega sehr wichtig sind. Nachdem sie bei der Regierungsbildung so ausschweifend darüber schwadroniert haben, herrscht nun irreale Stille: der Terror des Spreads hat die Münder zugenäht. Aber alle wissen, wie die Dinge stehen und in der Regierung gibt es diesbezüglich sicher gewisse Kompetenzen. Die Frage ist nur, ob sie den politischen Mut aufbringen werden, jene Phase einzuleiten, die das Ende des Euros einläuten wird, zumindest in Italien.

Wie unabhängig ist die Banca d‘Italia von der Regierung? Wer ernennt die Zentralbank-Führung?

Wie immer wieder erklärt, ist das Prinzip der sogenannten Unabhängigkeit der Nationalbank ein zentraler Bestandteil der Ideologie und Politik des Neoliberalismus. In Italien wird dieses Prinzip seit 1981 angewandt, als es zur Scheidung zwischen Banca d’Italia und Finanzministerium kam. Hier begann der Boom des Staatsdefizits, das so in die Hände der globalen Finanzmärkte gelegt wurde. Heute schreibt das Statut der EZB den nationalen Zentralbanken vor, dass sie keinen politischen Anweisungen von staatlichen Organen Folge leisten dürfen. Der Vorstand der Nationalbank aus 13 Mitgliedern wird von den Anteilseignern gewählt, also Banken und Versicherungen mit Sitz in Italien. Dieser Vorstand kann seine Meinung zur Nominierung des Gouverneurs ausdrücken, der vom Präsidenten des Ministerrats [Regierungschef] vorgeschlagen und vom Staatspräsidenten bestimmt wird.

Gefährdet der drohende “Terror des Spreads” die breite Unterstützung der Regierung im Volk?

Die Gewalt der Waffe des Spreads ist sehr groß, vor allem entfaltet sich seine Wirkung durch die exzessive Verwendung in den Medien. Das zu unterschätzen wäre ein schwerer Fehler. Tatsächlich handelt es sich um das einzige Werkzeug in der Hand der Eliten, das geeignet ist, die Unterstützung der Regierung durch das Volk zu untergraben. Dennoch, wenn man täglich die Katastrophe herbeischreibt und diese nicht eintritt – wie es beispielsweise 2011 der Fall war –, verbreitet sich die Wahrheit über die politische Nutzung des Spreads. Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Wenn in Brüssel und Frankfurt entschieden wird den Spread einzusetzen, dann bedarf es schneller und entschiedener Maßnahmen, um den sozialen Block, der die Regierung trägt, zusammenzuhalten.

Welche legal-technische Form könnte ein Euro-Austritt annehmen? Welche Schritte wären formal notwendig? Kann Mattarella das verhindern?

Dazu gebe es viel zu sagen, doch ist klar, dass, wenn die EZB die Liquiditätsversorgung zudreht, wenn die Banken durch die Entwertung der Staatspapiere und die Regularien der Bankenunion an den Rand des Abgrunds gedrängt werden, ein Ausnahmezustand eintritt. Theoretisch könnte der Austritt mit der Eurozone abgesprochen werden, doch praktisch ist das kaum möglich. In einer solchen Ausnahmesituation kann niemand Italien daran hindern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um seine Wirtschaft zu sichern, unter diesen die Einführung einer Parallelwährung und die Verstaatlichung des Bankensystems. Alles Dinge, die für die EU inakzeptabel sind. An diesem Punkt wird nichts anderes bleiben, als den Austritt aus dem Euro zu formalisieren. Und was Mattarella betrifft, so kann er tatsächlich die Unterschrift unter diese Rechtsakte verweigern. Doch das würde einen fast unlösbaren Machtkampf mit dem Parlament hervorrufen. Im entscheidenden Moment – wie man auch bei der Krise im Zuge der Regierungsbildung Ende Mai gesehen hat – muss eine Seite nachgeben, diesmal jedoch ohne die Möglichkeit eines Kompromisses.

Wie läuft in Italien die Auktion von Staatsanleihen ab?

