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Unidos Podemos – Probleme und Perspektiven der Confluencia

von Klaus Dräger

 

Die Parlamentswahl in Spanien am 26. Juni 2016 verlief für die europäische ‚radikale Linke‘ enttäuschend. Podemos, Izquierda Unida (IU), die Grünen (Equo) und lokale und regionale Kräfte aus sozialen Bewegungen waren erstmals landesweit in einem gemeinsamen Wahlbündnis angetreten – Unidos Podemos (Gemeinsam können wir’s). Eine ‚confluencia‚ (Zusammenfluss) der oppositionellen sozialen und politischen Strömungen jenseits der PSOE sollte so Kräfte bündeln und dadurch mehr Mandate erreichen, weil das spanische Wahlrecht größere Formationen begünstigt.

Erklärtes Ziel von Unidos Podemos (UP) war, die PSOE als zweite politische Kraft in Spanien zu überholen (sorpasso), um sie dann aus einer Position der Stärke in eine ‚Koalition der Linken‘ zu zwingen. Daraus ist nichts geworden, UP kam nur auf den dritten Platz. Im Vergleich zum Wahlergebnis vom 20.12.2015, als Podemos und IU noch getrennt antraten (zusammen 24,3 %), erreichten sie im Bündnis nur 21,1% und verloren rund 1,1 Millionen Stimmen.

 

Eine nach Schließung der Wahllokale veröffentliche Umfrage der Fernsehsender TVE und TV3 sah die konservative Partido Popular (PP) mit 28,5 % an erster Stelle, Unidos Podemos mit 25,6 % auf dem zweiten Platz, gefolgt von der sozialdemokratischen PSOE mit 22 % und der neo-liberalen Ciudadanos (C’s) mit 11,8 %.

Es kam jedoch anders: die PP erreichte 33 % (+ 4,3 % gegenüber Dezember 2015), die PSOE 22,7 % (+ 0,6,%, aber Verlust von 120 606 Stimmen und 5 Mandaten ggü. Dezember 2015), Unidos Podemos 21,1% (ggü. 20,7 % für Podemos und 3,7% für IU zuvor) und C’s 13 % (-0,9 %). Bei der Wahl im Dezember 2015 hatten sich die Demoskopen auch schon verschätzt – damals sagten sie einen höheren Stimmenanteil für C’s und einen niedrigeren für Podemos voraus. Das amtliche Wahlergebnis war in dieser Hinsicht umgekehrt.

Im Endspurt des Wahlkampfs 2016 hagelte es nur so von Berichten in den Medien über alte und neue Korruptionsskandale, in die hochrangige Politiker der PP verwickelt sind. Doch dies störte deren Wählerschaft diesmal nicht – Augen zu und durch. Der noch amtierende PP-Ministerpräsident Mariano Rajoy führte einen polarisierten Wahlkampf gegen die angeblich von ‚Kommunisten‘ und von Venezuela gesteuerte UP, denen man das Land nicht überlassen dürfe. Wenn deren Spitzenkandidat Pablo Iglesias Ministerpräsident würde, werde Spanien wie Venezuela unter dem ’sozialistischen Diktator Maduro‘ in der Krise versinken. Leere Regale in den Kaufhäusern, galoppierende Inflation usw. drohten.

‚Keine Experimente‘ nach dem Brexit, angesichts von Flüchtlingskrise, islamistischem Terror und schwieriger Wirtschaftslage war das Credo seiner Angstkampagne. Hinzu kam ein sehr gezielter Mikro-Wahlkampf der PP: in Wahlkreisen, in denen die neo-liberale C’s keine oder nur schwache Chancen hatte, ein Mandat zu erreichen – bitte nützlich für das rechte Lager (also PP) wählen.[1] So schafften es die Konservativen, Stimmen von C’s zurückzuholen und rechte WählerInnen hinzu zu gewinnen, die sich beim Urnengang im Dezember 2015 enthalten hatten. Die PP war die einzige spanische Partei, die bei der Parlamentswahl vom Juni 2016 in Prozenten und absoluten Zahlen hinzugewann. Alle anderen fuhren im Vergleich zu 2015 schlechtere Ergebnisse ein.

Teil I: Die Nabelschau danach – Verluste wegen oder trotz der Confluencia zur UP?

Was geschah mit den 1,1 Millionen WählerInnen, die im Dezember 2015 noch für Podemos oder IU gestimmt hatten, im Juni 2016 aber nicht mehr für UP? Die Meinungsforschungsinstitute vermuten, dass diese nicht andere Parteien wählten, sondern im letzten Moment nicht zur Wahl gingen.[2] So erkläre sich die Diskrepanz zwischen ihren letzten Umfragen und dem realen Ergebnis von Unidos Podemos.

