Schicksalswahl Hessen?

von Thomas Zmrzly

Wenige Stunden vor der hessischen Entscheidung! Schicksalswahl für Merkel und Nahles oder doch nur Stühlerücken inmitten von Trumpismus, Euro-Krise und dem Hoffen auf Stabilität!

Nun wird medial schon einmal die morgige Wahl in Hessen zum Schicksalstag der GroKo in Berlin und insbesondere der beiden Parteivorsitzenden Angela Merkel (CDU) und Andrea Nahles (SPD) erklärt. Und ganz falsch scheint dies auch nicht zu sein, denn bei einem Verlust der hessischen Landesregierung durch die CDU (Ministerpräident Volker Bouffier) würde dies im Gegensatz zum Wahlergebnis in Bayern einen Merkeltreuen treffen. Das wäre nicht ohne Konsequenzen für die Kanzlerin. Andererseits wer soll denn bitte schön die Kanzlerin ersetzen? Nun ein Putsch wäre immer möglich, und putschartige Umstürze in den deutschen bürgerlichen Parteien sind ja der Regel und nicht der Ausnahmefall. Trotzdem haben schon einige Medien dieses Szenario durchexerziert und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es dazu eines eigenen Programms und geeigneten Personals bedürfe. Ergebnis: Na ja, was sich alle aufmerksamen Beobachter*innen schon vorher dachten. Weder inhaltlich noch personell bietet sich jemand wirklich an! Und bei der SPD ist die Sache noch vertrackter! Thorsten Schäfer-Gümbel (TSG) ist sozialdemokratisches Urgestein aus Hessen und macht nach allen Berichten nach ein „erfolgreichen“ sozialdemokratischen Wahlkampf gegen den Bundestrend. Sollte er also wirklich die SPD in Hessen unter 20% führen, so wäre die Krise der SPD tatsächlich grundsätzlich im Innern der Partei angekommen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende in NRW Kutschaty (wichtigster Landesverband der SPD) wird in Interviews schon zitiert mit den Worten, dass frühere Unterstützer der GroKo dies nun bereits nicht mehr wären, und ein spätestens Anfang des kommenden Jahres stattfindender Parteitag über die Bilanz in der Partei in der Groko neu über dieselbige und die Teilnahme der SPD hieran entscheiden müsse. Nebenschauplatz: Die TAZ empfiehlt der SPD eine Linkswende in der Sozialpolitik und eine Rechtswende in der Migrationsfrage mit Bezug auf den geschassten SPD-Strategen Niels Heisterhagen. Aber auch bei den linksliberalen Pro-Atlantikern wird klar, dass es keine oder noch keine „alternative“ Strategie, geschweige denn politisches Personal dafür gibt. Und? Die mediale Kampagne „Schicksalswahl“ könnte dazu führen, dass sich ehemalige – oder noch CDU- und SPD-Wähler dazu veranlasst sehen doch noch für „Stabilität“ zu stimmen, und beide Parteien weniger abzustrafen, als sich in den Wahlumfragen bisher abgezeichnet hat.

Und die AfD?

In den bundespolitischen Diskussionen spielt sie sogar noch mehr als bei der Bayernwahl gar keine Rolle. In den Umfragen steht sie zwischen 12 und 13%. Dass sie eher am unteren Rand der Prognosen landen wird, legt das Ergebnis aus Bayern nahe, wo sie zuletzt bei 10–14 bei Wahlumfragen gehandelt wurde, um dann mit 10,2% zu landen.

Die FDP und DIE LINKE werden beide bei 8% gehandelt. Die FDP die lange Zeit bei 6–7 dümpelte wird am meisten vom negativen bundespolitischen Trend der CDU profitieren und versuchen so eine rein rechnerische Mitte-Links-Regierung aus SPD/GRÜNEN/LINKEN zu verhindern.

DIE LINKE steht seit Monaten schon konstant bei ihrem Umfrageergebnis und wäre, wenn sie denn so um 7% und mehr einfahren würde ein Riesenerfolg, der mit Bezug auf die Bundespartei gegen die allgemeine Entwicklung stünde! Ein Landesverband im Westen der Republik, der recht kontinuierlich an seiner grundsätzlichen Ausrichtung festhält und sich vor 5 Jahren erfolgreich einer rot-grünen Umklammerung des progressiven Neoliberalismus erwehrt hatte ohne dafür abgestraft zu werden. Mit einer eloquenten Spitzenkandidatin und einer klaren sozialpolitischen Kampagne im Kontrast zu den Linksliberalen (SPD und Grüne) wie auch gegen die rechtspopulistische AfD ist ein gutes Wahlergebnis möglich. Leider wird dies die innerparteiliche Debatte um die Ausrichtung der Partei nicht entschärfen, weil die Diskussion nicht mehr über die Frage des Kampfes gegen den Neoliberalismus geführt wird, sondern sich das alte Koordinatensystem innerparteilich hin zu den Regierungslinken (Erhalt des Euro/EU; R2G; Akzeptanz von Schuldenbremsen und Privatisierungen etc.) verschoben hat.

Wie auch immer – ob Schicksalswahl oder Stabilität – Dissens ist nötig und möglich! Lassen wir uns überraschen!

 

DIE PANIK DER ELITEN UND IHRE GEGENSTRATEGIE: Die italienische Oligarchie organisiert und kann auf unerwartete Kräfte zählen

Die erste Veröffentlichung des Haushalts-Entwurfs in Italien brachte einen Teil des globalis­tischen / europäistischen mainstreams und seiner Sprecher in pure Panik. Was war gescheh­en? Die liberalen Intellektuellen und ihre ehemals linke Erweiterung haben die Botschaft gehört. Sie nehmen sie ernst und tendieren daher dazu, sie zu überinterpretieren. Der Lega-Chef Salvini nimmt den Mund voll – und die Journalisten, die eigentlichen Intellektuellen Italiens seit Benedetto Croce – glauben ihm aufs Wort und jede Silbe. Der Ungehorsam gegen Brüssel und Berlin stellt nach Außen hin das eigentliche Programm der amtierenden Regierung dar. Aber wir werden gleich sehen: Ob dies mehr als Rhetorik ist, wissen wir noch ganz und gar nicht. Aber bei den Links-, Rechts- und einigen sonstigen Liberalen gibt es keinen Zweifel: Der Anti-Christ in Person regiert in Italien.

Es gibt zwei Argumentationen: Die eine konzentriert sich auf Salvinis Anti-Immigrations-Fixiertheit und erklärt sie zum Untergang der Welt. Sie ist vor allem bei den ehemaligen Linken vertreten, weil sie sich so leicht argumentieren lässt. Darüber werden wir ein anderes Mal sprechen. Hier sei nur erwähnt: Die Eliten wähnen die Demokratie in Gefahr, weil ihre Parteien in den letzten Jahren und Monaten drastisch verlieren. Eben hat die Bertelsmann-Stiftung – Bertelsmann ist seit längerem in US-amerikanischer Hand – eine Studie veröffentlicht, wo von vier Dutzend Ländern zwei Drittel eine Verschlechterung der Demokratie-Qualität hinnehmen mussten. Und warum? Weil die europäistischen und globalistischen, die liberalen Parteien verloren haben, das ist das wesentlichste Element….

Die zweite Linie aber nimmt sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Ziel. Ihr Stecken­pferd ist der spread, der in jedem Satz zweimal vorkommt. Der Abstand in den Zinssätzen zwischen den italienischen und den deutschen Staatsschulden ist in einer Weise ins Zentrum gerückt, der schon an Besessenheit erinnert. Die Höhe der Zinsen ist beileibe keine Kleinig­keit und bestimmt in einem gewissen Maß – über das einmal gründlich zu diskutieren wäre – auch den Abfluss der Ressourcen von den Arbeitenden an die Finanzhaie. Kurzfristig ist der spread von nicht überragender Bedeutung und mehr ein Symbol.

Aber was da abläuft, kann nicht kennzeichnender sein. „Il manifesto“ trägt, wie zum Hohn, immer noch den Untertitel: „quotidiano communista“, „Kommunistische Tageszeitung“. Aber man muss einmal lesen, wie tagtäglich voll Freude und völlig ununterscheidbar von rechtsli­beralen Organen verkündet wird: Gestern stieg der Spread über 300 Punkte (+3 % zu den Zinssätzen für deutsche Staatsanleihen). Vielleicht ist das irgend jemand in der Redaktion aufgefallen. Denn da schreibt dann eine Journalistin: Im Haushaltsentwurf ist mehr von Reagan drinnen als von Keynes. Da ist viel dran. Die flat tax und die verschleierte Amnestie für Steuerhinterzieher sind neoliberale Politiken erster Ordnung.

Was die Journalistin allerdings schreibt, geht in eine ganz andere Richtung. Die Politik sei antikeynesianisch, weil sie nur darauf abziele, den Markt wieder zum Funktionieren zu brin­gen und ihm das letzte Wort zu überlassen. Hat sie jemals Keynes angesehen und ein Wort von ihm gelesen? Gerade das ist die Grundhaltung dieses Systemretters: Wenn wir den Markt nicht regulieren, wird er immer wieder ein „Gleichgewicht“ mit „Unterbeschäftigung“ herstellen. Wir müssen ihm die Ecken abschleifen, damit er ordentlich funktioniert. Oder deutlicher: Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten, damit er überlebt.

Doch eigentlich wollten wir über die sich abzeichnenden Gegenstrategien sprechen. Die politischen Planungen haben offensichtlich begonnen. Aber interessanter Weise hat sich kein Politiker zu Wort gemeldet. Die Demokraten, die konservativ gewordene Partei der Ex-KPI, sind mit ihren inneren Konflikten ausgelastet. Es sind wieder die Journalisten, die auftreten. Und was schlagen sie vor? Wenn man das Strategie nennt, hat man einen ziemlich ärmlichen Begriff von Strategie. Es dreht sich Alles um die nächste Wahl, die zum EP im kommenden Mai. Und da schlagen diese Strategen vor: Es muss eine einheitliche pro-europäische Liste geben, wo Alles Platz hat, was sich an Brüssel / Berlin orientiert, von der wiedererstandenen Christdemokratie in Gestalt des PD inklusive Renzi bis zu den „Kommunisten“ Marke Bersani, dem ehemaligen Sekretär des PD, ebenso wie Marke Vendola, dem Bannerträger der neuen Linken der Art SEL ( linke Kleinpartei). Nur so könne man einem populistischen Ansturm widerstehen.

Auf die Kräfte des Bruchs kann und sollte man sich nicht verlassen. Die zwei wirklichen Bosse der Regierung von Lega und M5S halten vorerst ihren Bund, obwohl die Versuche, sie auseinanderzudividieren mit den Händen zu greifen sind. Aber dahinter stehen ganz unterschiedliche Überlegungen, und in den beiden Parteien gibt es auch ganz verschiedene Tendenzen. Der angeblich so eurokriti­sche Savona von der Lega, der wegen dieser Einstellungen nicht Wirtschaftsminister werden durfte, hat inzwischen den Platz gewechselt. Er meint jetzt: Wenn der spread weiter steigt, werden wir unsere Politik ändern – und er meint damit eine Rückkehr zum Gehorsam gegen Brüssel und die Finanzmärkte. Auch sonst dient er sich nun der Kommission als Gesprächspartner gegen den „unzuverläs­sigen“ Wirtschafts- und Finanzminister Tria an – der muss als Regierungsmitglied nun den Haushalts-Entwurf verteidigen .

Salvini, der bisher am härtesten gegen die EU gesprochen hat, denkt nur an eine künftige Rolle als Führer der Rechts-Souveränisten, nicht nur in Italien, sondern übernational. Glaubt er, dass ihm was Anderes nützt, wird es schnell mit der Anti-EU-Politik vorbei sein. Die beste Garantie gegen einen Kurswechsel ist noch die Kommission und insbesondere Moscovici. Die wollen ihn fernhalten, koste es was es wolle. Und damit könnten sie tatsächlich seine Position stärken und manche Italiener auf Salvinis Seite bringen.

Di Maio von den 5S scheint mehr an Inhalten interessiert. Andererseits ist er stets bereit einzuknicken. Politiker müssen Kompromisse schließen, aber in Verhandlungen und nicht vor der Verhandlung mit dem Kompromiss winken. Di Maio ist die typische Figur, die billig einzukaufen wäre, eine Art italienischer Tsipras. Seine bevorzugten Gesprächspartner sind Typen wie der deutsche Finanzminister oder irgendwelche Brüsseler Bürokraten.

Die nächsten Wochen könnten in Italien insofern entscheidend sein, als sie Auskunft geben werden: Wie ernst ist es dieser Regierung mit dem Bruch? Sind sie wirklich dazu bereit, oder werden sie von den arroganten Bürokraten in Brüssel dazu gedrängt, was nicht unwahrschein­lich ist, dann gehört ihnen unsere ganze Sympathie, trotz Salvini und seinen oft schwer erträglichen Ausritten.

AFR, 15. Oktober 2018

Italien: Ist das auch scheußlicher Populismus?

Italien: Ist das auch scheußlicher Populismus?

In den deutschsprachigen Medien war Italiens Regierung bisher fast ausschließlich als Truppe rechtspopulistische Schreihälse präsent, die Flüchtlingsschiffen das Anlegen verweigert. Bei so viel Negativpropaganda lohnt es sich, auch einmal genauer hinzusehen.

„Regierung der Populisten“ ist das Label, das die Medien dem Duo Salvini (Lega)-Di Maio (Fünf Sterne Bewegung) verpasst haben. Damit weist man auf die Unverfrorenheit der aus den Wahlen am 4. März hervorgegangene Koalition hin, den Italienern einen Kurswechsel hin zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Situation des Landes zu versprechen. Reicht dieser Wunsch nach einem Kurswechsel aus, um das Negativ-Etikett Populismus zu bekommen? Rosig ist die soziale Situation in Italien mit 31 % Jugendarbeitslosigkeit und 8,4 % in akuter Armut offensichtlich nicht. Auch Lösungen für den anhaltenden Niedergang der einst starken Industrieproduktion im Land (-20 % seit dem Jahr 2000) zu suchen, drängt sich geradezu auf.