Für die Auktionen gibt es diverse Modalitäten. Für die wichtigsten Titel, also Langläufer von mehr als einem Jahr (vor allem BTPs), gilt ein absurdes System, das die Käufer bevorzugt. Der Preis (d.h. der Zinssatz) wird durch das tiefste, also für den Staat ungünstigste Angebot bestimmt. Dieser Modus erlaubt den Banken Absprachen und unterscheidet sich von den anderen europäischen Ländern und auch von Deutschland. Es ist die Konsequenz der europäischen und nationalen Normen, die der Banca d’Italia verbieten, die Schulden zu monetisieren und als Käufer letzter Instanz zu fungieren.

Ist es denkbar, dass Italien aus dem Euro austritt aber in der EU bleibt?

Juristisch gesehen wäre das möglich, politisch hat das aber keinen Sinn. Das umso mehr, als ein solcher Bruch alle Sicherheiten über die Zukunft der Union zerstören würde. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten suchen muss. Aber alles zu seiner Zeit.

Sie haben immer von einer Drei-Parteien-Koalition gesprochen. Welche politische Form könnte ein Austritt annehmen, wenn man bedenkt, dass diese dritte Partei auch in den Koalitionsparteien selbst vertreten ist?

Hier stoßen wir ins Reich des Unbekannten vor. Allgemein gesprochen haben wir für einen solchen Bruch nicht die geeignetste Regierung. Es ist klar, dass die philo-europäische Mattarella-Gruppe nicht an ihrem Platz bleiben kann, wenn der Moment der Entscheidung da ist. Auf der anderen Seite sieht man am Brexit, wie historische Prozesse widersprüchlich verlaufen können, manchmal sogar den Fähigkeiten und Wünschen der Handelnden zum Trotz, die sogar die Rolle der Protagonisten spielen. Wir halten eine Art neues CLN (Komitee der Nationalen Befreiung), das die politische Führung des Widerstands gegen den Nazi-Faschismus innehatte, für notwendig. Ein Bündnis, sei es auch nur temporär, das alle demokratischen Kräfte, die von der Notwendigkeit der Befreiung unseres Landes vom Euro-Regime überzeugt sind, vereinigt.

Sie sind von der „Patriotischen Linken“. Welche Rolle könnte diese spielen?

Leider hat der Großteil der linken Kräfte die Frage der nationalen Souveränität aufgegeben. So wurde das Feld einem Rechtspopulismus (der Lega) sowie einem im Kern linken aber oft konfusen Populismus (Fünfsterne) überlassen. Glücklicherweise beginnt sich in gewissen linken Milieus endlich ein linker Patriotismus, der dem nationalistischen Chauvinismus entgegengesetzt ist, Bahn zu brechen. Aber das reicht noch nicht und die Zeit drängt. Die Stärkung der Patriotischen Linken und seine Positionierung auf Seiten der Populisten ist der einzige Weg, dass der Prozess des Bruchs mit der EU unter demokratischen Vorzeichen und zugunsten der Mehrheit und insbesondere der unteren Schichten der Bevölkerung verläuft. Das populistische Regierungsbündnis ist nicht ehern, sondern muss auf den Druck von unten reagieren. Der soziale Block, der es unterstützt, ist der Unsere: vereinfacht gesagt, jene, die von der Krise am meisten betroffen sind. Es gibt unzählige Schwierigkeiten aber es gibt keinen anderen Weg für eine Linke, die sich des historischen Einsatzes bewusst ist.

 

Das Interview erschien zuerst in leicht gekürzter Form auf makroskop.eu

Brexit-Vertrag?

von Rainer F. Brunath

Mit dem Brexit-Verhandlungsergebnis zwischen EU und Großbritannien haben die EU-Eliten dem politischen London gezeigt, was eine Harke ist. Dafür trat Dominic Raab, der britische Brexit-Minister von seinem Amt zurück. Er sah seine Anwesenheit im Amt für überflüssig an, denn er wurde nicht zu den Verhandlungen geschickt, sondern die Vertraute der Premierministerin.