Im Vergleich zum Dezember 2015 verlor UP vor allem in den 10 größten Städten Spaniens (von 27 % für Podemos und IU 2015 auf 23 % für Unidos Podemos 2016). Die PSOE konnte sich dort halten oder ihr Ergebnis leicht verbessern, und auch die PP legte dort zu. In den ländlichen Gebieten (Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern) verlor UP hingegen nur leicht. Die Unterstützung für Podemos durch lokale linke Bündnislisten wie jene von Ada Colau (Bürgermeisterin von Barcelona) spielte bei der Wahl im Dezember 2015 eine wichtige Rolle für den damaligen Erfolg. Bei der Wahl im Juni 2016 waren es aber diese von linken Listen regierten Städte, in denen der deutlichste Rückgang zu verzeichnen war.[3]

Mehr als jeweils 20 000 Stimmen verlor das Wahlbündnis in seinen früheren Hochburgen wie Barcelona, Valencia, Zaragoza und Sevilla. In der Großregion Madrid büßte UP 216 580 Stimmen ein, und in der von Bürgermeisterin Manuela Carmena von ‚Ahora Madrid‘ regierten Hauptstadt davon 105 576 Stimmen. Ein Jahr nach den Regional- und Kommunalwahlen 2015 hat sich gezeigt, dass die lokalen linken Bündnisse große Schwierigkeiten haben, im Amt ihre versprochenen Projekte für einen sozialen Politikwechsel durchzusetzen.[4]

War IU schuld?

Über die Gründe für die Stimmenverluste gibt es innerhalb des UP-Wahlbündnisses sehr unterschiedliche Meinungen. Der Koordinator von Izquierda Unida, Alberto Garzón, sieht den chaotischen Prozess der Herausbildung des Wahlbündnisses auf lokaler und regionaler Ebene als einen wesentlichen Faktor. Es sei nicht leicht gewesen, Konkurrenz unter und Vielstimmigkeit innerhalb seiner verschiednen Komponenten bei den Auftritten genügend einzudämmen. Dies habe der Effizienz des Wahlkampfs geschadet. Man habe vor allem weniger politisierte WählerInnen so in die Wahlenthaltung verloren.

Der Wahlkampfleiter von Podemos, Íñigo Errejón, hatte sich zuvor skeptisch bis ablehnend zum Bündnis von Podemos und IU geäußert. Nach der Wahl sah er sich bestätigt: 2 plus 2 ergebe in der Politik nicht unbedingt 4. Das Bündnis mit IU habe nicht die in es gesetzten Erwartungen erfüllt. Andere wollen erkennen, dass UP gerade in Regionen schwach abschnitt, in denen IU zuvor stark war. Dies bestreitet Garzón: eine Analyse von Podemos zeige, dass die Verluste ziemlich homogen über alle Regionen verteilt waren.[5] Allerdings hat in den wenigen Wahlkreisen, in denen Mitglieder von IU Spitzenkandidaten von UP waren, kein einziger von ihnen es ins Parlament geschafft. In einer Umfrage vor der Juni-Wahl gaben 12 % der IU WählerInnen an, keinesfalls für das Wahlbündnis stimmen zu wollen, weitere 30 % waren sich nicht sicher.

Innerhalb von Podemos wurde angesprochen, das Wahlprogramm im Format eines IKEA-Katalogs und der inhaltsleere zentrale Wahlslogan (Unidos Podemos – La sonrisa de un pais; Gemeinsam können wir’s – Das Lächeln eines Landes), garniert mit einem Herzen, sei mit für die Schwäche der Wahlkampagne verantwortlich.

Waren Podemos und die Verhandlungen zur Regierungsbildung seit Dezember 2015 schuld?

Laut einer von der Zentrale mit den lokalen Podemos-Kreisen durchgeführten Konsultation sieht die Basis der Partei eine wesentliche Ursache darin, dass zu viel über die beabsichtigte Koalition mit der PSOE und zu wenig über die Probleme der Bevölkerung und die inhaltlichen Alternativen des Bündnisses gesprochen wurde. Die Parteiführung von Podemos habe während der Debatten im Parlament und bei den letztlich gescheiterten Verhandlungen mit PSOE und C’s widersprüchliche Signale gesendet. Pablo Iglesias hatte zuerst in einer viel beachteten Rede die PSOE und das historische Erbe von Felipe Gonzales scharf kritisiert sowie den Pakt von PSOE und C’s zur Bildung einer sozialliberalen Minderheitsregierung abgelehnt. Nur kurze Zeit später habe er aber dennoch Verhandlungen mit beiden Parteien über eine ‚Alternative zu Rajoy‘ aufgenommen. Als diese scheiterten und so Neuwahlen unausweichlich wurden, propagierten Podemos und IU gemeinsam: die PP ist der Hauptfeind, sie darf nicht wieder regieren – der PSOE reichen wir für eine gemeinsame Regierung die Hand. [6]

Dieser Zickzackkurs – erst scharfe Kritik an der PSOE und dann die Signale, mit ihr regieren zu wollen und dabei zu weitgehenden Zugeständnissen bereit zu sein – sei für manche WählerInnen wohl nicht nachvollziehbar gewesen.