Aber… die beiden schieben doch die ganze Schuld für die italienische Misere auf den „äußeren Feind“, um von der eigenen Verantwortung und von ihrem Versagen abzulenken, die überbordenden Wahlversprechungen einzulösen. Typisch Populismus. Natürlich muss die widersprüchliche Lega-Fünf Sterne Koalition noch unter Beweis stellen, was sie von ihren Plänen (dem „Vertrag“) umsetzen wird – vor allem mit dem Budgetgesetz. Dass die angepeilten 2,4 % Defizit keine Revolution sind, ist nicht zu leugnen. Aber bereits dies reichte aus, dass Junker, Moscovici und „die Märkte“ zum Sturm auf Rom blasen, um den Defizit-Sündern die Leviten zu lesen und sie zu erinnern, dass die (mit den nicht gewählten Vorgängerregierungen unterschriebenen) Austeritätsvereinbarungen einzuhalten sind. Also ganz Unrecht haben die italienischen Populisten offenbar auch nicht, dass Brüssel ein signifikanter Faktor ist, der der Umsetzung eines sozialen und wirtschaftlichen Kurswechsels entgegensteht.

Ein jüngstes Beispiel zeigt plastisch, dass die neue Regierung in Rom durchaus konkrete Maßnahmen setzte, die einen Wandel andeuten. (Im Gegensatz zur Kolonne der nicht gewählten Vorgängerregierungen von Monti-Letta-Renzi-Gentiloni, die alle mehr oder weniger theatralisch einen Wandel versprachen, um dann sofort die alte neoliberale Agenda fortzusetzen; Populismus im wahrsten Sinne.)

Das Beispiel ist die vom belgischen Konzern Bekaert 2015 übernommene Pirelli Stahlcord-Fabrik in Figline Valdarno, Toskana. Der Konzern plante, die Fabrik mit Anfang Oktober zu schließen und nach Rumänien zu verlegen. 318 Arbeiter sollten entlassen werden. Nachdem der PD-Sozialdemokrat Renzi 2014 mit seiner Arbeitsmarktreform, dem Jobs Act, die Arbeitslosenunterstützung („Cassa integrazione“) abgeschafft hatte, wäre das für die Arbeiter und ihre Familien ein sicher Weg in die Armutsfalle. Derartige Kollateralschäden der Globalisierung interessieren die liberalen Medien heute freilich nicht, schon gar nicht die österreichischen. Daran konnte selbst das Solidaritätskonzert, das Sting im Juli vor der Fabrik für die Arbeiter gegeben hatte, nichts ändern.

Doch die Regierung der Populisten hat zwischenzeitlich begonnen, den PD-sozialdemokratischen Jobs Act rückabzuwickeln und die Arbeitslosenunterstützung wieder eingeführt (wie demagogisch!). Neben dieser sozialen Absicherung für die Arbeiter, hat die Regierung auf Bekaert Druck ausgeübt und gemeinsam mit der Gewerkschaft erreichen können, dass bis Ende des Jahres weiter produziert und einen Teil der Produktion in Figline Valdarno belassen wird. Zur Sicherung des Standortes wird soll staatliches Geld in die Hand genommen und ein Reindustrialisierungsprogramm aufgelegt werden. Selbst der Gewerkschaftsverband CGIL musste anerkennen, dass die Regierung diesen für die Beschäftigten positiven Ausgang entscheidend unterstützt hat und Vizepremier Di Maio sich persönlich in Figline Valdarno für eine Lösung einsetzte. Kein Wunder, dass die Umfragewerte der „grün-gelben“ Koalition mit 62 % Zustimmung auf einem Rekordhoch sind.

Zu wenig? Populismus? Für Brüssel genug, um der italienischen Regierung den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Die Frage in Italien ist heute eben nicht, ob eine umfassende anti-neoliberale Alternative wesentlich weiter gehen muss (natürlich) und andere Maßnahmen der Lega-Fünf Sterne Regierung nicht scharf abzulehnen sind (offensichtlich). Es geht um den Ausbruch aus dem Korsett der neoliberalen und anti-sozialen Politik des EU-Fiskalpakts und um die Seite, die man in dieser sich in Italien gerade rasant anbahnenden Konfrontation einzunehmen gedenkt. Welche Seite die Arbeiter von Bekaert in Figline Valdarno beziehen werden, steht jedenfalls fest.

Gernot Bodner

Die ersten 100 Tage der gelb-grünen Regierung

Präambel des Übersetzers

Dieser Artikel von Leonardo Mazzei erschien eine Woche vor Ankündigung des Budgetentwurfs (DEF, Documento di Economia e Finanza) durch die italienische Regierungskoalition aus Fünf Sterne Bewegung (Movimento 5 Stelle, M5S) und Lega. Mazzei endet mit der Betonung, dass die Budgetpläne der wichtigste Indikator für die künftige Dynamik der widersprüchlichen „Regierung der Populisten“ sein werden und dass er nicht von einer Kapitulation vor dem Druck nach Budgetdisziplin aus Brüssel auszugehe. Damit behielt er recht: entgegen dem Wunsch von Wirtschaftsminister Tria – dem von Staatspräsident Mattarella intonierten Stabilitätsgaranten gegen die „Populisten“ – setzten Di Maio und Salvini ein geplantes Haushaltsdefizit von 2,4 % gegen die 1,6 % von Tria durch. Ziel ist in erster Linie die Finanzierung des Grundeinkommens, zentrales Wahlversprechen der M5S, sowie einer Änderung des neoliberalen Pensionssystems zugunsten der Arbeitnehmer.

In einem Kurzkommentar vom 1. Oktober schreibt Mazzei dazu: „Freilich ist der Budgetentwurf keine Revolution – aber wer hätte das schon erwartet. (…) Es ging um etwas anderes: wird die Regierung dem Druck aus Brüssel nachgeben oder sich wiedersetzten. Entscheidend war dabei auch die symbolische Ebene, etwa die angekündigte Rückabwicklung des neoliberalen Pensionssystems als Zeichen jahrzehntelanger Austerität. (…) Für die Regierung waren die 2,4 % der Versuch eines Kompromisses. Aber dass dieser für die andere Seite nur schwer verdaulich ist, das werden wir in den Angriffen der nächsten Wochen sehen.“ Und in der Tat bringt sich die Phalanx aus Brüssel, Berlin und „den Märkten“ bereits in Stellung für eine Konfrontation mit offenem Ausgang.

Die ersten 100 Tage der gelb-grünen Regierung

von Leonardo Mazzei

Hundert Tage sind nichts im Leben einer Nation. Für Regierungen dagegen sind die ersten 100 Tage wichtig: es ist die Zeit, in der sie die Symbole ihrer Politik zur Schau stellt. Das gilt vor allem in der Gesellschaft des Spektakels, in der das Erscheinungsbild mehr zählt als der Inhalt. Für die „Dreimächtekonstellation“, die in Italien am 1. Juni entstanden ist, gilt dies in etwas abgeschwächter Art. Denn die Bedeutung des Erscheinungsbildes ist umgekehrt proportional zur Tiefe des Inhalts. Wenn eine Regierung also nichts anderes als die Kontinuität zu ihrer Vorgängerin ist, dann kann man sicher sein, dass sie sofort versuchen wird, mit allerlei Glanz und Glamour ihre unnötigen Waren zur Schau zu stellen. Man denke nur an Renzi und weiß, wovon wir sprechen. Wenn dagegen eine Regierung ein tatsächliches, wenn auch widersprüchliches Programm der Veränderung verfolgt, ändert sich die Sache. Das Gewicht der Erscheinung wird deutlich geringer, während alle Scheinwerfer auf die Substanz gerichtet sind. In diesen Fällen wird das übliche Schauspiel zwischen parlamentarischer Mehrheit und Opposition sofort zu einer realen harten Konfrontation.

In der ganzen Geschichte Italiens wurde bisher keiner Regierung mit einer derart umfassenden Opposition des gesamten Establishments begegnet. Die wirtschaftlich Mächtigen, die Confindustria, die ganze Medienwelt und natürlich die Euro-Oligarchie haben der gelb-grünen Mehrheit (Anm. d. Ü.: von den Parteifarben der Fünf Sterne Bewegung und der Lega) den Krieg erklärt. Ihre

Minister (außer den direkt von Staatspräsident Mattarella ernannten) werden als unfähig und unverantwortlich abqualifiziert, als gefährliche Träger einer völlig unzulässigen antiliberalen (siehe die Debatte über die Nationalisierungen) mehr noch als einer nationalistischen Vision.

Über die Regierung Conte schreibt die Presse alles und dann gleich auch genau das Gegenteil davon: dass sie ihr Programm verraten wird, aber wenn sie es tatsächlich umsetzt, dann wäre das noch schlimmer, eine wahre Katastrophe für das Land. Die gleichen Journalisten schaffen es, die Regierung als zu staatszentriert anzugreifen und gleichzeitig als zu liberal – wegen der Idee der Flat Tax. Also wir haben es offenbar mit einem wahren Monster mit vielen Fassetten zu tun, aber jedenfalls ist keine einzige davon auch nur annähernd gut.

Schon allein dieses Fehlen von “guten Seiten” in den Augen der Eliten sollte die Regierung für all jene interessant machen, die eine Alternative zum Regime des letzten Vierteljahrhunderts aufbauen wollen; eines Regimes auf der Grundlage einer marktzentrierten Ideologie, einem Mix aus Neo- und Ordoliberalismus, wo Liberalisierung und Austerität sich zu einer Einheit gefügt haben, die das Leben von Millionen Personen in Präkarität und Armut gestürzt hat wie sie heute in Italien verbreitet ist.

Unsere Position haben wir schon öfter kundgetan: Wir denken, dass die aktuelle Regierung bis zum Beweis des Gegenteils ein Schritt nach vorne ist da sie fraglos die Konfrontation mit der Europäischen Union eröffnet hat, was einen Schritt zur nationalen Selbstbestimmung als Voraussetzung für eine soziale Alternative bedeutet (eine Alternative, die für uns der Sozialismus ist, in der viele wieder anfangen neue Aktualität zu entdecken). Diese Einschätzung vertreten wir trotz der enormen Wiedersprüche innerhalb der Mehrheit aus Fünf-Sterne Bewegung (Movimento 5 Stelle,, M5S) und Lega und trotz des Kompromisses von Ende Mai (Anm. d. Ü.: auf Druck von Staatspräsident Matarelle und der EU haben M5S und Lega ihren ursprünglichen Koalitionsvertrag gemäßigt und die geplanten Ministervorschläge für das Wirtschafts- und Außenressort zurückgenommen), der den Kräften des Systems erlaubt hat, in der Regierung eine wahrhaftige fünfte Kolonne zu installieren, die von Wirtschaftrsminister Giovanni Tria geführt wird. Dies veranlasst uns von einer Dreimächtekonstellation zu sprechen. Diese Tatsache wird von den Mainstream-Medien und der „linken“ Opposition immer vergessen. Der Grund dafür ist einfach erklärt: für sie ist es entscheidend, darauf hinweisen zu können, dass M5S und Lega es nicht schaffen, ihr Programm zu realisieren, ohne natürlich dazu zu sagen, dass die wichtigste Bremse für das Handeln der Regierung eben diese fünfte Kolonne ihrer Verbündeten ist. Auf der linken Seite ist es ein ähnliches Spiel: sie gibt vor die Konfrontation im Inneren der Regierung nicht sehen, damit sie die Regierung Conte als reine Kontinuität der Vorherigen darstellen kann. Da Tria eben nicht so verschieden ist von Padoan, kommt die Linke zu dem Schluss, dass Di Maio und Salvini wie Renzi und Gentiloni sind. Ein, nach unserem bescheidenen Dafürhalten, katastrophaler Fehler.

Es wird im Wesentlichen das nächste Budgetgesetz sein, das über die politischen Perspektiven Klarheit bringt. Aber es ist auf jeden Fall nicht unnütz sich zwischenzeitlich einer ersten Bilanz der Regierungspolitik zu widmen. Kehren wir also zu den ersten 100 Tagen zurück und versuchen die Lichtblicke und Schatten, die Beschränkungen und Möglichkeiten einer politischen Situation aufzuzeigen, die jeder beurteilen kann wie er möchte, aber wo wohl niemand leugnen kann, dass sie eine absolute Neuheit für das europäische Panorama darstellt.

Zum Zweck der besseren Übersicht werde ich diese Bilanz in fünf Kategorien einteilen: Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Außenpolitik, Immigration und Demokratie. Nur zum Schluss möchte ich ein paar Worte zu dem Thema, das die Intellektuellen so sehr anspricht, die jahrzehntelang vor dem Desaster, das sich vor ihren Augen abgespielt hat, geschlafen haben: der angebliche, wenn auch inexistente Faschismus, der sich dank einer ebenso inexistenten Welle des Rassismus den Weg bahnt.

  1. Die Wirtschaftspolitik

Dies ist zweifelsohne das wichtigste Terrain der Konfrontation innerhalb und außerhalb der Regierung. Ohne anderen Bereichen ihre Bedeutung nehmen zu wollen, sind die wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen das erstrangige Kriterium, um die Regierung zu beurteilen.

Hier gibt es meiner Einschätzung nach drei Fragen, auf die einzugehen ist. Zuerst die Eröffnung der Diskussion zum Thema der Nationalisierungen – was, so möge man zur Kenntnis nehmen, nicht wenig ist. Zum Zweiten die Anpassung der Position zur Flat Tax. Zum Dritten die Maßnahmen, die in Sachen der Renationalisierung der Staatsschulden gemacht wurden.

Zu den Nationalisierungen: Darüber gibt es nicht viel zu sagen. Es handelt sich objektiv um eine Sache größter Bedeutung. Eine entscheidende Trendwendenicht nur für Italien sondern für den gesamten Kontinent. Für Jahrzehnte war die Lösung – links wie rechts – „Privatisieren“. Heute wird begonnen in die Gegenrichtung zu gehen. Natürlich, derzeit sind wir bei reinen Ankündigungen, aber in der Politik haben Ankündigungen ihr Gewicht.

Die erste Nationalisierung wird wahrscheinlich jene von Alitalia sein. Wir gehen hier, aufgrund der Kürze, nicht näher auf die wichtige Diskussion über die möglichen Modalitäten dieser Operation ein. Was zählt ist, dass wir von der Linie des Ausverkaufs des einstigen Flaggschiffunternehmens zu seiner möglichen Neuaufstellung mittels Nationalisierung übergegangen sind.