Man fragt sich, warum Theresa May so standfest bei ihrer Linie, den Brexit durchzusetzen, geblieben ist, obwohl scheinbar in der Bevölkerung die Zustimmung zum Festhalten an der EU-Mitgliedschaft wieder gewachsen scheint. Warum hat sie nicht ein zweites Referendum angesetzt, wie das so üblich ist in bürgerlichen Demokratien: es wird so lange abgestimmt, bis das Ergebnis wie gewünscht ausfällt. Beispiel dafür ist Irland, aber auch Dänemark. Es muss also etwas viel gewichtigeres sein, als das, was die Medien vermitteln.

Winston Churchill sagte einst: „Wir Briten haben unsere eigenen Träume“ Margaret Thatcher fauchte der EU-Ministerrunde in Fontainebleau entgegen: „Wir haben den Staat nicht deshalb erfolgreich zurückgedrängt, um ihn auf europäischer Ebene wieder errichtet zu sehen.“

Ist hinter diesen Aussagen die Antwort zu finden, warum ein halber Brexit besser sein soll als gar keiner? Geht man nochmals in die junge Vergangenheit und hören Margret Thatcher zu, als sie vor dem Beirat der britischen Juden eine Rede hielt und sinngemäß sagte: „die deutsche Vereinigung weckt bittere Erinnerungen an die Vergangenheit. Ich bin überzeugt, wie viele meiner Landsleute, dass es ungerecht ist, dass Deutschland wirtschaftlich so stark wird. Und eine Vereinigung des ehemaligen Kriegsgegners würde zu einem von Deutschland beherrschten Europa führen.“

Die Eliten, der Geldadel, die potenten Kapitalgruppen und nicht zuletzt die Waffenschmieden waren mit Margret Thatcher einig und auch jetzt stehen sie beratend hinter Theresa May. Diese Eliten wollen und werden sich nicht einem Europa-Hegmon unterordnen, der Deutschland heißt. Ist das verwunderlich für die Eliten der Insel, die über 300 Jahre eine Weltmacht war und immer noch über wirtschaftliche Resourcen verfügt, die eine EU nicht hat? So gesehen hat man die Mitgliedschaft in der EU gar nicht nötig. Der einzige Grund, warum diese Eliten die 40 Jahre in der EU hingenommen hatten, war der Wunsch, die eigene Bevölkerung ruhig zu stellen, zu korrumpieren mit einer wirtschaftlichen Entwicklung die den eigenen Reichtum nicht antastet, um verbreitete Armut in den Midlands zu mildern. Und das hat nicht funktioniert. Nun wollen diese Eliten die einmalige Chance für den Exit nicht verstreichen lassen. Deshalb gibt es kein zweites Referendum.

Der halbe Brexit aber, den Theresa May ausgekungelt hat, würde teuer werden: die EU-Herren (und Damen) haben den Brexit in ein kompliziertes Vertragswerk gepackt, das Britannien, ohne Schaden zu nehmen, nicht verlassen kann. Die Gefahr wird von vielen Konservativen in London auch gesehen und schon kursierten Unterschriftenlisten für ein Misstrauensvotum gegen May. Und die Brexit-freundliche Presse, zugleich die rechte Presse, trommelt gegen den Vertrag.

Nun soll der Trennungsvertrag im Dezember vom Unterhaus beschlossen werden. Dessen Annahme ist aber fraglich: die Nordirischen Unionisten, mit denen die Premierministerin regiert, lehnen bisher ab. Die Labour ist gespalten, denn es sitzen immer noch üble Kapitulanten von Typ Tony Blair im Unterhaus. Aber wahrscheinlich werden sie es kaum wagen, Frau May zu unterstützen um eine Neuwahl zu vermeiden.

Wie sieht nun das keineswegs großartige Verhandlungsergebnis aus? Antwort: es bleibt alles beim alten. Auch künftig wird es keine Zölle geben und Britannien unterwirft sich den Regeln des Binnenmarktes, die von der EU überwacht werden.