Wahlkampf-Endspurt: ‚Neue Sozialdemokratie‘, Zapatero als Retter usw. …

Insbesondere der Diskurs von Pablo Iglesias und Íñigo Errejón, Podemos dann gegenüber den spanischen Wirtschaftsverbänden als ‚Neue Sozialdemokratie‘ [7] anzupreisen, ist in den Augen der Podemos-Basis nach hinten losgegangen.

Offensichtlich ist, dass das Label Socialdemócrata an der Selbsteinschätzung der meisten WählerInnen von UP und der PSOE vorbeigeht. Für die AnhängerInnen der PSOE ist sozialdemokratisch eher eine Bezeichnung, die auf Formationen wie Tony Blairs New Labour oder Gerhard Schröders SPD der Neuen Mitte zutrifft. Die PSOE mit ihrer ‚heroischen Tradition‘ aus dem spanischen Bürgerkrieg wird von ihnen weiterhin als irgendwie sozialistisch angesehen. Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts CIS vor der Juni-Wahl 2016 bezeichneten sich 49,1 % der befragten PSOE-WählerInnen als sozialistisch und nur 11,7 % als sozialdemokratisch. Bei den AnhängerInnen von Podemos sahen sich 23,8 % als progressiv, 16,9 % als sozialistisch, 7,8 % als kommunistisch und nur 6,3 % als socialdemócrata. Die größte Gruppe der AnhängerInnen von Izquierda Unida (20,9 %) bezeichnete sich als kommunistisch, 16,2 % als progressiv, 15 % als sozialistisch und immerhin 8,2 % als sozialdemokratisch.[8]

In der Endphase des Wahlkampfes rühmte Iglesias den vormaligen Regierungschef der PSOE, José Luis Zapatero, als den besten demokratischen Ministerpräsidenten der spanischen Nachkriegszeit. 2003 hatte Zapatero versprochen, den Vorschlag des Regionalparlaments von Katalonien für ein neues Autonomiestatut zu akzeptieren. Dieser wurde 2010 jedoch vom Obersten Gerichtshof Spaniens endgültig kassiert. Mit der Eloge auf Zapatero beabsichtigte Iglesias offenbar, den Konflikt über ein drohendes einseitiges Unabhängigkeitsreferendum Kataloniens zu entschärfen: die Kräfte in der PSOE stärken, die im Vergleich zur zentralistischen Position ihres Spitzenkandidaten Pedro Sanchez und ihres Altmeisters Felipe González zumindest für eine weitere Föderalisierung des spanischen Staates offen sind.

Die Bewegung der Indignados (15M), die ab dem 15. Mai 2011 Massendemonstrationen und Platzbesetzungen in Spanien durchführte, hatte gegen die ab 2010 von Zapatero betriebene und von der konservativen Regierung nach ihrem Wahlsieg vom 20.11.2011 verschärfte Austeritätspolitik mobilisiert, ‚echte Demokratie‘ und einen verfassungsgebenden Prozess für Spanien gefordert. Podemos hatte sich als Erbe und parlamentarisch-politischer Arm der Indignados präsentiert. Es dürfte für manche WählerInnen aus dem 15-M-Spektrum schwer verständlich gewesen sein, warum der früher gerade von Iglesias scharf kritisierte Zapatero nun von ihm zur umworbenen Lichtgestalt erhoben wurde.

Insgesamt gibt es somit ein Bündel von Faktoren, die für den Rückzug der 1,1 Millionen früherer WählerInnen von Podemos und IU in die Wahlenthaltung auszumachen sind. Die Angstkampagne der PP und Venezuela[9] mögen eine Rolle gespielt haben. Ernüchterung über den von den lokalen und regionalen Linksbündnissen bisher erreichten ‚Politikwechsel‘ , der Diskurs über ‚Neue Sozialdemokratie‘ und das ungewöhnliche Lob auf Zapatero waren auch aus meiner Sicht wohl maßgeblicher.

Teil II: Probleme der Confluencia – ein Rückblick

Aus meiner Sicht formen die diversen Strategiewechsel der beiden Linksformationen Podemos und IU seit 2014 den Hintergrund für die nachlassende Dynamik der Confluencia im Juni 2016.