Der zweite Bereich, der zur Diskussion steht, sind die Autobahnverwaltungen. Der Skandal der über alle Maßen vorteilhaften Konzessionen zugunsten von Spekulanten wie Benetton, die die Regierung Prodi vergeben hatte, hat diese Diskussion eröffnet. Natürlich, die konservativsten Sektoren der Lega haben vorerst den Weg der Nationalisierung gebremst, aber zwischenzeitlich hat Conte neuerlich den Entzug der Konzessionen von Autostrade per l’Italia gefordert, und ließ somit den Ausgang dieser Frage vorerst offen.

Es gab ein drittes Thema, das eine entschiedenere Hinwendung zum Eingreifen des Staates in die Wirtschaft erfordert hätte. Es geht dabei um die Angelegenheit des Ilva-Stahlwerks, wo zwar ein positiver Ausgang auf gewerkschaftlicher Ebene erreicht wurde – die Arbeitsplätze, Löhne und Rechte der Arbeiter wurden verteidigt – begleitet jedoch von dem negativen Aspekt, dass auf die Nationalisierung dieses größten metallverarbeitenden Betriebes in Europa (in Taranto) verzichtet wurde und er so in den Händen des größten Multis in dieser Branche, Arcelor Mittal, gelandet ist. Eindeutig eine versäumte Gelegenheit, eine Tatsache die als negativ zu verbuchen ist, ohne aber zu vergessen, dass es hier nicht um einen Übergang von öffentlichem in privates Eigentum ging, da das Werk ja schon in den 1990er Jahren von Dini und Prodi an Emilio Riva verkauft wurde, der in Folge einer der großen Finanziers der PD wurde. Klar ist dies kein Grund das Unternehmen in privaten Händen zu belassen, aber zumindest sollten die alten (und nie sonderlich von Reue gezeichneten) Verbündeten von „Mortadellagesicht“ Renzi schweigen.

Zur Frage der Flat Tax: Wir haben immer betont, dass es sich dabei um den negativsten Punkt im sogenannten „Vertrag“ zwischen Lega und Fünf Sterne hantelt. Wir sind für ein progressives Steuersystem, das durchaus von der Einkommenssteuer auf andere Formen der Besteuerung erweitert werden sollte.

Gerade deshalb sehen wir die zunehmende Entleerung der Idee der Flat Tax als positiv, die in ihrer ursprünglichen Version eines einheitlichen Steuersatzes von 15 % völlig inakzeptabel war. Schon im Regierungsprogramm wurde der doppelte Steuersatz (15% und 20%) ja dann fälschlicherweise noch als Flat Tax bezeichnet, wiewohl auch dies sozial ungerecht und unhaltbar ist, neben der offensichtlichen Unfinanzierbarkeit.

Derzei scheint das Projekt der Flat Tax aber auf einem Abstellgleis geendet zu sein, während man sich vorerst auf das Ziel einer deutlichen Erniedrigung der Besteuerung für Kleinunternehmen konzentriert. Es scheint nun so zu sein, dass von drei Steuersätzen ausgegangen wird, und das erst ab 2020. Man wird also über die Sache wahrscheinlich erst 2019 wieder sprechen. Das Urteil darüber werden wird also vorerst verschieben müssen, vor allem da in Steuersachen, mehr als in anderen Dingen, der Teufel im Detail stecket, vor allem auch angesichts der unglaublichen Zahl an Abzügen und Ausnahmen, die das aktuelle Steuersystem unglaublich verkomplizieren und seine effektive Progression verzerren.

Zwischenzeitlich sollte man in der Ablehnung des ursprünglichen Schemas eines einheitlichen Steuersatzes hart bleiben, um eine umfassende Neukonzeption zu anzustoßen. Das Faktum, dass man nun über weniger extreme Ansätze nachdenkt, die freilich immer noch nicht zu beführworten sind, beweist jedenfalls, wie die Regierung – in diesem Fall die Lega – durch Kritik von der Gesellschaft, in erster Linie durch den sozialen Block, der den breiten Konsens der populistischen Kräfte begründet, beeinflussbar ist.

Nun zur Renationalisierung der Staatsschulden: Dies ist ein Punkt, der zwar nicht so stark diskutiert wurde, aber dennoch nicht weniger wichtig ist als die anderen. Wir haben in den letzten Wochen gesehen, wie die entscheidende Waffe der Opposition des Pro-Euro-Blocks der notorische Spread ist. Es ist klar, dass diese Waffe nur mit der vollständigen Wiedergewinnung der Währungssouveränität besiegt werden kann. Dennoch, einige Maßnahmen können unmittelbar ergriffen werden.

Um den Geiern der internationalen Finanz die Krallen zu stutzen, wäre eine erste Maßnahme die Renationalisierung der Schulden, die heute zu 28 % (731 Milliarden Euro) in ausländischen Händen sind. Wir haben kürzlich über den Grund dafür geschrieben und als vorläufige Lösung die Emission eines neuen Typs von Staatsanleihen vorgeschlagen, die wir als „Btp famiglia“ bezeichnet haben (siehe italienisch unter: http://sollevazione.blogspot.com/2018/08/spread-ecco-come-disinnescare-la-bomba.html). Die Neuigkeit in dieser Angelegenheit ist,, glaubt man den durchgesickerten Informationen, von denen verschiedenen Pressemeldungen sprachen, dass die Regierung bereits einen Gesetzesvorschlag dahingehend bereit haben soll, um etwas ähnliches wie die erwähnten „Btp famiglia“ zu schaffen. Es handelt sich um CIR („Conti individuali di risparmio“), ein neues Finanzierungsinstrument, durch Ersparnisse von Familien in den Erwerb italienischer Staatsanleihen gelenkt werden sollen. Fraglos eine sehr positive Sache, auch wenn auf diesem Weg der Zeitrahmen der notwendigen Renationalisierung der Staatsschulden auf jeden Fall eher länger sein wird. Aber, wie wir schon gesagt haben, handelt es sich dennoch um eine nützliche Waffe, um die „Herren des Spread“ zu bekämpfen, innerhalb einer allgemeineren Auseinandersetzung, die man nur wird gewinnen können, wenn man den Käfig des Euro verlässt.

  1. Die Sozialpolitik (und Umweltpolitik)

In diesem Bereich war für den herrschenden Block der Stein des Anstoßes das Decreto Dignita (Dekret Würde). Wie kann sich eine Regierung nur erlauben, so die Meinung der hohen Herren, den heilsamen Prozess der Präkarisierung zu begrenzen, der seit einem viertel Jahrhundert die sozialen Verhältnisse in unserem Land so wunderbar gestaltet. Wie unverantwortlich!

Die Maßnahmen des Decreto Dignitá sind für wahr sehr bescheiden. Wenn wir den Grad der Präkarisierung der Arbeit mit 100 ansetzen, so ist sie mit dem neuen Gesetz der gelbgrünen Regierung auf vielleicht 90 zurückgegangen. In absoluter Hinsicht definitiv sehr wenig, aber die Richtungsänderung ist deutlich. Die Wut der Confindustria (Anm. d. Ü: Italiens größter Arbeitgeberorganisation) ist durchaus ehrlich. Denn wenn man beweist, dass der Weg der Präkarisierung nicht irreversibel ist, dann beginnt die ganze Idee des TINA (There is no Alternative) zusammenzubrechen, und es eröffnen sich objektiv Spielräume für Initiativeb von unten, vielleicht sogar für eine neue Periode der Kämpfe.

Während die Konfrontation um die Mindestsicherung hart ist, vor allem zwischen der M5S und Wirtschaftsminister Tria als Beschützer der europäischen Verpflichtungen, so scheint es hinsichtlich der Pensionen schon ziemlich klar zu sein, dass man bereits mit 2019 die „Quote 100“ einführen wird (Anm. d. Ü.: Pensionsantritt wenn Alter und Beitragsjahre die Summe von 100 ergeben). Das heißt für Millionen von Arbeitern ein früherer Pensionsantritt zwischen einem und fünf Jahren. Ein klares Zeichen für das Gegensteuern gegen die Austerität, die in der Fornero-Rentenreform ihr klarstes Symbol hatte.

Eine andere sehr positive Maßnahme, die in diesen Tag beginnen soll, ist die Wiederherstellung der Cassa Integratione (Anm. d. Ü.: Kurzarbeits- und Arbeitslosengeld des italienische Sozialversicherungsträgers INPS), ein Instrument zum Schutz der Arbeitnehmer von Betrieben, die ihre Aktivität einstellen, da sie beispielsweise ihre Produktion in andere Länder auslagern, wie in dem jüngsten Fall des belgischen Multis Bekaert, der seinen Standort in der Toskana geschlossen hat, um ihn nach Rumänien zu verlagern. Es war im übrigen Renzis Jobs Act, der dies abgeschafft hatte.

Dass es auf sozialer Ebene neue Perspektiven gibt zeigt auch die Initiative von Di Maio gegen die Sonntagsarbeit, vor allem in den Supermärkten und Einkaufszentren, deren Öffnungszeiten 2012 von der Regierung Monti vollständig liberalisiert worden waren. Wir wissen nicht, was genau der Inhalt dieser angekündigten Gesetzesinitiative sein wird, aber offen gesagt gab es das seit Jahrzehnten nicht mehr, dass man einen Spitzenregierungsmann gehört hat, der das Recht auf Erholung der Arbeiter vor die gierigen Bedürfnisse des globalen Kapitalismus gestellt hat, die Arbeit, Geschäft und Ausbeutung für 24 Stunden einfordern und dabei von der aktuellen Opposition immerzu bejubelt wurden.

In dieser Sache, sowie auch in anderen Fragen, die mit einer grundlegenderen Vision der Gesellschaft zusammenhängen, sind die Differenzen zwischen Lega und Fünf Sterne ganz offensichtlich. Das ist nun einmal das Kennzeichen der aktuellen Regierung, die das Produkt einer Allianz zwischen rechtem und linkem Populismus ist, jeweils mit internen Spielarten und Vielfältigkeiten die sich dieser Klassifizierung auch entziehen.

Das Feld, wo diese Differenzen am deutlichsten zum Vorschein kommen, ist fraglos die Umweltpolitik, auch dies wiederum eine Front, wo die Regierung anhand konkreter Fakten zu beurteilen ist. Vorerst können wir sagen, dass es Anstrengungen im Zusammenhang mit Umweltauflagen für das Stahlwerk Ilva gibt, die es aber noch zu verifizieren gilt, und wo die Durchsetzung gegenüber einem Multi wie Arcelor Mittal nicht einfach sein wird.

Wo die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Mehrheit am stärksten sind, ist das Thema der sogenannten „Großprojekte“. Noch wissen wir nicht, wohin die Überprüfung des TAV-Projektes (Anm. d. Ü.: Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Turin und Lyon) führen wird, das der Minister für Infrastruktur und Verkehr Danilo Toninelli angeordnet hat, und auch die Unsicherheit über die Gaspipeline TAP ist groß, gegen die sich die pugliesische Gesellschaft, die von den Arbeiten betroffen sein wird, so entschlossen stellt. Während der TAV stark von der EU gesponsert wird, so ist die TAP in erster Linie von den USA gewünscht, aufgrund der bekannten geopolitischen Gründe. Das Feld der Umweltpolitik ist demnach komplex, da es politische Richtungsentscheidungen impliziert, die klar jenseits der Umweltbedenken liegen, um die die lokalen Gemeinden berechtigterweise kämpfen.

  1. Die Außenpolitik

In diesem Bereich können wir nicht behaupten, dass große Dinge passiert sind. Matarelle hat als Außenminister einen seiner Männer, Moavero Milanesi, durchgesetzt, während M5S und Lega vor allem mit anderen Dingen beschäftigt schienen.

Während man hinsichtlich Libyens sehr vorsichtig agiert, herrscht gegenüber den gefährlichen Entwicklungen in Syrien absolutes Schweigen, nachdem Salvini im April noch derjenige war, der am deutlichsten die amerikanische Eskalation verurteilt hatte.

Zwei Dinge sind als positiv hervorzuheben: das Nein zu CETA, zu dem 5 Sterne und Lega ganz klar stehen; und auch die Gegnerschaft zu den Russlandsanktionen, der aber bisher noch keine konkreten Handlungen gefolgt sind. Die Position zu Russland ist sicher eine Neuheit im europäischen Rahmen, angesichts einer EU, die immer dann bereit ist, die Waffe der „politischen Korrektheit“ und der „Bürgerrechte“ zu ergreifen, wenn es für sie bequem ist, jedoch nicht einmal angesichts des jüngsten Lobes des Parlamentspräsidenten in Kiew für Hitler ein Wort der Verurteilung der ukrainischen Regierung gefunden hat. De facto hat sich die Regierung Conte von der Russophobie der EU abgesetzt, was nicht wenig ist. Diese Position wurde aber sicher nicht mit dem notwendigen Nachdruck vertreten, und den Erklärungen sind keine Taten im Sinne eines Vetos in den EU-Institutionen gefolgt, wo das Nein aus Rom die absurden Sanktionen hätte beenden können, die völlig ungerechtfertigt und auch gegen die eigenen nationalen Interessen sind.

Das Nein zu CETA schein dagegen eine klare und überzeugtere Position zu sein. Wichtig im praktischen Sinne, aber mehr noch symbolisch, als das erste Nein zu all jenen Verträgen, die durchgesetzt wurden und wie der unvermeidliche Sonnenaufgang der kapitalistischen Globalisierung waren. Fraglos eine wichtige Entscheidung, die es zu unterstützen gilt.

  1. Die Immigration

Die Immigration ist sicher nicht das wichtigste Problem der italienischen Gesellschaft, aber wir würden einen Fehler mache nicht ihre Auswirkungen zu sehen, insbesondere jene auf den Arbeitsmarkt und die Löhne. Wer das leugnet ist schlicht jenseits der Wirklichkeit. Ob es aus Blindheit oder intellektueller Unredlichkeit geschieht ändert wenig am Ergebnis der völligen Blindheit gegenüber der vorherrschenden sozialen Situation, was der Rechten ein weites Feld des Konsenses überlassen hat. Wir werden erst zum Schluss über die Frage des „Rassismus“ sprechen und uns hier darauf beschränken, die Handlungen von Salvini (als Innenminister) unter die Lupe zu nehmen und ihre politischen Effekte zu analysieren.