Das ist die Sicht von außen. Und jene von innen? Britanniens bisheriges Mitspracherecht über die Binnenmarktregeln, die in vielen Gremien ausgehandelt werden, gibt es nicht mehr. Dafür darf Britannien solche Regeln mit EU-Staaten bilateral aushandeln. Und: Freihandel mit Nicht-EU-Staaten wird nicht erlaubt. Jedoch solange nicht, bis ein vollständiger Austritt aus der EU erklärt und ein neues, eigenes Freihandelsabkommen mit der EU ausgehandelt worden ist. Und warum ist das so? Weil Nordirland im EU-Binnenmarkt verbleiben soll, um dort eine harte Grenze zu Irland zu vermeiden. Käme es dazu, bestünde die Gefahr, dass die alten Rivalitäten in Nordirland wieder aufbrechen.

Und London? Dortige Banken hätten nach dem Abkommen nicht mehr die Freiheit in allen EU-Ländern Bankgeschäfte abzuschließen. Die kontinentalen Bankzentren freuen sich schon, dass dort Tochterunternehmen der Londoner Banken eröffnet werden. Diese Frage ist aber noch offen. Es könnte auch sein, dass Großkonzerne vom Kontinent und den USA ein Finanzstandort London durchsetzen.

In der EU (Berlin, Paris) ist man zufrieden. Der Freihandel und der freie Fluss des Kapitals geht bis auf weiteres weiter wie gehabt. Und die EU hat ein Zeichen gesetzt: Achtung an alle die mit dem Gedanken eines Austritts spielen, denn der Ertrag wird minimal sein. Und man wird einen Packen an Problemen aufgehalst bekommen, die es quasi unmöglich machen, den ökonomischen Status quo zu halten.

Eigene Regelungen (Lexit), die nichts zu tun haben mit den Kapitalfreiheiten des EU-Binnenmarktes muss von den Arbeitern Britanniens erstritten werden, denn mit dem jetzt ausgehandelten Diktat ist ihnen nicht gedient.

Lapavitsas in Kassel gegen Euro und EU

Hier eine Youtube-Aufnahme des Diskussionsbeitrags am Europa-Kongress von Attac in Kassel am 5.10.2018.

Der griechisch-britische Volkswirt und ehemaliger Syriza-Parlamentarier erklärt, dass eine progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik nur mittels Bruch mit dem neoliberalen Regime der Währungsunion und dem EU-Binnenmarkt möglich ist. Daher spricht er sich auch für den Brexit aus, den er als im Interesse der Arbeiterschaft ansieht.

Italien: droht Absetzung der Regierung durch Präsidenten?

Die traditionell herrschende Elite in Italien sucht gemeinsam mit Brüssel und Berlin nach einem Weg, die aufsässige Regierung aus Lega und Fünfsternen gefügig zu machen oder zu stürzen.

Wir fragen Leonardo Mazzei vom “Movimento Populare per Liberazione” (MPL), der das Projekt der „Patriotischen Linken“ betreibt, ob ein solcher Palaststreich denkbar ist. Albert F.Reiterer setzt nach.

[Bild: Republikspräsident Sergio Mattarella]

Tatsächlich hat der italienische Präsident mehr Macht als es scheint. Dennoch existieren die politischen Bedingungen für einen „Verfassungsputsch“, wie 2011 unter der Führung von Monti geschehen, heute nicht.

Klar ist, dass die Eliten keine Neuwahlen anstreben, sondern die Mehrheitsverhältnisse im bestehenden Parlament verschieben wollen.

Ein Teil der Lega, angeführt von Giorgetti, versucht die Regierung zu sabotieren, um die Allianz mit Berlusconi wiederzubeleben.

Doch um eine andere Mehrheit zu bilden, bedarf es einiger Dutzend Parlamentarier, die man nach Medienberichten in den Reihen der M5S zu finden versucht.

Aber das ist aus zwei Gründen unrealistisch: Einerseits ist das eine sehr große Zahl, andererseits weil der Premier Salvini wäre. Wenn der Zweck der Operation die Beruhigung von Brüssel ist, dann wäre damit nichts gewonnen. Es sei denn, dass Salvini sich beugen würde, was sein politischen Ende bedeutete – das wird er nicht so einfach machen.