Das Projekt eines Zusammenflusses oppositioneller sozialer Bewegungen und politischer Strömungen wurde von Pablo Iglesias (damals u.a. noch als Berater von IU tätig) schon in 2013 angeregt. Seiner Analyse nach hätten die massenhaften Proteste der Indignados 2011/12 eine organische Krise der politischen Repräsentation im Sinne von Gramscis Hegemonietheorie ausgelöst. Es habe sich ein neues Alltagsbewusstsein entwickelt, das soziale Grundrechte, wirkliche Demokratie usw. gegen die Austeritätspolitik und neoliberalen Strukturreformen von PSOE und PP kämpferisch einklagt. Die Bewegung der Indignados habe aber scheitern müssen, weil bloße Mobilisierung sozialer Gegenmacht die Institutionen nicht in ihrem Sinne verändern könne.[10]

Es käme also darauf an, dieses neue Alltagsbewußtsein hegemonial zu machen und durch ein möglichst breite Formation auf die politisch-institutionelle Ebene Einfluss zu nehmen. Ein Aufruf ‚Den Stein ins Rollen bringen – Die Empörung in politische Veränderung verwandeln‚ – unterzeichnet von diversen Intellektuellen, Kulturschaffenden, AktivistInnen von 15-M und sozialen Bewegungen – argumentierte in diesem Sinne für ein breites Wahlbündnis zur Europawahl 2014.

Anfang 2014 fanden Gespräche mit Izquierda Unida darüber statt, die aber scheiterten. Man konnte sich unter anderem nicht auf die Methode zur Aufstellung von Wahllisten einigen: Vorwahlen per Internet unter allen SympathisantInnen eines solchen Zusammenflusses oder, wie von IU verlangt, verhandelt durch die beteiligten Parteien und Gruppen? Dahinter standen aber auch Differenzen über das Selbstverständnis des Projekts einer confluencia. Während es IU eher um ein klassisches linkes Wahlbündnis mit breiter Beteiligung aus sozialen Bewegungen auf offenen Listen ging, bestanden die späteren Gründer von Podemos darauf, ‚die Falle von links und rechts zu vermeiden‘ und es als transversale, die tradierten Lager überschreitende Bürgerbewegung aufzustellen.

Podemos Strategie I: Latino-Populismus gegen die ‚Casta‘

Orientiert an der Populismus-Konzeption von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe ging es ihnen darum, mit einer ‚plebejischen Ansprache‘ das ‚Volk‘ mit seinen sozialen und demokratischen Anliegen gemäß einem klaren Freund-Feind-Schema gegen die korrupte ‚politische Kaste‘ und die ‚alten Eliten‘ in Stellung zu bringen. Von einer Lateinamerikanisierung der spanischen politischen Landschaft war die Rede. Die Gewerkschaften und die traditionelle Linke (wie IU) hätten angesichts der 15-M-Bewegung versagt. Ihre traditionelle Rhetorik von Klassenkampf und ‚linken Werten‘ könne nur kleine Minderheiten erreichen. 15-M habe diskursiv ein Fenster der Gelegenheit geöffnet, um das ’neue Alltagsbewusstsein‘ jenseits der tradierten Symbolik von links und rechts politisch wirksam zu machen.

Dieser Diskurs wurde zuvor in Fernsehprogrammen wie La Tuerka (Die Schraube) und Fort Apache getestet, die von einigen der späteren Podemos-Gründer betrieben wurden. Als dessen Propagandist war Pablo Iglesias bereits seit 2013 auch durch viele Auftritte in diversen anderen Talkshows etabliert. Das Konterfei des bekannten ‚Professors mit dem Pferdeschwanz‘ zierte als Logo für Podemos die Stimmzettel zur Europawahl 2014. Das Projekt Podemos war so schon in einem sehr frühen Stadium von einem Dutzend Akademikern der Madrider Universität Complutense – mit soziologischen Studien und Thesenpapieren unterfüttert – quasi am Reißbrett entworfen worden.

Im Zentrum stand eine mediale (TV, Radio, Internet) Diskursstrategie von einem neuen ‚Wir‘ gegen das ‚alte, korrupte Establishment‘ aus Wirtschaft, PP und PSOE. Die ‚Organizer‘-Fähigkeiten von Gruppen wie Izquierda Anti-Capitalista, Juventud sin Futuro und anderen aus der 15-M Szene waren als Rückgrat des Kampagnen-Apparats zum Parteiaufbau (Podemos-Kreise auf lokaler und regionaler Ebene, Koordination durch die Zentrale) zunächst nützlich und willkommen. Die neue Formation Podemos schaffte bei der Europawahl im Juni 2014 aus dem Stand 8 % und IU 10 %.