Zuerst muss festgestellt werden, dass der Migrationsfluss von Afrika – in gewissem Sinne ein moderner Sklavenhandel – sich beinahe auf null reduziert hat. Damit glücklicherweise auch die Toten im Mittelmeer. Dieser Fluss war schon unter der Aktion des vorhergehenden PD-Innenministers Marco Minniti zusammengebrochen (unter der Begleitmusik von Schmiergeldern an die Lybischen Stämme). Das wirft freilich die Frage auf, warum man nun, wo Salvini faktisch die Maßnahmen von Minniti fortsetzt, so laut Rassismus schreit?

Jedenfalls haben Salvinis Maßnahmen verschiedene Resultate gebracht. Zuerst hat er die Rolle der NGOs beendet, und ihre Funktion als Fährmänner eines bei Gott nicht noblen Menschenhandels aufgezeigt, der von Kriminellen der übelsten Sorte getragen wird. Zum zweiten wurde die Heuchelei einiger Länder, zuallererst Frankreich aber auch Spanien, entlarvt, deren Regierungen immer rasch mit Predigten da sind, nicht aber bereit sind Migranten aufzunehmen. Zum dritten wurde die wahre Natur der Europäischen Union deutlich, die unfähig ist irgendeine Entscheidung zu treffen, die der karolingischen Achse nicht gefallen könnte, und auch unfähig ist die Versprechungen einer auch nur minimalen Solidarität mit Italien umzusetzen.

Die Presse, und nicht nur die Italienische, hat sich umfassend mit dem Fall des Flüchtlingsschiffes „Diciotti“ beschäftigt, das für einige Tage im Hafen von Catania festsaß. Natürlich haben die Migranten an Bord unter der Situation gelitten, aber kann man dabei wirklich von „Entführung“ sprechen, wie es in dem Verfahren, das die Staatsanwaltschaft gegen den Innenminister eingeleitet hat, passiert? Was hätten dann die Staatsanwälte 1997 gegenüber dem fast heiligen Giorgio Napolitano machen sollen, damals Innenminister der Regierung Prodi, deren Mehrheit sich auch auf Rifondazione Comunista gestützt hatte? Was damals passiert war, hatten wir im Juni in Erinnerung gerufen, als wir über die Angelegenheit mit dem Flüchtlingsboot Aquarius sprachen: „Warum erinnern wir uns nicht an die Seeblockade 1997 gegen die albanischen Flüchtlingsschiffe, die die Regierung Prodi beschlossen hatte? Eine Blockade, die nicht ohne tragische Konsequenzen geblieben war. In der Nacht vom 28. März 1997, einem Karfreitag, wurde das albanische Motorboot Kater I Rades von einem Schiff der italienischen Militärmarine gerammt. 81 Personen starben, 31 davon unter 16 Jahre. Aber Prodi ist per Definition „gut“ und in Europa würde keiner wagen ihn anzugreifen. Salvini dagegen ….“. Die Dinge sind so klar, dass man es dabei belassen kann.

  1. Die Demokratie

Die Demokratie hat viele Facetten. Sowohl die Fünf Sterne als auch die Lega haben beide 2016 gegen die Konterreform der Verfassung gekämpft, die Renzi durchsetzen wollte. Aber das ist freilich nicht genug, um die unterschiedlichen Ideen über die Demokratie genauer zu beschreiben, die die beiden Kräfte der heutigen Mehrheit haben. Auf zwei Dinge muss man hinweisen.

Das erste betrifft die Information, in einem Rahmen, in dem die wichtigsten Medien in einem Art Blutspakt gegen die gelbgrüne Regierung vereint sind. Bis jetzt haben weder Di Maio noch Salvini versucht, es sich mit den Herren der „vierten Gewalt“ zu richten. Im Gegenteil, sie haben versucht in dem Augiasstall Namens RAI ein Element der Veränderung und Diskontinuität einzuführen. Die Kandidatur von Marcello Foa als Präsident des öffentlichen Fernsehens, die bisher vom Aufsichtsrat nicht bestätigt wurde aber in kürze neuerlich zur Beschlussfassung kommen soll, zeigt einen wirklichen Willen der Veränderung. Und es ist kein Zufall, dass die Kräfte des Systems sofort mit aller Gewalt gegen einen Journalisten zu Felde gezogen sind, der nicht den Mächtigen dient, eine Persönlichkeit jenseits des üblichen Chors, ein harter Kritiker der Globalisierung und der Europäischen Union.

Der zweite Punkt betrifft den Vorschlag Salvinis vom August über die mögliche Wiedereinführung, in anderer Form, des Wehrdienstes. Ein Vorschlag, der vorerst einmal auf Eis liegt, aber der dennoch interessant ist, auch wenn gewisse „Pazifisten“ uns für Militaristen halten mögen. Die Wahrheit ist, dass das Berufsheer, das die Wehrpflicht abgelöst hat, sich – wie allgemein vorhergesehen – als das beste Instrument erwiesen hat, an allerlei imperialistischen Unternehmungen teilzunehmen, bei Kriegsabenteuern jeder Art, die nach wie vor Washington oder den Spitzen der Nato beschlossen wurden, in klarer Missachtung des Artikels 11 der italienischen Verfassung (Anm. d. Ü.: Beachtung des (Angriffs-)Kriegsverbots der UN-Charta und keine Lösung internationaler Streitigkeiten durch Gewalt). Würde eine einfache Rückkehr zum Wehrdienst ausreichen, um einen neuen Weg einzuschlagen? Natürlich nicht, wir sind nicht blauäugig, aber dass das Thema des Wehrdienstes an eine demokratischere Vision des Staates erinnert ist wohl auch eine schwer zu negierende Sache. Und dass man darüber wieder spricht ist bereits etwas.

Und nun zur Sache „Faschismus“, „Rassismus“ (und wer noch was draufzulegen hat, bitte hier…).

Wir haben uns bisher darauf beschränkt, die ersten 100 Tage der gelbgrünen Regierung zu rekonstruieren. Eine Rekonstruktion, wo vor allem darum ging, die durchgeführten Dinge aufzuführen, jene die in Planung sind, die wichtigsten Positionseinnahmen, die Themen, die in die politische Debatte eingebracht wurden, und auch die offensichtlichen Probleme der Mehrheit, die aus der Wahl am 4. März hervorgegangen ist. Aber da wir nicht hinterm Mond leben, müssen wir uns auch mit den Anschuldigungen des „Faschismus“ und „Rassismus“ auseinandersetzen, die von so vielen Intellektuellen und linken Aktivisten – italienischen wie europäischen – gegen die Regierung vorgebracht werden. Wir werden das aber knapp halten, auch weil wir in den letzten Monaten intensiver politischer Auseinandersetzung schon viele Dinge dazu geschrieben haben.

Faschismus? Wir haben schon oftmals dargelegt, dass der Faschismus sich nur aus der Reaktion der herrschenden Klasse auf eine revolutionäre Gefahr verstehen lässt. Eine solche revolutionäre „Gefahr“ im klassischen Sinne sieht heute nicht, vielmehr den kompakten Aufmarsch der herrschenden Klassen gegen eine Regierung, die als faschistisch dargestellt wird. Demnach haben wir es genau mit dem entgegengesetzten Szenario zu tun, das der Faschismus historisch war. Ist das vielleicht ein banales Detail? Bleiben wir bitte doch ernsthaft! Der Faschismus war auch und besonders ein Phänomen gewaltsamer Unterdrückung, physischer Auslöschung der Organisationen der Arbeiterbewegung und der subalternen Klassen im Allgemeinen. Haben wir heute irgendetwas dergleichen vor uns? Marschieren irgendwo Schlägertrupps durch das Land, mit Schlagstöcken, Rizinusöl oder etwas dergleichen, das den Waffen von vor hundert Jahren entspricht. Klarerweise nicht. Also, bleiben wir ernsthaft. Der Faschismus war Diktatur, Konzentration der Macht, Zensur und Kontrolle der Medien. Natürlich, zur Diktatur kommt man schrittweise, aber können wir etwa von Machtzentralisation sprechen, wenn das wahre Problem ist, dass die großen oligarchischen Mächte alle (ich unterstreiche alle) gegen eine Regierung aufstehen, die aus einer demokratischen Wahl hervorgegangen ist? Über die Medien haben wir schon gesprochen. Alles andere als Kontrolle! Kontrolle gibt es, aber von Seiten der Opposition! Um präziser zu sein: da die italienischen Oppositionsparteien auf dem Weg in eine wahrhaft existentiellen Krise sind gibt es Kontrolle von Seiten der Machtzentren, die die Opposition führen.

Was ist also dieser halluzinierte Faschismus, der die Ernährung der Herrschenden mit jener der Katastrophenlinken vereint? Mir scheint, es ist einfach eine angenehme Flucht aus der Realität, eine psychologische Reaktion auf das Unvorhersehbare, eine schlaue und sterile Art sich darzustellen, nicht mit der Kraft eigener Ideen, sondern mit der Konstruktion eines irrealen aber monströsen Feindes. Gratulation!

Rassismus? Wenn nun der Faschismus als politisches Phänomen nicht existiert, was freilich nicht ausschließt dass es einzelne faschistische Gruppierungen gibt, was können wir dann über den Rassismus sagen? Die Presse hat alles darangelegt, während der Sommermonate Italien als von einer Welle des Rassismus ergriffen zu beschreiben, die von den Salvini‘schen Sprüchen angetrieben und genährt wird. Klarerweise haben einige absolut inakzeptable Aussagen von Salvini die Verbreitung dieser Erzählung über einen ausufernden und ungebremsten Rassismus viel einfacher gemacht. Aber ist das die Realität? Ich würde sagen, ganz und gar nicht. Rassistische Episoden hat es immer gegeben, und die offiziellen Statistiken zeigen keinen Anstieg, wie ihn uns die Medien glauben machen wollten. Himmelschreiend war der Fall Moncalieri, wo man den Unfug (das Werfen von Eiern auf sowohl weiße als auch farbige Frauen) einer Gruppe von Herumtreibern im Auto eines PD-Gemeinderates, Vater von einem der Übeltäter, als fascho-legistischen Rassismus präsentieren wollte. Manchmal ist Lächerlichkeit eine stärkere Waffe als alle Erklärungen! Das heißt nicht, dass es das Problem des Rassismus im Allgemeinen nicht gäbe. Es existiert, auch wenn es korrekter wäre über Xenophobie zu sprechen, insofern der Rassismus im engeren Sinne eine Konzeption der eigenen Überlegenheit erfordern würde, die der italienischen Kultur weitgehend fremd ist. Was aber jedenfalls nicht existiert ist die „rassistische Woge“. Es gibt Ereignisse, auch tatsächlich problematische, die es zu bekämpfen gilt, aber es gibt keine „Woge“ die mit der Regierungsübernahe der Populisten zusammenhängt. Es wäre an der Zeit, dass das von allen ehrlichen Personen anerkannt wird. Das Thema des Rassismus hängt natürlich mit dem Thema der Migration zusammen. Und hier gibt es in der Tat ein Problem, da die Idee der Lega, dies über die einfache Formel „Blockade der Flüchtlingsströme + Hinauswurf der Klandestinen“ lösen zu können einfach nicht funktioniert. Die Migration ist ein Phänomen des Chaos der Globalisierung (im Grund des Imports von Sklaven ohne Rechte) und wird vom liberalen Mainstream al grundlegend Gutes betrachtet. Die Formel der Lösung kann aber eben nicht jene der Lega sein, sondern vielmehr die der „Regulierung der Flüsse + Integration der anwesenden Migranten“. Ein souveräner und demokratischer Staat muss das Phänomen kontrollieren, die Menschenhändler bekämpfen, und Staatsbürgerrechte, also politische und soziale Rechte, all jene zuerkennen, die seit einer bestimmten Zeit in Italien studieren und arbeiten.

  1. Was nun?

Wir haben die Schlagwörter des „Faschismus“ und Rassismus“ besprochen, da diese ein Kern der Kampagne in den letzten Monaten waren. Diese Kampagne der Systemverteidiger ist jedoch völlig gescheitert. Fünf Sterne und Lega hatten am 4. März 50 % der Stimmen, heute liegen sie in den Umfragen bei über 60 %. Die Leute sind eben nicht so dumm wie die hohen Herren glauben.

Die Probleme sind ganz andere. Zuallererst das Budgetgesetz mit dem unvermeidbaren Zusammenstoß mit der fünften Kolonne, die Matarelle der Exekutive ins Boot gesetzt hat, zuallererst mit dem unsägliche Wirtschaftsminister Tria.

Es wird keine Veränderung geben, ohne den Kampf gegen die Kräfte innerhalb der Regierung, die diese eben um jeden Preis verhindern wollen. Diese Kräfte des Pro-Euro-Blocks haben ihre Vorhut in Tria. Und genau das zeigt, wie instrumentalisiert alle anderen Argumente sind, von denen wir gesprochen haben. Die hohen Herren interessiert nur eins: dass das Dogma des Euro und seiner heiligen Regeln nicht ernsthaft gebrochen wird.

Mir scheint es nicht darauf hinauszulaufen, dass das Duo Di Maio – Salvini, die wahre Achse der Regierung, vorhat zu kapitulieren. Sie wollen den Zusammenstoß vermeiden, das ist klar, aber es ist nicht gesagt, dass diese Taktik von den Gegnern akzeptiert wird. Aber auch die Gegner sind schwach und müssen aufpassen. Sie haben keine politische Alternative im Parlament, noch den nötigen Konsens für Neuwahlen. Es kündigt sich also ein langes Hin und Her an. Die Mobilisierung von unten ist in diesem Szenario unerlässlich und die souveränistische Linke weiß dabei, auf welcher Seite sie steht.