Technisch-juristisch gesprochen hat der Staatspräsident jederzeit die Möglichkeit die Parlamentskammern aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Aber das hat noch kein Präsident vor ihm gemacht, zumal er ja mit Sicherheit über keine parlamentarische Mehrheit verfügt.

Die Regierung zu entlassen liegt jedoch nicht in seiner Macht. Aber bei der Regierungsbildung kann er nominieren wie man im Mai beim „Fall Savona“ gesehen hat. Zudem setzt er die vom Parlament beschlossenen Gesetze in Kraft.

Theoretisch könnte Mattarella dem Budgetgesetz die Unterschrift verweigern und an die Parlamentskammern zurückweisen. Das würde einen fast unlösbaren institutionellen Konflikt provozieren. Das scheint für die Eliten in diesem Moment nicht günstig. Aber wenn sich die Regierung hält und der Konflikt mit der EU vertieft, kann ein solches Szenario nicht ausgeschlossen werden.

Was die andere Seite, die gegenwärtige parlamentarische Mehrheit betrifft, gibt es nur eine einzige Möglichkeit der Absetzung des Präsidenten der Republik, nämlich ein Amtsenthebungsverfahren wegen „Hochverrat“ oder „Anschlag auf die Verfassung“. Im Mai, als er die Regierung nicht akzeptierte und andere Minister diktierte, hätte sich so eine Möglichkeit eröffnen können und Di Maio hat sie sogar angekündigt. Doch dann fand sich doch ein Kompromiss, der zur Formierung des Kabinetts Conte führte.

Gegenwärtig herrscht große Unklarheit. Es gibt starke Spannungen zwischen den Regierungsparteien und auch innerhalt ihrer. Aber auch für Mattarella stehen die Dinge nicht einfach, denn es ist von einer parlamentarischen Mehrheit sehr weit entfernt. Der Weg zu Neuwahlen würde für die Eliten zum Eigentor werden. Bleibt also nur das Navigieren auf Sicht.

Auf der anderen Seite kann die Regierung nicht so weitermachen und muss eine andere Gangart einlegen. Denn Brüssel will Italien isolieren und verweigert den Kompromiss.

Wir befinden uns an einem historischen Schnittpunkt, aber mit einer politischen Klasse, die dafür völlig ungeeignet ist.

Wenn die Regierung die nächsten Wochen überlebt, ist eine Umbildung und der Austausch mehrerer Minister möglich auf Basis der gleichen Koalition zu erwarten (jedenfalls spätestens nach den EU-Wahlen).

 

Anmerkungen von Albert F. Reiterer

Den Verfassungs-Putsch haben die Italiener ja schon hinter sich. Eines der Hauptargumente der Demokraten und auch des Mattarella gegen die derzeitige Politik ist der Verweis auf die geänderten Artikel der Verfassung (Art. 81 und ff.), wo sie 2012 mit ihrer manipulierten Mehrheit und Berlusconis Hilfe das festgeschrieben haben, was von EU und den politischen Klassen die „Schuldenbremse“ genannt wird. Das ist der eine Punkt.

Der zweite: Ein Absetzungsverfahren gegen den Präsidenten hat nicht die geringste Chance. Über die Absetzung entscheidet nicht das Parlament, sondern ein Richtergremium. Und eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Aber: Sie fürchten ein parlamentarisches Verfahren trotzdem. „Il presidente non si tocca!“ Und da gehen die Pseudo-Linken z. B. von „manifesto“ voll mit. Aber auch in der Regierung selbst schlägt dies ein. Als Beppo Grillo Mitte Oktober nur die Einschränkung der präsidialen Vollmachten ansprach, beeilte sich Conte sofort, abzuwiegeln: „Das steht nicht im Regierungs-Übereinkommen.“

Es ist eher die Intransigenz der EU-Leute: der Kommission und auch des Rats. Denn die sind offenbar der Meinung, sie könnten die Auseinandersetzung ohne weiteres gewinnen und treiben sie daher weiter und wahrscheinlich auf die Spitze. Das wird sich die Regierung in Rom aber nicht bieten lassen, können sie schon aus wahltaktischen Gründen nicht. Gegen dieses Verfahren hätten sie, wenn sie nur wollten, eine einfache Waffe: Sie bräuchten bloß die Arbeit des Rats in allen sonstigen Angelegenheiten blockieren.