Im November 2014 kam dann die Bürgerversammlung der Podemos-Kreise in Vistalegre zusammen, um das Programm und die Statuten für die neue Partei zu verabschieden. Gemäß dem offiziellen Anspruch, ‚echte Demokratie‘ anzustreben und eine ‚Bürgerbewegung‘ bilden zu wollen, wäre eine pluralistisch zusammengesetzte, integrative kollektive Leitung von Podemos eigentlich zu erwarten gewesen. Per Internet (statt auf Voll- oder Delegiertenversammlungen der Mitglieder) wurde abgestimmt, und den máximo lider kannten ja alle aus dem Fernsehen.

So setzte sich das von Pablo Iglesias vorgeschlagene traditionelle Parteimodell durch: ein Generalsekretär an der Spitze, der das Personal der Parteizentrale nach gusto besetzen kann; und eine Wahl nach geschlossenen Listenvorschlägen für die zentralen Parteigremien. Die von Iglesias vorgeschlagene Liste machte den Durchmarsch, er wurde Generalsekretär. Die für den Parteiaufbau vormals so nützlichen ‚Kader‘ der Izquierda Anti-Capitalista verloren ihre Stellen im zentralen Apparat, denn Doppelmitgliedschaften in Organisationen müssten bei Podemos künftig vermieden werden. In Iglesias Worten: „Falls uns irgendetwas stark gemacht hat, dann dass wir es militanten Gruppen nicht erlaubt haben, uns von den Wünschen der Gesellschaft zu isolieren (und) eine Organisation zu übernehmen, die (…) ein Instrument für den Politikwechsel in Spanien ist.„[11]

Aus den hier ausführlicher geschilderten Konfliktlinien um die politische Strategie ergibt sich m.E. ein Strukturmuster, welches das ‚politische Feld‘ der Confluencia und die Widersprüche seiner Akteure bis heute ungelöst prägt : z.B. Linksblock- plus ‚Volksfront‘-Strategie auf Seiten von IU, Populismus plus Transversalismus auf Seiten von Podemos, und deren entsprechende Mischungen später. Die Entwicklungen seit der Europawahl 2014 bis nach der Wahl vom Juni 2016 zeichne ich vor diesem Hintergrund eher kursorisch nach.

Als Podemos von November 2014 bis Januar 2015 in Umfragen bisweilen als stärkste Partei oder gleichauf mit den Konservativen lag, sah sich die Parteiführung mit ihrer populistischen Strategie à la Laclau bestätigt. Nach dem Vorbild von Syriza in Griechenland wollte sie so die Regierungsmacht erobern, um den Austeritätskurs in der EU zu beenden.

Bei den Regionalwahlen im Mai 2015 trat Podemos in mehreren Großstädten in breiten Wahlbündnissen mit Kräften aus den sozialen Bewegungen an. Im gesamtspanischen Durchschnitt kam die Partei mit rund 15 % aber nur auf den dritten Platz. Bekannt sind die Erfolge von Barcelona En Comú mit Ada Colau als Gewinnerin der Bürgermeisterwahl, aber ohne Mehrheit für ihr Bündnis im Stadtrat von Barcelona. Oder Ahora Madrid (ein Bündnis von Kräften aus lokalen sozialen Bewegungen, IU und Dissidenten von Podemos) mit Manuela Carmena als neuer Bürgermeistermeisterin. Auch in Valencia, Zaragoza, A Coruña, Santiago, Irunea, Badalona und Cádiz konnten linke Ratslisten deutlich punkten. Häufig wurden aber lokale Bündnisse mit der PSOE geschlossen, um mit breiteren Mehrheiten regieren zu können. Im Populismus-Konzept von Podemos war die PSOE als Bestandteil der korrupten und mit der Oligarchie verbunden politischen Kaste gebrandmarkt worden. Nun nahm man in Bezug auf die PSOE zunehmend Abstand von diesem ursprünglichen Diskurs – der erste Strategiewechsel.

Podemos Strategie II: Transversal in die Mitte expandieren

Umso mehr wurde nun die Transversalität von Podemos hervorgehoben. Um WählerInnen aus der Mitte nicht zu verschrecken, wurde programmatisch gegenüber dem erwähnten Aufruf ‚Den Stein ins Rollen bringen‘ und dem Europawahlprogramm von 2014 abgerüstet. So wurde z.B. die Forderung nach einem Austritt aus der NATO und der Vergesellschaftung der Energieversorgung fallen gelassen, die harte Kritik an der spanischen Verfassung von 1978 und Forderungen zur Umverteilung des Reichtums abgeschwächt.