Übersetzung aus dem Italienischen: Gernot Bodner

 

Leonardo Mazzei, seit den 1970er Jahren prominenter Aktivist der italienischen kommunistischen Bewegung. Von 1978 bis 1989 leitendes Mitglied von Democrazia Proletaria (DP), zwischen 1991 und 1997 Mitglied der Führung von Rifondazione Comunista für die Provinz Toskana. Austritt im Oktober 1997 mit vier weiteren Leitungsmitgliedern aus Protest gegen die Unterstützung der Regierung Prodi. Es folgten Versuche der Vereinigung außerparlamentarischer kommunistischer Bewegungen; ab 2001 Aufbau des „Campo Antimperialista“ mit Arbeitsschwerpunkt in internationaler Politik. 2014 Mitbegründer des Coordinamento Nazionale Sinista Contro L‘Euro (Linken Koordination gegen den Euro) und aus ihren hervorgegangenen Vereinigungsplattformen einer „souveränistischen Linken“. Zahlreiche Kommentare, Artikel und Analysen zur ökonomischen und politischen Entwicklung Italiens u.a. als Redakteur des Blogs http://sollevazione.blogspot.com/.

Die italienischen Eliten in Panik

oder jedenfalls einige unter ihnen:
Italien, seine Regierung und die Medien-Opposition

[Bild: Eugenio Scalferi, Exponent der Sozialistischen Partei von Bettino Craxi und Medienmacher]

2,4 % soll laut Budget-Vorschau das staatliche Defizit in Italien im kommenden Jahr ausmachen. Na und? Selbst Neoliberale würden durch diese Kennzahl zufrieden gestellt – fast, nicht ganz.

Aber nun muss man sich „La Repubblica“ vom Sonntag, 30. September 2018 einmal ansehen. Die Welt geht unter. Nicht 1,6 %, wie es die EU-Kommission verlangt, sondern 2,% ! Eugenio Scalfari lässt Alles aufmarschieren, worüber er verfügt. Neben seinem eigenen überlangen und trotzdem nichtssagenden Leitartikel lässt er sieben andere Meinungsartikel schreiben. Und als Beilage gibt es „Espresso“, der zur Warnung auch gleich das Manifest der Rassisten aus dem Jahr 1939 noch einmal in Faksimile abdruckt.

Es ist die pure Hysterie, und sie wird weder dem senilen Scalfari gut tun, noch seiner Zeitung noch seinem Anliegen. Aber man fragt sich doch: Warum gerät eine Elitengruppe in eine solche Panik? Warum gerät sie völlig außer Rand und Band und verliert jedes Augenmaß? Denn wenn es jemals einen faschistischen Stil und eine faschistische Vorgangsweise gegeben hat; dann finden wir ihn hier, bei Eugenio Scalfari.

Die Antwort ist einfach genug, trivial geradezu. Die 2,4 % widersprechen den Vorgaben der EU-Kommission. Die 1,6 % hätten Gehorsam signalisiert. Nun aber kommt eine Regierung, die in ihren praktischen Vorhaben zahm genug ist und auch in vielen ihrer paktierten Projekt äußerst zweifelhaft. Aber sie sagt: Wir machen, was wir für richtig halten, „die EU soll uns den Buckel hinunter rutschen!“ (Salvini) Das ist allerdings mehr als normaler Weise die Polizei erlaubt. Da kann man schon auszucken.

Hier muss man sagen: Das ist extrem. „Corriere della Sera“ aus dem Berlusconi-Konzern verhehlt einen Tag später auch nicht die Opposition gegen die Regierung. Aber die Zeitung versucht, ihre Haltung zu begründen, zieht Zahlen heran und verhält sich eben wie eine konservative Zeitung und nicht wie eine bürgerliche Version von „Völkischer Beobachter“ (man müsste eher sagen; „Brüsseler Beobachter“) und „Stürmer“ zusammen.

Leonardi Mazzei hat einen Artikel geschrieben, in welchen unsere italienischen Freunde m. E. die Regierung zu positiv beurteilen. Liest man diese Ergüsse der mainstream-Zeitung, dann versteht man ihre Haltung sehr gut. Allein der Wille zu einer kleinen Spur nationaler Eigenständigkeit bringt die EU-Turbos zur Raserei. Sie machen diese Regierung zu einer Macht des Bruchs, ob die Regierung selbst es will oder nicht.

Bei Scalfari kommt noch etwas dazu. Er hat seine Zeitung vor vier Jahrzehnten mit dem deklarierten Ziel gegründet, die KPI zu zerstören. Während in Frankreich freilich Mitterrand und der PS notwendig war, hat die italienische Sozialdemokratie mit dem Ober-Korruptio­nisten Craxi zwar jahrelang die Regierung geführt. Aber als Partei ging sie elend zu Grund, und Craxi durfte sich in Italien nicht mehr sehen lassen. Er starb in Tunesien, weil selbst die italienische Justiz damals nicht mehr gewillt war, das Ausmaß seiner Unterschlagungen hinzunehmen. Nach ihm kam allerdings sein Günstling Berlusconi …

Aber die KPI tat ihm den Gefallen und wandelte sich zu einer Partei der rechten Sozialdemo­kratie. „Ulivo“ und sodann die Renzi-Demokraten waren genau die Parteien, die sich Scalfaro immer gewünscht hatte. Er schien also sein Lebensziel erreicht zu haben, und die EU wurde zum Garanten dafür.

Aber jetzt ist der PD am Zusammenbrechen. Selbst in der Partei wird von einer notwendigen Neugründung geredet. Da kann man schon aus der Verfassung geraten, wenn das eigene Lebenswerk in Gefahr ist. Der uralte Fuchs Scalfari versucht allerdings noch etwas weiter in die Zukunft zu schauen, ein bis zwei Jahre weiter. Er meint also, eine neue Demokratische Partei reicht nicht mehr. Da braucht es eine liberale pro-EU-Partei, welche ohne wenn und Aber Alles durchführt, was Berlin (ja, das spricht er wirklich aus) und Brüssel beschließt. Da könne auch Renzi wieder eine Rolle spielen, wenn er seine diktatorialen Ansprüche aufgebe…

Ich bin mir nicht sicher, welche Schlüsse wir daraus zu ziehen haben. Zum Einen ist „La Repubblica“ wirklich ein extremes Beispiel. Zum Anderen aber scheint ein Teil der globalistischen und europäistischen Eliten und ihrer Gefolgschaft bereit zu sein, alle Hemmungen fallen zu lassen. Bisher arbeiteten die Gruppen mit einem Legalismus, der es ihnen gestattete, mit Advokaten-Tricks alle Hindernisse zu überspielen, vor allem in Italien. Der frühere Staatspräsident Giorgio Napolitano – auch er aus der verblichenen KPI – war der Mastermind dieser Strategie. In Österreich hat Heinz Fischer ähnlich agiert. Nun aber scheint es, als ob sie auch diese Grenze überschreiten würden. Wenn es je eine Gefahr eines neuen Faschismus gab – der allerdings ein liberales mondialistisches Mäntelchen tragen müsste, dann finden wir ihn hier.

Albert F. Reiterer, 1. Oktober 2018

Verfassung, Nationalstaat und Vollbeschäftigung

Warum der Sozialist Fassina den Plan Savona unterstützt, die Linke für tot hält und der Regierung aus Fünfsterne-Lega vorsichtig skeptisch gegenübersteht

Stefano Fassina, ehemaliger Vizewirtschaftsminister im Kabinett Letta, Exponent der Plan-B-Initiativen sowie Abgeordneter für „Liberi e Uguali“ in der Deputiertenkammer. Fassina gründete vor kurzem die Vereinigung „Patria e Costituzione“ [Vaterland und Verfassung] und kooperiert mit der „Patriotischen Linken“.

[Im Bild Stefano Fassina (l) und Paolo Savona]

F: Wurde beim Abendessen bei Calenda [ehemaliger PD-Vizewirtschaftsminister und Vertreter Italiens bei der EU unter Renzi mit Wurzeln bei der Confindustria, dem Verband der Industriellen] irgendetwas Linkes gesprochen?

S.F.: Ich glaube nicht. Mir scheint, dass es in der PD keinerlei Bewusstsein über die politische Phase, die Transformation, in der wir uns befinden, gibt.

F: Die antisouveränistische Front wächst. Nun hat sich auch Asselborn angeschlossen: „Die Rechten müssen gestoppt werden.“ Einverstanden?

S.F.: Nein, weil das nur Wasser auf die Mühlen jener ist, die als Populisten und Souveränisten definiert werden, Begriffe die ich bevorzuge nicht zu verwenden, weil sie irreführend sind.

F: Wer sind jene die fälschlich als Souveränisten bezeichnet werden?

S.F.: Es sind jene, die heute die enorme wirtschaftliche und soziale Unzufriedenheit ansprechen, die sich aus der Politik des letzten Vierteljahrhunderts ergibt – verantwortet nämlich genau von jenen, die sich heute als europäische, republikanische, fortschrittliche, zivile etc. Front zusammenschließen wollen.

F: Wessen Schuld ist das?

S.F.: Jene der historischen Linken und damit meine ich alle Parteien der sozialistischen Familie Europas. Diese Linke ist mitverantwortlich – über den Binnenmarkt, den Euro und die Osterweiterung – für eine wirtschaftliche und soziale Ordnung, die sich nicht nur gegen die Interessen der Arbeitenden wendet, die sie historisch vertreten hätte müssen, sondern auch der Mittelklassen.

F: Und heute?

S.F.: In diesem Kontext eine Front bilden zu wollen, die als einziges Ziel die Bildung eines Damms gegen angebliche Faschisten hat, ohne die geringste Selbstkritik und ohne eine politische Diskontinuität hinsichtlich der EU und der Eurozone, bedeutet jenen noch mehr Raum zu geben, denen man sich entgegenzustemmen versucht.

F: Sie schrieben, dass es ohne Nationalstaat keine Verfassung gibt. Ihre Assoziation nennt sich „Patria e Costituzione“. Nachdem die sich als links verstehen, was ist Ihnen wichtiger: Die Verfassung zu bewahren oder die Ungleichheit zu bekämpfen?

S.F.: Nach 68 ist in der Linken eine politische Kultur vorherrschend geworden, die die negativen Aspekte von Nation, Vaterland, Staat verabsolutierte, sie als rückschrittlich, autoritär und tendenziell faschistisch fasste. Diese Interpretation hat de facto dem Liberalismus geholfen, weil es den Abbau des Staates begleitete und unterstützte. Im Gegenteil, der Staat ist zur Durchsetzung der Prinzipien der Verfassung und zur Zurückdrängung der Ungleichheit notwendig. Artikel 52 besagt, dass die Verteidigung des Vaterlandes heilige Pflicht des Bürgers sei. 1945, als das faschistische Vaterland noch in frischer Erinnerung war, schrieb Togliatti in Rinascita, dass die Kommunisten Patrioten und Internationalisten seien – im Gegensatz zu den sogenannten Kosmopoliten. Und Patriot zu sein wäre die Bedingung, um die Arbeiterschaft verteidigen zu können.

F: Und nachher?

S.F.: Nachher ist man vor der Offensive der stärkeren Interessen zurückgewichen, weil die europäischen Verträge Preisstabilität und Konkurrenz zum Angelpunkt machen. Sie widersprechen radikal den Prinzipien unserer Verfassung, die nichts mit dem „Nachtwächterstaat“ zu tun haben, zu dem hin wir uns auf europäischer Ebene bewegen und der die Instrumente der politischen Steuerung der Wirtschaft wesentlich beschränkt.

F: Die Fünfsterne und die Lega gewannen am 4. März, weil sie sich gegen das Europa des äußeren Zwanges und gegen die EU-Verträge stellten. Heute behaupten sie unentwegt, dass das kommende Budget die europäischen Vorgaben einhalten wird. Was ist da mit der Regierung los?

S.F.: Das Realitätsprinzip hat den Diskurs der Wahlkampagne überholt. Niemand scheint sich dessen bewusst zu sein, aber eine parlamentarische Mehrheit aus M5S und Lega haben im vergangenen Juni den DEF [Documento di economia e finanza, Bericht über die Wirtschaftslage sowie eine Rahmenplanung] abgesegnet. Damit haben sie amtlich gemacht, dass sie die Vorgaben des Fiskalpakts respektieren werden. Es kann Zufall sein, aber das fand genau in jenem Moment statt als Salvini die Zählung der Roma ankündigte.

F: Wie bewerten Sie die jüngsten Bewegungen in der europäischen Politik, insbesondere die Öffnung der Europäischen Volkspartei zu Orban und, über ihn, zu Salvini?

S.F.: Es ist der Versucht der Mächtigen, vertreten von der EVP, im Zentrum des Spiels zu bleiben und die Sozialisten hinauszudrängen, die von 25 Jahren Unterordnung unter den Neoliberalismus ausgeblutet sind. So wollen sie eine Brücke zu den Populisten und Souveränisten bilden.

F: Eine Auffrischung der Macht…

S.F.: Klar. Und im Austausch für die Bewahrung des Bestehenden gesteht man den „Souveränisten“ ein bisschen Spielraum zu. Es ist Teil des politischen Spiels der Konsolidierung und Kontinuität zum Schutz jener Interessen, die in diesen Jahren alles dominiert haben.

F: Wie könnte so ein Szenario aussehen?

S.F.: Salvini und Orban würden den Kandidaten zum Kommissionspräsidenten der CDU [Weber] unterstützen und im Gegenzug die Festung Europa erhalten. Die in Schwierigkeiten geratenen Länder würden etwas mehr Spielraum erhalten, natürlich in Grenzen, aber der gesamte europäische Rahmen bliebe unverändert.

F: Was ziehen Sie vor, die Flat tax oder das Grundeinkommen?

Keines der beiden, weil es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelt, nämlich die Weigerung mittels politischen Eingreifens Vollbeschäftigung in einem hochwertigen Sinn herzustellen. Es ist eine Politik des Minimalstaates, des Laissez-faire (flat tax) einerseits und der Armenfürsorge, um die Not im Zaum zu halten, andererseits.

F: Was würden Sie anstelle von Salvini und Di Maio machen? Was wäre ihre symbolische Maßnahme?

S.F.: Ein Dreijahresprogramm, das sich mit Bestimmtheit vom Fiskalpakt abgrenzt, für die öffentliche Infrastruktur und die Sicherheit und Funktionsfähigkeit unseres Territoriums [gemeint sind beispielsweise Gebäude angesichts der Erdbebengefährung, die Degradierung der Böden, des Wassers und der Naturräume usw.]. Es würde die Binnennachfrage stärken und über viele Kleinbetriebe Arbeit schaffen, die in diesem merkantilistischen Europa erstickt werden. Es ist ein Plan, der sich in den zentralen Punkten von jenem Savonas nicht allzu sehr unterscheidet.