DIE SOZIALDEMOKRATIE UND DER „POPULISMUS“: „Moderne“ und „Postmoderne“

Die SPD ist am Zusammenbrechen. In den letzten Jahren haben die Arbeiter sie bereits verlassen. Nun finden sie auch die verbliebenen Mittelschichten nicht mehr attraktiv. Die oberen Unterschichten folgen den Arbeitern, die Beamten und die mittleren Angestellten finden die Grünen nun viel eher sexy – das ist ja der beliebte Ausdruck dieser Bobos – sogar in Bayern. Die einen gehen zur AfD, die anderen wechseln in Massen zu den Grünen.

Die Bayernwahl war dafür ein Kanonenschuss. Hessen folgte. Als neue Zentrumspartei setzen sich im Moment die Grünen durch. In Bayern und in der BRD überhaupt sind sie am ehesten Liberal-Konservative. Für die SPD bleibt keine wirkliche Rolle mehr übrig. Sie ist ein Reste-Reservoir für ehemalige nostalgische Stammwähler, eine Spezies, die immer schneller ausstirbt.

Doch das ist keineswegs eine deutsche Erscheinung. In Luxemburg fanden am gleichen Tag Wahlen statt. Im Steuerparadies Westeuropas par excellence brachen die Sozialdemokraten zusammen, die dort ohnehin keine besondere Rolle gespielt hatten. Der „Merde“-Außenmini­ster Asselborn wird sich vielleicht einen neuen Job suchen müssen. Die Krise der Sozial­demokratie ist eine gesamteuropäische Erscheinung. Aber das ist kein Automatismus.

Die Sozialdemokratie wird jetzt das Opfer ihrer eigenen Strategie. Diese Parteien haben ab den 1960er Jahren, die einen früher, die anderen später, darauf gesetzt, dass sie ihre proleta­risch-plebeische Basis behalten, auch wenn sie politisch-sozioökonomisch zur eigentlichen technokratischen Vertretung der mittleren und oberen Mittelschichten werden. Das hat einige Jahrzehnte tatsächlich funktioniert. Der bekannteste Vertreter dieser Strategie war Bruno Kreisky.

Aber nun verliert sie auf beiden Seiten ihre Gefolgschaft. Die Plebeier laufen ihr seit zwei Jahrzehnten davon, erst langsam, jetzt aber in Scharen. Sie sind inzwischen weitgehend bei den Rechtspopulisten zu Hause.

Aber auch die Mittelschichten scheinen nun eine neue Heimat zu suchen und zu finden. In der BRD besteht die in oder bei den Grünen. Den Mittelschichten ist die SPD zu unsicher gewor­den. Beim halbherzigen Versuch, die Unterschichten doch noch zu halten, geht die SPD für den Geschmack dieser Schichten zu sehr auf die Wünsche der Plebeier ein: in der Migrations­frage; bei den Pensionen; in der Einkommens-Politik. Die städtische Schickeria, die Bobos, haben andere Identitäten und andere materielle Interessen. Und die SPD steht, wie die SPF, wie die italienischen Demokraten, wie der Psoe, vor dem Zusammenbruch.

Von Österreich müssen wir hier nicht sprechen. Hier gibt es durch die Parteikrise der Grünen eine gewisse Verzögerung. Die SPÖ arbeitet aber tatkräftig daran, ihren Untergang auch hier wieder zu beschleunigen…

In diesem Sinn ist die taktische Empfehlung sogenannter „Linker“ in der SPD (oder auch der SPÖ), sich wieder „stärker“ (!) auf die Unterschichten zu orientieren, zum Scheitern verur­teilt. Der Hinweis auf Corbyn und Sanders übersieht, dass diese Strömungen in der Opposi­tion sind. Corbyn wird ganz schnell entzaubert sein, sollte Labour die Regierung stellen. Denn dann würde er sich schnell der Mehrheit seiner Abgeordneten beugen und zu einem verwässerten Blairismus zurückkehren. Man sehe sich nur sein Lavieren zum Brexit an! Sogar jetzt darf er nicht sagen, dass ein sinnvoll durchgeführter Brexit die einzige sinnvolle linke Politik ist – obwohl er dies vielleicht sogar meint.