Für die Parlamentswahl im Dezember 2015 trat Podemos in einigen Regionen im Rahmen von Bündnislisten mit IU, Grünen und diversen anderen Kräften an (Galicien, Katalonien, Valencia), die sehr gute Ergebnisse erzielten. IU unter ihrem neuen Frontmann Alberto Garzón hatte bereits nach den Regionalwahlen vom Mai 2015 darauf gedrungen, für die Parlamentswahl im Dezember eine breite Confluencia auf nationaler Ebene zu schmieden. Jetzt war es die Podemos- Zentrale, die dies ablehnte und IU als ‚traditionelle bürokratisierte Linke‘ angriff. Pablo Iglesias und Íñigo Errejón bauten eine straff von oben geführte Wahlkampfmaschine auf, um Podemos ‚als Marke‘ für die Dezemberwahl und den angestrebten ‚Cambio‘ (Politikwechsel) zu etablieren. Die PSOE müsse dafür einen Wende um 180 Grad in ihrer Politik machen.

Um den ‚transversalen’ Charakter des Podemos- Projekts zu unterstreichen, drückte die Zentrale den Parteigliederungen in den Regionen Honoratioren als Kandidaten auf, die früher wohl eher für die PSOE kandidiert hätten. So etwa den ‚roten General’ Julio Rodriguez (2008 unter Zapatero oberster Chef der Streitkräfte)[12], oder Juan Antonio Delgado Ramos, ein früherer hoher Beamter der Guardia Civil, sowie Verfassungsrechtler, Schrifsteller, den Vorsitzenden der spanischen Grünen (Equo) auf diversen anderen Listenplätzen. Diese Eingriffe der Zentrale führten zu einigem Unmut an der regionalen Basis von Podemos, die sich um ihre demokratischen Rechte bezüglich der Listenaufstellung verprellt sah.

IU-Strategie zur Dezember Wahl 2015: Linkes Korrektiv zu Podemos

IU unter Garzon reagierte darauf, sich mit einigen kleineren Bündnispartnern durch die Liste IU-Unidad Popular zu behaupten – als linkes Korrektiv von Podemos. Von Podemos aufgegebene Positionen (Austritt aus der Nato, Vergesellschaftung des Energiesektors, sowie von IU schon immer vertretende Positionen wie fundamentale Verfassungsreform zur Überwindung des ‚Regimes von 1978‘, soziale Republik und Abschaffung der Monarchie, Anti-Klerikalismus usw.) erhob sie zu ihrem Markenzeichen als standhafte Linke gegen den Drang der Podemos-Führung zur ‚Mitte‘. Gleichzeitig wurde beklagt, dass IU zuvor die von 15-M erzeugte Veränderung des Alltagsbewußtseins ungenügend erfasst habe, eine Öffnung gegenüber den Wünschen der ’sozialen Mehrheit‘ erforderlich sei. Partizipative Demokratie, Internet-Vorwahlen unter registrierten SympathisantInnen etc. waren die Methoden, um IU-UP im linken Spektrum der Indignado-Nachfolge-Strukturen (PAH – Bündnis gegen Zwangsräumungen, Mareas – Aktivistennetzwerke im Gesundheits- und Bildungswesen usw.) und darüber hinaus attraktiver zu machen. Dies wurde von innerparteilichen KritikerInnen als ’schleichende Podemisierung‘ von IU angeprangert.[13] Nach der Wahl im Juni 2016 wurde dieser Kurs von einer großen Mehrheit als neue Methode zur Erneuerung gebilligt und umgesetzt.

Medial und wahlpolitisch war Podemos als zentralisierte Wahlkampfmaschine im Dezember 2015 recht erfolgreich – die Partei mit ihren verbündeten Listen kam auf 20,6 %, IU hingegen stürzte auf 3,7 % ab. Podemos mobilisierte Proteststimmen von vormaligen Nicht-WählerInnen, etwa 30 % ihrer WählerInnen stimmten früher für PSOE, und ihre Listen erhielten massiv Zulauf von AktivistInnen sozialer Bewegungen als auch von Teilen der nationalen Minderheiten (Galicien, Katalonien, Valencia, Baskenland). Die Parteiführung hatte sich allerdings ein noch besseres Ergebnis erhofft.