F: Sie haben alle parlamentarischen Kräfte eingeladen den Plan [von Savona, Europa-Minister der Lega, der Wirtschaftsminister hätte werden sollen aber von Präsident Matarella abgelehnt wurde, und dessen Plan von der Regierung selbst nicht allzu ernst genommen wird] zu unterstützen, einschließlich M5S und Lega. Warum?

S.F.: Der Plan wäre im Interesse aller, weil er einen grundlegenden, minimalen Rahmen festlegt, durch den sich das Land retten kann. Wenn wir uns aber weiterhin den erdrückenden Vorgaben unterordnen, wird das jeden ersticken, der sich an der Regierung befindet.

Quelle: http://www.ilsussidiario.net Wie die PD Salvini in Europa an die Macht bringt

Übersetzung: Willi Langthaler

ITALIENS ABSTIEG, DER EURO UND ÖSTERREICH: Nochmals Beiträge zur Währungs-Debatte von Alberto Bagnai

In einem höchst technischen Artikel für eine ökonometrische Zeitschrift (Bagnai 2016) prä­sentiert der Ökonom und italienische Politiker seine Ergebnisse aus einer Untersuchung über den Abstieg Italiens in den letzten 2 – 3 Jahrzehnten. Während das Wirtschaftswachstum bis in die 1990er deutlich über jenem der heutigen €-Zone lag, und vor allem auch über jenem des Kerns, des Zentrums, ändert sich dies mit der Ausrichtung auf die Währungsunion. Aus seinen Daten (z. B. Graphik 2 zur Arbeitsproduktivität) wird der erste Bruch 1990/1991 deut­lich, beim Eintritt in den „harten“ („glaubwürdigen“) Wechselkurs-Mechanismus; der zweite und entscheidende, weil nicht mehr aufgeholte Bruch ergab sich 1996. Damals gab es wieder einen Politikwechsel zu einer Aufwertungs-Politik, und die sogenannten „Arbeitsmarktrefor­men“, nämlich die „Flexibilisierung“ und Lohnsenkung – ziemlich genau das, was die österreichische Regierung jetzt auch durchdrückt – begannen zu wirken. Merken wir uns dieses Detail vor!

Ich möchte hinzufügen, was Bagnai in der wissenschaftlichen Zeitschrift vermutlich nicht schreiben durfte: Die erste Maßnahme, der Beitritt zum EMS, wurde noch von einer Regie­rung durchgeführt, die in der Tradition der Christdemokraten stand, aber bereits von den nun „Postkommunisten“, also der sich eben zur Rechts-Sozialdemokratie wandelnden Ex-KPI geduldet wurde (Ministerpräsidenten Andreotti 1989/92, Amato 1992/93, Ciampi 1993/94). Die zweite Runde, u. a. die Verschlechterungen auf dem Arbeitsmarkt, führten bereits Regie­rungen durch, welche direkt von der Ex-KPI gestützt und geführt wurden, unter dem Namen „Ulivo“ (die “technische“ Regierung Dini 1995/96 eingeschlossen; dann Prodi 1996/98, d’Alema 1998/2000, der sich heute wieder als „Oppositioneller“ gegen Renzi geriert, und Amato 2000/2001). Und dann haben sich die Sozialdemokraten gewundert, dass Berlusconi wieder die Wahl gewann und fünf Jahre Ministerpräsident war.

Doch gehen wir zurück zur ökonomischen Basis! Bagnai versucht die italienische Krise mit außenwirtschaftlichen Bedingungen (balance of payment-constraints) zu erklären. Da eine Abwertung nicht mehr möglich ist, schlägt nun die deutsche Politik – gefolgt von Österreich, den Benelux-Ländern und Finnland – einer „inneren Abwertung“, also des Lohndrucks und der damit nicht nur möglichen, sondern notwendigen (denn wer kauft sonst die Produkte?) Gewinnsteigerung in der Außenwirtschaft, voll durch.

Italien allerdings hatte im ersten Jahrzehnt eine eigenartige Zwitterstellung zwischen dem €-Kern und der €-Peripherie. Die Peripherie wuchs infolge spekulativer Investitionen, und eben­so spekulativ bedingt durch deutlich niedrigere Zinsen als zuvor, bis 2008 schneller als der Kern. Italien aber hatte in seinem Außenhandel zwar schon erhebliche Verluste gegen die real abwertenden Wirtschaften des Kerns (Länder siehe oben) hinzunehmen. Es konnte aber seine Situation insgesamt durch seine Stellung gegenüber der Peripherie infolge deren Wachstums (technisch: infolge höherer Einkommens-Elastizitäten des Exports in diese Länder) noch irgendwie ein wenig retten, wenn es auch bereits stagnierte. Das war 2008 vorbei, und damit kam der große Jammer auch über Italien.

Hier kommt die große Schwäche dieses Beitrags von Bagnai durch. Er behandelt Italien als eine Einheit. Doch wie alle wissen, besteht das Land aus einem hoch entwickelten Norden und einem peripheren Süden samt Inseln. Man müsste also die unterschiedliche Wirkung auf die diversen Landesteile abschätzen, wenn man wirklich einen Eindruck von der nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Situation bekommen wollte. Es war schließlich nicht zufällig, dass der erste große Durchbruch der M5S bei den Regionalwahlen in Sizilien gelang. Nur nebenbei: Bagnai selbst wurde in einem Wahlkreis in den Abruzzen gewählt.

Italien ist also ein Land auf halben Weg zwischen Peripherie und Zentrum, wenn man es als Einheit sehen will – auch wenn dies eine schiefe Betrachtung ist. Im Rahmen des Eurosys­tems verliert es gegenüber den Zentren. Aber wer und welche Landesteile verlieren? Die Gewinne von Seiten der Peripherie reichten schon im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts nicht aus, um diesen Verlust wett zu machen. Tatsächlich wuchs ja auch die soziale und politische Unzufriedenheit bereits in dieser Zeit massiv. Eine Zeitlang schien Berlusconi für seine Schäfchen noch zu sorgen. Er führte die von ihm verlangten „Reformen“ einfach nicht oder i. S. der Brüsseler und Berliner Auftrag-Geber nur unzulänglich durch.

Man setzte ihn daher in einem regelrechten Putsch ab und Monti an seine Stelle. Aber noch gibt es Wahlen in Italien. Monti, der genau das tat, was die zentralen Eliten von ihm wollten, wurde bei der Wahl mit Schimpf und Schande davon gejagt. Bersani, der brave und ziemlich beschränkte PD-Sekretär und Minister-Präsident, wollte Montis Politik weiter führen. Aber da kam der aufgeblasene rottamattore Renzi und manövrierte ihn ins Abseits. Inzwischen wurde der Verschrotter aber selbst verschrottet. Und die neue Regierung gewinnt mehr und mehr an Zustimmung, und sowohl Renzi wie auch Berlusconi verlieren noch und noch. Sie könnten sich ja zusammenschließen. Die Demokratische Renzi-Partei will sich ohnehin auflösen.

Leider endet Bagnais Untersuchung mit dem Jahr 2010. Wir können uns allerdings die weiteren Entwicklungen ausmalen, zumal wir sie mit dem freien Auge sehen. Mit dem Zusammenbruch der Peripherie verschwand auch die bescheidene Erleichterung, welche deren Wachstum und deren eifrige Importe aus Italien für das Land noch bewirkt hatten. Damit vertiefte sich die italienische Krise. Bagnai hat seine Folgerung daraus gezogen, obwohl er sie gegenwärtig als Politiker wieder etwas zurück hält. Er sprach sich eindeutig für den Austritt Italiens aus der €-Zone aus und versuchte auch, die Folgerungen auf eine seriöse Weise, leider wieder für Nicht-Ökonomen praktisch unverständlich, abzuschätzen (Bagnai u. a. 2017).

Hier sind noch einige Details anzumerken.

Sogenannte „Arbeitsmarkt-Reformen“ haben in der Regel einen negativen Einfluss auf die Arbeits-Produktivität. Insbesondere Teilzeit-Beschäftigte bremsen laut einer neueren Unter­suchung die Arbeitsproduktivität (Daveri / Parisi 2010). Nun könnte man verwundert fragen: Wissen dies die Kapitalisten nicht? Wozu bezahlen sie denn ihre intellektuellen Zuträger, die Ökonomen? Die Antwort dürfte einfach sein: Sie wollen es nicht wissen! Die Klassenkampf-Mentalität von Oben geht mit ihnen durch. Das ist ja nicht der einzige Fall in dieser Hinsicht. Denken wir an die ständigen Drohungen mit der Abwanderung des Kapitals. Nicht wenige Unternehmen kehren – wenn sie nicht pleite gegangen sind – nach einigen Jahren wieder in ihre Ursprungs-Länder zurück. Denn die gesamte Infra-Struktur, welche sie als selbstver­ständlich voraus setzen, wiegt vor allem in Branchen, wo der Lohnanteil gering ist, die niedrigen Löhne wieder auf, auch wenn diese in Indien oder in Bangla Desh nur ein Bruchteil der hiesigen Löhne ausmachen.

Interessant wäre eine vergleichbare Untersuchung an Österreich. Trotz seines bis zum EU-Beitritt und dem €-Aufbau höheren Wachstums und stärkerer Produktivitäts-Steigerung hat doch die österreichische Wirtschaft Schwachstellen. Diese, etwa der noch immer hohe Anteil des Tourismus und damit einerseits die dort niedrige Produktivität und andererseits die enorme Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen z. B. in der BRD, erinnern auch manchmal an gewisse periphere Strukturen. Allerdings hat das österreichische Export-Kapital durch die schleichende reale Abwertung erkenntlich gewonnen. Dementsprechend steigt die Ungleichheit.

Schließlich stellt sich die Frage nach dem angestrebten Politikbruch in der unmittelbaren Gegenwart. Ökonomisch läuft dies auf die „Normalisierung“ zu Westeuropa hinaus, und damit auf eine Verschlechterung für die unteren und die Mittelschichten. Politisch ist die Regierung aber offenbar eisern entschlossen, dies durchzusetzen, solange sie noch Zeit hat. Vor eineinhalb Jahrzehnten wären zumindest von der FP bereits zwei Minister/innen ver­schwunden. Die Regierung hält sie, weil sie weiß: Es könnte das ganze Programm ins Rutschen kommen. Und bislang – aber noch gab es keine Wahlen, und die Demoskopie wird immer unzuverlässiger – scheint dies zu funktionieren.

Die SPÖ ist dabei, sich selbst zu zerstören. Das wäre langfristig durchaus zu begrüßen. Kurz­fristig ist es eine ambivalente Geschichte. Eine Linke aber existiert nicht bzw. nur auf einer lokalen Insel. Und wir haben keine wirkliche Idee, wie wir die Inhalte an eine zunehmend apathische Öffentlichkeit bringen könnten. Mit unseren bisherigen Auftritten geht es nicht.

 

Bagnai, Alberto (2016), Italy’s decline and the balance-of-payments constraint: a multicountry analysis. In: Int. Rev. of Applied Economics 30, 1 – 26.

Bagnai, Alberto / Granville, Brigitte / Mongeau Ospina, Christian A. (2017), Withdrawal of Italy from the euro area: Stochastic simulation of a structural macroeconomic model. In: Economic Modelling 64, 524 – 538.

Daveri, F. / Parisi, M. L. (2010), Temporary Workers and Seasoned Managers as Causes of Low Productivity. Paper…. https://www.oecd.org/regreform/reform/44537061.pdf

Italien am Scheideweg: wohin geht die Linke?

Rom, Sa 13. Oktober 2018, 15h
Aula Magna der Link Campus University

  • Fabio Frati, Vorsitzender der Gewerkschaft CUB Trasporti und führender Belegschaftsaktivist bei Alitalia gegen Ausverkauf und für Verstaatlichung
  • Luciano Barra Caracciolo, Jurist, Richter und ehemaliger Funktionär des Justizministeriums in verschiedenen Positionen, parteiloses Mitglied des gegenwärtigen Kabinetts Conte als Unterstaatssekretär für europäische Angelegenheiten
  • Sergio Cesaratto, Professor für Volkswirtschaft und Statistik and der Universität Siena
  • Alfredo D’Attorre, ehemaliger Parlamentarier der PD, der mit der Regierung Renzi brach und sich der zuerst der „Sinistra Italiana – Sinistra Ecologia Libertà“ und dann den „Liberi e Uguali“ anschloss
  • Stefano Fassina, ehemaliger Vizewirtschaftsminister im Kabinett Letta, Exponent der Plan-B-Initiativen sowie Abgeordneter für „Liberi e Uguali“ in der Deputiertenkammer
  • Massimo Garavaglia, Vizewirtsminister der gegenwärtigen Regierung Conte, entsandt von der Lega
  • Antonio Maria Rinaldi, Professor für Volkswirtschaft an der Link Campus University, Rom
  • Marco Zanni, EU-Parlamentarier ehemals von den Fünfsternen, überwarf sich mit der Bewegung wegen deren diverser Rückzieher zum Austritt aus dem Euro
  • Moreno Pasquinelli, Exponent der Patriotischen Linken

Die EU und der Arbeitnehmerschutz: Beispiel Schweiz

Der Arbeitnehmerschutz der EU soll verallgemeinert werden – wie in Griechenland

NZZ, Donnerstag, 9. August 2018 Nr. 182, 239. Jg.

Eklat rund um Rahmenabkommen

Gewerkschaften boykottieren Sondierungsgespräche

Vorwürfe an Johann Schneider-Ammann: Die Gewerkschaften beschuldigen den Bundesrat, in den Verhandlungen mit der EU den Lohnschutz opfern zu wollen. Der Wirtschaftsminister spricht von «Vertrauensbruch».

CHRISTOF FORSTER, BERN

Die politische Sommerpause endet mit einem Paukenschlag. Der Gewerkschaftsbund hat die Medien am Mitt­woch kurzfristig zu einer Orientierung eingeladen. Es fallen harte Worte. Die Rede ist von «Verrat an den Arbeitnehmern» und «Sprengstoff für das Verhältnis Schweiz-EU». Der kritisierte Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann lässt zwei Stunden später vor den Medien seinem Ärger freien Lauf.