Doch das ist vielleicht ein bisschen oberflächlich, zu journalistisch. Denn in Wirklichkeit hat sich seit 50 Jahren die Sozialstruktur geändert; geändert hat sich die soziale Mentalität, die soziale Identität; und es steht das ganze bisherige Parlamentarismus-Modell vor einer Krise.

Beginnen wir ziemlich grundsätzlich.

Im Jahr 1800 beherbergte die Welt etwa 1 Milliarde Menschen. Im Jahr 1950 waren es 2,5 Mrd. und nun, 2018, kann man diese Zahl gut verdreifachen. Es werden etwa 7,6 Mrd. sein. Die Frage nach den Ressourcen kann man also mit Grund stellen.

Bereits vor gut zwei Jahrhunderten antworteten darauf konservative Kritiker der Entwicklung mit Ängsten. Sie sahen ihren Standard und ihre Stellung gefährdet. 1798 brachte Malthus sein Buch über das „Bevölkerungsgesetzt“ heraus. Die Erde kann so viele Menschen nicht ernäh­ren! Aber obwohl der Malthusianismus stets eine durchaus sichtbare Unterströmung blieb, war doch sein realer Einfluss sehr begrenzt. Der Beginn des modernen Wachstums wischte die konservative Kulturkritik im Gewand der demographischen Pseudo-Kritik vom Tisch. Zum eigentlichen Träger des optimistischen und grenzenlosen Entwicklungs-Potenzials wur­de im 20. Jahrhundert die Sozialdemokratie, mehr noch als die revolutionäre Strömung der Arbeiter-Bewegung. Insbesondere in der Zweiten Nachkriegszeit mit dem scheinbar unbrems­baren Wachstumsschub war sie die Partei des grenzenlosen Fortschritts.

Das währte ein Vierteljahrhundert. Aber bereits Ende der 1960er begann sich die Stimmung in Teilen der Gesellschaft zu wandeln. Die neue Richtung hieß nun: Die Ressourcen sind begrenzt. Diese Erkenntnis wurde sofort fetischisiert: Der Club of Rome veröffentlichte 1972 seine berühmt – berüchtigte Studie, kennzeichnender Weise von mainstream-Ökonomen (das Ehepaar Meadows). Dementsprechend war das Ergebnis. Der sich andeutende Wachstums­bruch wurde hier zur physikalischen Notwendigkeit umgedeutet. Der alte Malthusianismus feierte fröhliche Urständ. Die sich nun wieder durchsetzende Umverteilungs-Politik nach Oben wurde damit zur Naturnotwendigkeit. Die öko-soziale Postmoderne war geboren. Poli­tisch nahmen bald die ersten Kerne der Grünen das Banner auf. Die Partei der Postmoderne war geboren, von vorneherein eine Partei der oberen Mittelschichten, aber vorerst deren jüngerer Generation. Die konnte sich den Luxus erlauben, eine „linke“ Sprache zu sprechen.

Die Sozialdemokratie aber gelangte erst in diesen Jahren in den westeuropäischen Ländern zu ihrer Stellung als bestimmende Regierungspartei. Die Partei der Moderne übernahm die Ver­waltung des Systems, als die Moderne langsam in die Krise zu rutschen begann. Die reformi­stische Arbeiter-Partei begann die Regierung zu führen, als die traditionalen Arbeiter erst langsam und dann immer schneller ihre zahlenmäßige Dominanz zu verlieren begann und in eine mehrfache Minderheiten-Situation rutschten, sozio-ökonomisch, vor allem aber auch kulturell und politisch. Die Sozialdemokratie nahm dies erst nicht ernst, blieb sie doch in Wahlen noch erfolgreich, bis in die Mitte der 1980er. Sie reagierte opportunistisch, in zunehmendem Ausmaß aber dann hilflos.

Hier setzt nun die zweite, im engen Sinn politische Entwicklung ein.