Transversalismus: Hype und Wirklichkeit

Die Hypothese vom ‚transversalen‘ Charakter des Podemos-Projekts lässt sich m.E. empirisch nicht erhärten. Es ist Podemos nicht gelungen, z.B. frühere WählerInnen von PP oder C’s in wahrnehmbaren Umfang zu gewinnen. Vielmehr handelt es sich nach wie vor um eine Umgruppierung im breiteren ‚ideologisch linken‘ Lager (wenn man die PSOE dazu zählt) – und nicht um eine ‚Dritte Kraft‘, die sich dazwischen schiebt. So sehen sich Podemos-WählerInnen in ihrer Mehrheit links von der PSOE, die WählerInnen von IU links von Podemos.[14] Podemos und IU sind stark bei jungen WählerInnen bis 34 mit Abitur oder vergleichbaren Abschlüssen und höher, während Erwerbsabhängige ohne Abschluss oder mit geringer Qualifikation mehrheitlich PSOE wählen.[15] Insofern gilt auch für UP als Projekt einer Confluencia: die Mehrheit ihrer WählerInnen verortet sich politisch links der PSOE; soziologisch betrachtet konnte UP der PSOE ihre relative Mehrheit bei Erwerbslosen und Niedrigqualifizierten noch nicht streitig machen.

Der Diskurs über Podemos/UP als ‚Neue Sozialdemokratie‘ war insofern ein weiterer Strategiewechsel. Mit diesem Label engte man den zuvor propagierten breiten transversalen Charakter des Projektes deutlich ein. Über einen Zeitraum von zwei Jahren ständigen Wahhlkampfs wurden so mehr und mehr Botschaften seitens der Parteiführung von Podemos gesendet, die in sich nicht mehr konsistent waren. Ihre gut geölte Wahlkampfmaschine wurde im Juni 2016 mit Fernsehauftritten wie z.B. von Errejón zu Generationengerechtigkeit etc., um bei den Rentnern noch ein paar Zehntelprozentpunkte heraus zu holen, letztlich ‚politizistisch‘ überstrapaziert. Dass vor dem Hintergrund dieser letzten 2 Jahre bei einem Teil der WählerInnenschaft beider Formationen Zweifel angesichts so schnell wechselnder und widersprüchlicher Signale über die Ziele und realen Absichten des Bündnisses Unidos Podemos aufkamen, ist m.E. insofern nicht so verwunderlich.

Schwache Sozialdemokratie

Programmatisch war die 50-Punkte umfassende Plattform des UP-Bündnisses tatsächlich eher sozialdemokratisch: Forderungen nach Einführung einer Garantierente und einer bedarfsgeprüften sozialen Grundsicherung, Kampf gegen Steuerbetrug und Korruption, Förderung erneuerbarer Energien, föderative Verfassungsreform mit Anerkennung der Rechte kleiner Nationen, Recht auf ein Unabhängigkeitsreferendum für Katalonien usw.. Wirtschaftspolitisch setzte sie auf gemäßigt keynesianische Maßnahmen, um die öffentlichen Einnahmen zu verbessern und Wachstum und Beschäftigung zu fördern.

Iglesias und Garzón lehnen die von der EU verlangte Austerität und weitere neoliberale Strukturreformen klar ab. Nach der Niederlage von Syriza in Griechenland halten sie aber den Ball flach und wollen eine offene Konfrontation mit den EU-Institutionen vermeiden. Die UP-Wahlplattform verlangte lediglich etwas mehr Zeit, um das spanische Defizit unter die 3 %-Marke zu bringen. Verhandlungen über die staatliche Gesamtverschuldung (Schuldenschnitt nach öffentlichem Schuldenaudit etc.) will UP eher später führen, wenn eine gewisse fiskalische Konsolidierung in Spanien erreicht sei. Die EU-Auflagen erfüllen, ihre Umsetzung aber zeitlich strecken ist von Renzi (Italien) über Hollande (Frankreich) bis Rajoy stets Verhandlungsstrategie gewesen – UP geht im Kern kaum darüber hinaus. Das Pochen auf die Bewahrung demokratischer Volkssouveränität in Spanien usw. ist rhetorische Begleitmusik dazu.

Obwohl das EU-Thema durch das Brexit-Referendum für alle sichtbar auf der Tagesordnung stand, rund 49 % der spanischen Wahlbevölkerung von der gegenwärtigen EU tief enttäuscht sind, und die EU mit finanziellen Sanktionen wegen des spanischen Haushaltsdefizits drohte, hat dies im Wahlkampf von UP keine große Rolle gespielt. Die Mehrheit von IU und Podemos (einschließlich der Izquierda Anti-Capitalista) glauben an eine Reform der EU im Sinne eines ’sozialen Europa‘. Der historische Frontmann von IU in den 1980/90er Jahren, Julio Anguita, hatte im Februar 2015 mit zahlreichen prominenten UnterstützerInnen einen Offenen Brief ans spanische Parlament gerichtet, den Fiskalvertrag aufzukündigen und die von Zapatero auf Druck aus Brüssel und Berlin eingeführte Schuldenbremse in der spanischen Verfassung zu streichen. Podemos und IU griffen diese Inititative damals nicht auf.[16]

Ironischerweise ist es heute die traditionell euro-kommunistische PCE (KP Spaniens) – die bedeutendste politische Kraft der rund 18 kleineren Kompenenten der IU – die einen Austritt Spaniens aus dem Euro und der EU propagiert, verbunden mit der Forderung der Indignados nach einem verfassungsgebenden Prozess für Spanien.[17] Die PCE stützt ansonsten aber den Kurs von Garzón und ist damit zufrieden, dass Unidos Podemos sich kritisch zum EU-Austeritätskurs äußert.