Was ist passiert? Anfang Juli hat der Gesamtbundesrat Schneider-Ammann den Auftrag erteilt, mit Sozialpartnern und Kantonen den Spielraum bei den flankierenden Maßnahmen zum Schweizer Lohnschutz auszuloten. Es soll eruiert werden, ob der heutige Arbeitnehmerschutz allenfalls auch mit anderen Instrumenten sichergestellt werden kann. Der Bundesrat wollte damit die Diskussionen über die flankierenden Maßnahmen wieder in geordnete Bahnen lenken.

Zuvor hatte Außenminister Ignazio Cassis die heutige Ausgestaltung dieser Massnahmen öffentlich zur Diskus­sion gestellt und damit harsche Kritik geerntet. In den Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen sind die Flankierenden möglicherweise ein entscheidender Punkt. Die EU drängt hier auf Konzessionen der Schweiz. Denn der eigenständige Arbeitnehmerschutz der Schweiz, insbesondere die achttägige Voranmeldefrist für Firmen aus der EU und die Kautionspflicht, ist Brüssel seit Jahren ein Dorn im Auge.

«Nie da gewesener Angriff»

Nachdem Schneider-Ammann mit den Vertretern von Gewerkschaften, Arbeitnehmern und Kantonen Einzel-Gespräche geführt hat, beginnen am Donnerstag die konkreten Arbeiten an den technischen Fragen. Gewerk­schaftsbund und Travailsuisse boykottieren nun aber diese Gespräche, die damit zur Farce werden. Die Gewerk­schaften äußerten bereits Mitte Juli gegenüber dem Wirtschaftsminister Kritik an der Übungsanlage. Es gebe keinen Grund für Konzessionen gegenüber der EU bei den Flankierenden. Diese seien Teil der roten Linien, die der Bundesrat mehrmals bekräftigt habe. Das Fass zum Überlaufen brachte aus Sicht der Gewerkschaften die Einladung des Wirtschaftsdepartements zu den technischen Gesprächen. Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner leitete aus dem Schreiben einen «nie da gewesenen Angriff auf die Schweizer Arbeitnehmenden» ab. Die Arbeitsgruppe solle laut dem Auftrag des Wirtschaftsdepartements Vorschläge machen, wie die Flankierenden in einer für die EU akzeptablen Form ausgestaltet werden könnten, die zudem vor einer allfälligen Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs Bestand haben müsse, sagte Rechsteiner und zitierte dabei aus dem Papier.

Auf dem Spiel stehe nicht nur die Achttageregel, sondern auch die Kautionspflicht, das Schweizer Sanktions­system, die Zahl der Lohnkontrollen und das System der allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge. Die Absichten des Departements laufen laut Rechsteiner auf eine «Demontage der erfolgreichen Schutzmass­nahmen» bei Entsendungen hinaus. Zudem wäre damit jede künftige Anpassung des Schweizer Lohnschutzes von der Zustimmung der EU abhängig. Entsprechende Gesetzesänderungen will der Gewerkschaftsbund mit dem Referendum bekämpfen.

Travailsuisse, die zweite Dachorganisation von Arbeitnehmern, schliesst sich dem Boykott an. Die im Schreiben erwähnten Lösungsansätze hätten alle einen Abbau bei den Flankierenden vorgesehen, sagt Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich. Aufgrund dieser Prämisse sei er nicht bereit zu Gesprächen. Er warnte, dass nur schon der Anschein von Konzessionen beim Lohnschutz auf Druck der EU tödlich für das Rahmenabkommen sei.

Enttäuscht von Rechsteiner

Dass die Gewerkschaften in ihren Schilderungen nur diejenigen Passagen aus dem vertraulichen Papier zitiert hatten, die ihnen in die Hände spielten, wurde spätestens nach den Ausführungen von Schneider-Ammann deutlich. Es sei ausdrücklich festgehalten, dass das derzeitige Schutzniveau der Flankierenden beizubehalten sei, sagte der Wirtschaftsminister. Ihre künftige Ausgestaltung solle nicht nur in einer von der EU, wie von den Gewerkschaften behauptet, sondern auch in einer im Inland akzeptierten Form geschehen.Schneider-Ammann zeigte sich verärgert und persönlich enttäuscht von Rechsteiner. Er sprach von einem «Vertrauensbruch», nachdem man fast 40 Jahre gekämpft, aber sich immer auch wieder gefunden habe.

Ob mit dem Eklat das Scheitern der Verhandlungen mit der Europäischen Union eingeleitet ist, bleibt vorderhand offen. Schneider-Ammann zeigt sich offen für ein klärendes Gespräch mit Rechsteiner. Ob dies in der Sache etwas ändern würde, ist indes fraglich. Denn der Gewerkschaftsbund hat bereits früh signalisiert, dass er bei den Flankierenden keinen Spielraum für Anpassungen im Sinne der EU sieht.

 

Der Bericht der NZZ über eine Schweizer Debatte zur EU und zum Arbeitnehmer-Schutz spricht für sich selbst. Aber einige Erinnerungen dazu sind doch nützlich.

In der Schweiz spielt die SP, wie auch anderswo in Europa, den EU-Turbo, bedingungslos und ohne Reserve. Nur schnell in die EU mit der Schweiz, koste es was es wolle! Seit der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 und über eine Reihe anderer Abstimmungen und Beschlüsse hinweg war und ist dies die Politik der SP. Es scherte sie auch nicht, dass ihre „Volksinitiative“ zum sofortigen EU-Beitritt 2001 mit 3 Viertel der Stimmen und allen Kantonen bei einer ausnahmsweise hohen Beteiligung so eindeutig wie nur denkbar abgelehnt wurde.

Und jetzt stellt sich die Schweizer Gewerkschaft gegen die Mauscheleien der Regierung mit Brüssel. Das ist de­r Punkt, auf den es ankommt. Selbst Gewerkschaften, und nicht nur in der Schweiz, beginnen zu realisieren: Die EU ist unsere Gegnerin. Sie ist das Kartell des Groß­kapitals und der übernationalen Bürokratie, die den inzwischen zum Schimpfwort geworde­nen Neoliberalismus als globales Regime und System durchsetzen will.

Zu allen Gewerkschaften hat sich dies allerdings noch nicht durchgesprochen. Bei der Großd­emo gegen den 12-Stundentag am 30. Juni sagte eine höhere Funktionärin am Heldenplatz: Da hilft uns nur mehr die EU … Ideologen /Ideologinnen sind lernresistent.

Aber für uns ist der Schweizer Fall doch ein Anlass, unsere Haltung zu den Gewerkschaften zu überdenken. Eine unbedingte Unterstützung wäre nach den Erfahrungen des ganzen letzten Jahrhunderts absurd. Vor zwei Jahren schrieb ich eine Polemik gegen eine Schrift des DGB, wo sein Institut besonders devot und gleichzeitig auch ein wenig einfältig gegen Kritiker des Euro und der EU argumentierte. Der Verleger sandte es an die „Junge Welt“. Die aber wiesen es zurück: „Wir wollen nicht antigewerkschaftlich sein!“

Das ist DKP pur. Es geht um die Organisation und nicht um den Inhalt: „Die Partei hat immer recht!“

Doch wir können nicht oft genug festhalten: Die Linke der 1970er und 1980er hat gegen den Wohlfahrtsstaat politisiert. Diese Strategie, so argumentierte sie damals zu recht, stabilisiert das System. Heute treten wir für den Wohlfahrtsstaat ein und verteidigen ihn. Denn es geht um die Lebensumstände der großen Mehrheit der Bevölkerung. Das ist die eine Sache.

Eine ganz andere Sache ist aber die Sozialpartnerschaft. Es geht ja dem ÖGB nicht eigentlich um die 60-Stunden-Woche oder den 12-Stunden-Tag. Dem hat er in einer ganzen Reihe von Fällen bereits zugestimmt. Es geht ihm um die Sozialpartnerschaft. Das ist seine Art, sich im System kommod einzurichten und möglichst nichts Grundsätzliches zu verän­dern. Der Vorschlag der letzten Woche von der Post-Gewerkschaft zeigt diese zwiespältige Haltung sehr deutlich. Sie will die Viertage-Woche, aber sie wagt es nicht, wirklich eine Arbeitszeit-Verkürzung vorzuschlagen, also zu sagen: Wir wollen 35 Stunden, oder in der Folge 30 Stunden.

Wir sind auch heute gegen die Sozialpartnerschaft. Das hindert uns nicht, mit dem ÖGB für Verbesserungen oder gegen Verschlechterungen zu demonstrieren. Aber es geht nicht zuletzt darum, die verbundenen Augen vieler Gewerkschaftsfunktionäre anzusprechen. Und wenn, wie jetzt in der Schweiz, die Augenbinden durch die rauhe Wirklichkeit ein wenig gelockert werden, so ist uns dies ein Anlass zur Genugtuung, und wir möchten wünschen, dass davon auch einige österreichische Gewerkschafterinnen hören.

AFR, 13. August 2018

 

 

 

 

 

1968: „Der Verrat der Intellektuellen“ und die Frage nach dem Weg der Geschichte

Dutschkes Rad nach dem Mordversuch

Das Jahr 1917 haben wir erinnert und reflektiert. Wir haben sogar eine eigene Veranstaltung dazu ausgerichtet. 1918 ist für uns ebenfalls Anlass des Nachdenkens: Die Gründung der Republik Österreich brachte die Basis für eine kleine Nation und die Überwindung des habs­burgischen Spätfeudalismus. 1918 wurde aber für die Sozialdemokratie auch zum Anlass des Verrats an ihrer ohnehin nur mehr rhetorisch revolutionären Politik. In Österreich verbargen sie sich hinter dem Kürzel des Austromarxismus. Im „neuen“ Deutschen Reich der Weimarer Republik hielten sie dies nicht für notwendig. Dort wurden sie offen reaktionär und brachten ihrerseits die Revolutionäre um. „Einer muss ja der Bluthund sein“, meinte der Sozialdemo­krat Noske in schöner Offenheit.

Aber 1968?

1968 ist für die Linke eine Verlegenheit. Und das ist noch eine Untertreibung. Denn 1968 war für viele, die sich heute noch als Linke begreifen, die Zeit ihrer Politisierung, die Zeit ihres Abschieds vom Konservativismus ihrer Herkunft, von der schwarzen Reaktion der Zweiten Nachkriegszeit. 1968 war also für sie und für die Gesellschaft auch ein Riesenschritt vorwärts. Das bleibt durchaus ehrenwert. Daher rührt ja auch noch der Hass der Konservativen, selbst heute noch, auf die „68er“. Ob CDU- oder CSU-ler, AfD-ler oder auch Liberale – für sie ist 1968 der Beinahe-Untergang des Abendlands, das man heute noch retten muss.

Und doch ist die Diagnose im Nachhinein eindeutig. 1968 ist das Symboljahr des Abgleitens des Großteils jener politischen Intellektuellen, die sich damals links nannten, in eine arbeiter­feindliche, gegen die Massen gerichtete und offen antiplebeische Haltung. Sie hat sich inzwi­schen weiter entwickelt zu einer elitären, ja elitistischen Einstellung: Für die Unterschichten haben sie nur mehr Verachtung und Beschimpfung übrig. Der lange Marsch durch die Institu­tionen wurde zum Karriere-Trick. Der heutige Alt-68er ist gewöhnlich ein pensionierter Sektions-Chef. Oder er war Abteilungsleiter in einem Konzern. Nicht selten ist es auch ein aktiver oder ein Ex-Politiker, ein gewesener Minister oder ein ehemaliger Abgeordneter, gewöhnlich von der SP oder den Grünen. Schaut Euch Otto Schily und Daniel Cohn-Bendit an; oder Franz-Josef-Fischer – oder in einem sehr bescheidenen Format in Österreich Raimund Löw!

Hierzulande spielt, mit einer Ausnahme, die wir uns noch vornehmen werden, das Jahr 1968 keine Rolle. Dabei ist die hegemoniale Öffentlichkeit doch so versessen auf „Erinnerungs-Kultur“. Nimmt man eine französische Zeitung in die Hand, ob aus Paris oder der Provinz, so hat man einen drastisch anderen Eindruck: vorne und hinten 1968!

Vielleicht sagt uns gerade das: Auch wir müssen 1968 analysieren. Das große revolutionäre Ereignis, von dem manche heute schwärmen, war es gewiss nicht. Es war aber zumindest in manchen Teilen Europas mehr als nur ein Aufruhr von frustrierten Intellektuellen. Jedenfalls hatte es politische Auswirkungen, wenn uns auch viele davon nicht gefallen.

Durch Zufall kam mir ein Interview mit einem inzwischen alten, früher recht angesehenen französischen Soziologen, Alain Touraine, in die Hände (La Depeche / Toulouse, 17. Juni 2018). Er spricht da mehrere wichtige Themen an. Er sieht einen Bruch in der Arbeitswelt seit 1968: „Heute spricht man nicht mehr von Arbeit (travail), man hat vielmehr eine Beschäfti­gung (… est occupé).“ Mir scheint dies extrem wichtig: Besagt es doch, dass sich die Produk­tions- als Arbeitsverhältnisse grundlegend gewandelt haben. Die körperliche Ermüdung und Erschöpfung, das Stigma des alten Proletariats, wurde für den Großteil der Bevölkerung durch nervöse Anspannung und einen dauernden Stress durch Kontrolldruck abgelöst, das Zeichen der neuen plebeischen Unterschicht. Touraine ist leider nicht konsequent. Er sieht auch nicht, dass er von europäischen Verhältnissen, von Verhältnissen im Zentrum, spricht. Hier wurde der Prozess der materiellen Basis-Produktion teils automatisiert. Teils aber wurde er in die Peripherie ausgelagert. Der Wandel der Arbeitswelt ist also ein wesentlicher Aspekt des Strukturwandels im Prozess der Globalisierung. Damit stehen wir vor den techno-sozialen Grundlagen unserer heutigen Verhältnisse. Die Zentrum-Peripherie-Struktur gestaltet ihre Basis um. Das aber hat Konsequenzen für die Klassen-Schichtung. Und es hat fundamentale Konsequenzen für die politische Organisation, vor allem der sozialistischen Bewegungen. Denn bereits 1968 war die politische Bewegung der Lohnabhängigen, vor allem in den Kommunistischen Parteien, in vielerlei Weise überholt. Sie war außerstande, auf neue Anforderungen zu reagieren.