Viele Politikwissenschaftler werden wohl die aktuellen Wahlergebnisse wieder als ein Zei­chen einer „Krise der repräsentativen Demokratie“ ansprechen. Dieser journalistisch-ideologi­sche Stehsatz verrät pures Unverständnis. In der Bayernwahl stieg die Wahlbeteiligung auf 72 % der Stimmberechtigten – ein Wert, der das letzte Mal vor einigen Jahrzehnten erreicht wur­de. Ist das eine Krise der repräsentativen Demokratie? Kann die repräsentative Demokratie in einer modernen Gesellschaft überhaupt in der Krise sein?

In der Krise ist allerdings das bisherige Modell der Realdemokratie mit einer Parteienland­schaft, in welcher die bisher führenden Parteien es sich zur Ehre anrechnen, möglichst über die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung hinwegzufahren; deren Demokratie-Verständ­nis es war, dass die Stimmen „abgegeben“ wurden: Man darf bei einer Wahl für eine Partei stimmen – aber dann soll man den Mund halten, denn die politischen Eliten wissen es schließlich besser. Die Eliten entscheiden, das Volk hat zu nicken.

Diese Art der Demokratie ist tatsächlich in einer tödlichen Krise. Das begrüßen wir.

Hier müssen wir fürs Erste einmal abbrechen. Denn das muss in aller Ausführlichkeit debat­tiert werden. Worum es ginge, wäre: Wir müssen das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung diskutieren und in einer neuen Weise definieren. Das ist schließlich das zentrale Problem der Repräsentation und ihrer Funktion in der Entwicklung zur Demokratie. Es kann und wird nie endgültig zu lösen sein. Denn das ist immer ein Prozess von Versuch und Irrtum. Es geht um die Frage der Kontrolle. Jede politische Bewegung muss eine intellektuelle Sprechergruppe haben. Das gilt erst recht, wenn es sich bei der Basis um Unterschichten handelt. Aber wie kommt diese Gruppe zustande? In aller Regel rekrutiert sie sich selbst und wählt sich „ihre“ Bewegung aus. Die Frage stellt sich nach ihrer Funktion und ihrer Stellung in der Partei. Bisher hat sich diese intellektuelle Gruppe stets verselbständigt und die Führung in ihrem (Klassen-) Sinn über­nommen. Damit stellt sich die entscheidende Frage: Welche Strategie verfolgen diese Intel­lektuellen?

Die Erkenntnis, dass die Arbeiterklasse Trägerin des historischen Fortschritts sei, heißt noch lange nicht, dass die intellektuellen Sprecher auch die Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Das galt für die klassische Sozialdemokratie. Robert Michels hat dies gesehen. Seine Diagno­se war auch nicht völlig falsch: die Tendenz zur Oligarchie. Sie war allerdings defekt – doch wollen wir hier nicht auf diesen Punkt eingehen. In seiner Verzweiflung hat er die Hoffnung aufgegeben und wurde zum Eliten-Theoretiker und Faschisten.

Aber verselbständigt hat sich auch die intellektuelle Führungsgruppe der Bolschewiki. Lenin war ein Intellektueller reinsten Wassers. Als solcher hat er die politische Kontrolle seitens der Basis nicht ertragen und abgelehnt. Die revolutionäre Strategie war eine Entscheidung dieser Führungsgruppe. Doch auch die Entscheidung für das Vorgehen gegen die plebeisch-proleta­rische Rebellion der Matrosen von Kronstadt war eine Entscheidung dieser Gruppe, die nun an der Macht war. Das Ergebnis kennen wir.

Man könnte sagen: In einer Sicht der langen Dauer geht nun die erste Phase der parlamenta­risch-repräsentativen Demokratie in Moderne und Postmoderne zu Ende, und zwar inzwi­schen mit ziemlicher Beschleunigung. Sie hat der Bevölkerung, auch den Unterschichten, Einiges gebracht. Aber nun wurde sie in ihrer bürokratisch-imperialen Wende endgültig reaktionär. Eine neue Form der Repräsentation muss erst noch gefunden werden.

AFR, 7. November 2018