Und damit geht es weiter im Text über 1968.

1968 hat einen neuen Akteur geschaffen oder jedenfalls sichtbar werden lassen, meint Tourai­ne. Der neue Akteur hat eine individuelle oder individualisierende Mentalität. Damit kommen wir langsam an die Problematik heran. Denn diese individuelle Mentalität war stets das Krite­rium der Intellektuellen. Arbeiter und Unterschichten waren entweder eher kollektiv bzw. kol­lektivisierend orientiert, oder sie waren nicht selten anarchisch, letzteres vor allem die Bauern.

Bevor wir auf dieser abstrakten Ebene weiter argumentieren, müssen wir unbedingt einen Blick auf die politischen Abläufe machen. Doch auf die Abläufe wo, in welchem Land? Denn 1968 hatte in Frankreich und Italien eine völlig andere Bedeutung als in der BRD oder auch der USA.

In Frankreich, ebenso wie in Italien, gab es eine starke KP und starke Gewerkschaften. Doch beide Organisationen wurden durch die Basis-Bewegungen völlig überrollt. Die lief jedenfalls in Paris an ihnen vorbei und entwickelte schnell einen Charakter, der nicht weit von einer revolutionären Situation entfernt war. Die Gewerkschafts- und KP-Funktionäre standen ziem­lich hilflos neben dem Geschehen und sahen eigentlich nur zu. Für die Staatsmacht schien die Sache dagegen aus dem Ruder zu laufen. Sie fühlte sich akut bedroht. Da tat De Gaulle einen primitiven und doch genialen Schachzug. Er setzte Neuwahlen an. Damit hatte er Gewerk­schaften und KPF richtig eingeschätzt. Er zwang sie damit in das Korsett des bürgerlichen Systems. Und sie ließen sich gern dort hinein zwängen.

Denn nun konnten sie endlich wieder auf ihre Weise mobilisieren und aktiv werden – in der einzigen Weise, wozu sie imstande waren. Sie taten genau das, was sie konnten. Sie machten Wahlkampf und brachen damit aktiv die Dynamik der Bewegung. Nun konnte sie ihre Stär­ken und ihren Einfluss auf die Arbeiter wieder einsetzen. Cohn-Bendit hatte in gewisser Weise recht, wenn er in seinem Buch von damals („Linksradikalismus…“) der KPF den Vorwurf machte, eigentlich wäre sie es gewesen, welche den französischen Mai in seiner Kampfkraft ein Ende gesetzt habe.

Er empfiehlt dann, in einer Art Polemik gegen Lenin, den „Linksradikalismus“ als Heilmittel. Es ist wert, darüber einen Satz zu verlieren. Denn diese Art von „Linksradikalismus“ war eine zutiefst bürgerlich intellektuelle Haltung. Sie war auch von Cohn-Bendit in Wirklichkeit nicht sonderlich ernst gemeint. Sein Flirt mit Brigitte Bardot hat ihn einige Wochen lang viel mehr beschäftigt als die politische Aktivität.

Aber hätten die KPF und die CGT denn einen Bürgerkrieg beginnen sollen? Der wäre mit Sicherheit verloren gegangen. De Gaulle hatte bereits seine militärischen Einheiten zwar diskret aber doch deutlich in Bereitschaft. Das hätte somit in einer völlig unvorbereiteten, daher hoffnungslosen Situation viel Blut gekostet und wäre vermutlich schnell niedergeschla­gen worden.

Das zeigt, dass die Frage falsch gestellt ist. Das Stichwort heißt nämlich: „völlig unvorberei­tet“. Denn die KPF und auch die Togliattische KPI hatten in ihrer Sowjet-Abhängigkeit nur ein Denkmuster: Yalta. Der Osten war sowjetisch. Im Westen musste man sich eben an die 1944 / 45 vereinbarten Spielregeln halten. Die sahen politische Aktivität nur im Rahmen des parlamentarischen Systems vor. Diese Parteien kamen überhaupt nicht auf die Idee, sich auch nur Gedanken über andere Organisationsformen oder Kampf-Möglichkeiten zu machen. Als eine solche Notwendigkeit im Pariser Mai auftauchte, war ihnen nicht einmal mehr die abso­lute Dringlichkeit alternativer Militanz bewusst, geschweige denn, sie hätten irgendetwas vorzuschlagen gehabt.

Damit war die Geschichte gelaufen. Es war nicht so unähnlich wie das, was Marx ein Jahr­hundert früher im „18. Brumaire“ geschildert hatte. Denn außerhalb Paris war die Bewegung sowieso viel schwächer. Dafür waren die Ängste der Bürger und der sonstigen Mittelschich­ten umso größer. Es war von vorneherein klar, wie Wahlen dieser Art in diesem Kontext und im gegebenen institutionellen Rahmen ausgehen würden. Die KPF aber lief ins offene Messer. Das ländliche Frankreich machte dem Pariser Mai auch ein schnelles und nicht sonderlich ruhmreiches Ende.

In der BRD oder in Österreich lief die Geschichte sowieso ganz anders und viel eindeutiger. Es ist wert, sich eine der recht naiven Erinnerungsschriften anzusehen (Lieb 1968). Die Berli­ner und sodann die deutsche Studentenbewegung war von vorneherein das Aufbegehren bür­gerlicher Jugendlicher und Adoleszenten gegen die erzreaktionäre deutsche Gesellschaft der 1950er und 1960er. Und diese jungen Leute haben ihre eigenen Interessen nicht vergessen! Sie nutzen einzelne Versatzstücke aus dem marxistischen Vokabular („Wissenschaft als Produktivkraft“), um für sich ein „Studienhonorar“ zu verlangen. Von einer Reflexion war da keine Rede. Dass ein Großteil der sogenannten Wissenschaft ein kunstvolles Gebäude hege­monialer Ideologie ist, dass Studenten ohnehin zum privilegierten Teil dieser Gesellschaft gehören – Fehlanzeige! Und selbst eine unterstützenswerte Forderung reformistischen Charakters – etwa: Stipendien für Unterschicht-Kinder – geriet damit ins Zwielicht einer schäbigen Privilegien-Politik.

Das Mailüfterl hier, die „Bewegung“, war exklusiv intellektuell. Nicht der Schatten einer proletarischen Bewegung war hier vorhanden. Rudi Dutschke wurde von einem jungen Hilfs­arbeiter abgeschossen. Als später eine Minderheit zu begreifen anfingen, wie die Gesellschaf­ten des Zentrums tatsächlich strukturiert sind, waren die Folgerungen zwar moralisch ehren­haft und aufrichtig, aber gleichzeitig kurzschlüssig: Es führte zum sofortigen Abgleiten in den Terrorismus, welcher diese Menschen selbst persönlich vernichtete, die politische Entwick­lung aber nicht voranbrachte.

Und in Wien war auch die intellektuelle Bewegung von einer ganz speziellen Art von Intel­lektuellen geprägt. Die Aktionisten, Nitsch, Ossi Wiener, werden heute von den gutbürgerli­chen Blättern wie die „Presse“ hochgejubelt. Eine gewisse Ausnahme ist Mühl, dessen Kom­mune nicht in das heutige Klima der neuen Prüderie passt. Gibt es etwas Kennzeichnenderes? Wir können ruhig beiseite lassen, dass dieselbe „Presse“, die da heute hagiographisch über die Aktionisten von 1968 schreibt (zu denen heimlich auch ihr Redakteur Malte Olschewski ge­hört haben soll), damals wüst gehetzt hat, wie die „Kronenzeitung“ oder der längst verbliche­ne „Express“ auch. Aber was soll eigentlich an den Aktionisten links gewesen sein? Was ist so fortschrittlich daran, im Hörsaal 1 auf den Tisch zu scheißen? – Der nächste Schritt im „linken Forderungs-Katalog“ war sodann dem gleichwert: In Parallele zum „Studienhonorar“ wollten die verkannten Künstler einfach mehr materielle Privilegien.

Es gab eine Gemeinsamkeit in der so unterschiedlichen Entwicklung in Paris, Berlin oder Frankfurt und Wien:

Damals, spätestens, trennten sich die angeblich Linken, die Linksliberalen nämlich, endgültig von der Masse der Bevölkerung. Darüber können und müssen wir reden. Denn diese Massen waren tatsächlich in hohem Maß reaktionär. Wie hätte dies auch anders sein können, nach Jahrzehnten zuerst von SPÖ / SPD, dann von NSDAP, und dann wieder von SPÖ, SPD und CDU? Dass man diese reaktionäre Haltung nicht mitmacht, dass man sie angreift, war ganz in Ordnung. Die Frage ist nur, welche Folgen man daraus zieht.

Der entscheidende Punkt wäre gewesen: Man hätte diese Bedingungen realistisch analysieren müssen. Realistisch analysieren heißt, sich nicht auf das einzige Schlagwort Manipulation zurück zu ziehen. Ich erinnere mich an eine Diskussions-Veranstaltung mit Johannes Agnoli, der eben ein links viel gelesenes Buch („Transformation der Demokratie“) geschrieben hatte. Ein versprengter Liberaler hatte sich in den Hörsaal gewagt und stellte an Agnoli die Frage: Aber warum kandidieren Sie nicht und stellen sich einer Wahl? Und Agnoli hatte keine andere Antwort parat als zu sagen: Wenn Sie mir das Wahlkampf-Budget einer unserer großen Parteien geben, werde ich das tun…

Vor allem dürfen wir über Eines nicht hinweg gleiten: Die Bedürfnisse von Intellektuellen und Unterschichten sind nicht dieselben. Das heißt nicht, dass die intellektuellen Bedürfnisse nicht ihre Berechtigung hätten. Der junge Marx hat, in diesem Punkt vielleicht auch ein wenig unreflektiert, seine Intellektuellen-Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der fortschreitenden Menschheit gleichgesetzt. Also nicht die Intellektuellen müssen sich auf das Massen-Niveau begeben, sondern die Massen müssen die materiellen Möglichkeit haben, über die reinen Basis-Bedürfnisse hinaus andere, vielleicht weiter reichende Bedürfnisse zu entwickeln, ein wirklicher Mensch zu werden.

Das war die Grundlage, die Basis-Idee der Marx’schen Befreiungs-Theorie und des Gedan­kens vom revolutionären Subjekt: Das Proletariat, die Unterschichten, muss sich selbst be­freien, um als Menschen überleben zuu können. Damit befreien sie die ganze Menschheit, weil sie damit die Klassen-Spaltung aufheben.

In dieser fundamental-strukturellen Auffassung gibt es aber mehrere gefährliche Abkürzun­gen. An ihnen kann man schon den Weg verlieren. Die Gleichheit dieses Interesses an der allgemeinen Befreiung zwischen den Unterschichten und einem progressiven Teil – einem intellektuellen Teil? – der Mittelschichten ist kein Automatismus. Er ist keineswegs immer und in jedem historischen Augenblick gegeben. Es scheint, als ob derzeit die Gruppe der Intellektuellen beinahe geschlossen zwischen sich und den Unterschichten einen Antagonis­mus sieht. Sie stellen sich entschlossen auf die Seite der Eliten. Oder ist das eine okzidentale (Denk-) Beschränkung?

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Identität zumindest im politischen Antagonismus gegen das Alte Regime gegeben. 1848 war die große Stunde dieser natürlichen Koalition. Aber sie ging schnell vorbei. Die Bürger und die Mittelschichten bekamen es mit der Angst. Sie sahen ihre Interessen daher eher auf Seiten des leicht reformierten, des transformistischen Staats. Im Deutschen Reich wenig später wurde Bismarck zum Heros des Bürgertums. Der dankte es ihm nicht, sondern versuchte, dieses Bürgertum in seine eigenen Entwürfe hinein zu schrecken: Dazu wollte er Lasalle benutzen – und Lasalle war bereit, darauf einzusteigen….

Eine weitere Problematik ist das Verhältnis zwischen gegebenen alltäglichen Lebenswelten und kulturellen Orientierungen und Interessen in einer mittleren und längeren Frist. Historisch stellten die Bauern das Parade-Beispiel. Immer wieder ließen sie sich von den Eliten und deren Mittelsmännern, in Europa waren dies vor allem Geistliche, instrumentalisieren. Dabei hätten sie nach ihren längerfristigen Interessen unbedingt an der Seite der städtischen Unter­schichten und, in der Moderne, der Arbeiter stehen müssen. Heute ist dies ein Hauptproblem der Unterschichten in ihrem Verhältnis zu konservativen und reaktionären Kräften – das eigentliche „Populismus-Problem“. Die heutigen Plebeier sehen sich in ihren kulturellen Identitäten viel eher durch die provinziellen Reaktionäre der Rechten repräsentiert. Mit den globalistischen („Links“-) Liberalen wollen sie nichts zu tun haben.

Und was hat dies Alles mit 1968 zu tun?

Die Linksliberalen haben ihre Wahl klar getroffen. Sie entschieden sich für ihre eigenen Inter­essen, für die Globalisierung, gegen eine Solidarität mit den Beherrschten, für die Solidarität mit den Eliten. Ihre politische Organisation ist heute die EU.

Die Linke war auch damals minoritär. Und sie wurde zerrissen und aufgerieben in mehreren Cleavages: jenem zwischen der lokalen Lebenswelt und dem Internationalismus; der eigenen kulturellen Identität und dem Engagement für die Unterschichten und die Dritte Welt; und Einiges Andere. Die Reste der Linken haben es nicht geschafft, eine Synthese der eigenen Lebenswelt und ihrer politischen Einstellung herzustellen. 1968 wurde damit in vielerlei Weise zu einem Symboldatum. Das Jahr kennzeichnet das Scheitern der Intellektuellen als eine progressive Kraft. Es markiert aber auch das Scheitern der traditionellen Linken. Für die damaligen Probleme haben wir bis heute keine gültige Antwort gefunden. Wir müssen sehr acht geben, dass dies kein endgültiges Scheitern wird.

Albert F. Reiterer, 1. August 2018

Lieb, Wolfgang (2018), 50 Jahre danach – Erfahrungen in und mit der 68er Bewegung. Bergkamen: pad.