Im Vergleich zum ‚Gemeinsamen Programm‘ der französichen Sozialisten und Kommunisten der späten 1970er Jahre, der Wahlplattform von Mitterand in Frankreich, der PASOK unter Andreas Papandreou in Griechenland und der ‚Alternativen Wirtschaftspolitik‘ der Labour Party in Großbritannien in den frühen 1980ern usw. sind das ‚Programm von Thessaloniki‘ von Syriza in Griechenland und auch die 50 Punkte von UP in Spanien ein schwacher Abglanz auf frühere sozialdemokratische Programmatik (von der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ganz zu schweigen). In dieser Hinsicht teile ich die skeptische Einschätzung von Susan Watkins (Herausgeberin der New Left Review), die unlängst die ’neue Opposition‘ an den Beispielen der Präsidenschaftskampagne von Bernie Sanders in den USA, der Kampagne von Jeremy Corbyn zur Reform der Labour Party, von Syriza, der 5-Sterne-Bewegung (M5S) Beppo Grillos in Italien und eben von Podemos/IU ins Spanien untersucht hat.[18]

 

Teil 3: Perspektiven der Confluencia

 

Insgesamt hat die UP ein ‚politisches Feld‘ von immerhin einem Fünftel der WählerInnen behaupten können, das heterogene Strömungen umfasst. Nur Syriza war einst stärker, und ansonsten kommt in der EU nur die portugiesische Linke (Bloco de Esquerda, PCP) zusammen auf ähnliche Werte. Ohne die Gründung und den Aufstieg von Podemos wäre IU wie andere Linksparteien in der EU vielleicht bei 8 – 15 % Wählerzustimmung. Insofern ist dies zunächst ein beachtliches Ergebnis.

Innerhalb von IU, Podemos und den regionalen Bündnissen wird die mit UP erreichte confluencia von Mehrheiten als richtiger Schritt angesehen, der weiterentwickelt werden müsse. Alberto Garzón (IU) wirbt für den Aufbau der Confluencia als einer ‚politisch – sozialen Bewegung‘, die die Interessen der gesellschaftlichen Mehrheit in den Mittelpunkt stellt. Iglesias und Errejón bemühen wieder Gramsci: man müsse nun vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg übergehen. Was dies konkret bedeutet (mehr ‚Flexibilität und Anpassungsfähigkeit‘ für Errejón; von der ‚Partisanengruppe zur regulären Armee‘ für Iglesias), bleibt vorerst offen.[19]

Die Europäische Kommission hat die Spanien und Portugal angedrohten Sanktionen wegen Überschreitung des Haushaltsdefizits (-5,1 % des BIP 2015) vorerst ausgesetzt. Juncker will insbesondere Rajoy Zeit geben, eine stabile Regierung zu bilden, die den Austeritätskurs forsetzt. Die Forderungen aus Brüssel zu neoliberalen Strukturreformen und Haushaltskürzungen sollen von ihr erfüllt werden.

PP und C’s verfügen zusammen mit der Regionalpartei Coalición Canaria über 170 Abgeordnete im spanischen Parlament. Sie benötigen nur sechs Enthaltungen aus anderen Fraktionen, um Mariano Rajoy oder einen anderen Kandidaten der PP zum Ministerpräsidenten zu wählen. Innerhalb der PSOE trommeln Felipe González und die andalusische Ministerpräsidentin Susana Diaz bereits für eine Enthaltung der PSOE aus staatspolitischer Verantwortung. Sollte die PP erfolgreich eine Regierung bilden können, hat UP in der Opposition Zeit, um sich strategisch, programmatisch und organisatorisch weiter aufzustellen. Ein Verständigungsprozess unter den verschiedenen Komponenten der Confluencia über ihr Selbstverständnis, ihr künftiges Organisationsmodell und die nächsten Schritte hat noch nicht stattgefunden.

Dies wird nicht einfach werden. Die regionalen Bündnisse verlangen mehr Autonomie von der Podemos-Zentrale, was nachvollziebar ist. Ein Rückzug auf regionale ‚Fürstentümer‘ ohne klare gemeinsame Linie auf nationalstaatlicher Ebene hatte z.B. IU in den vergangenen zehn Jahren aber schon einmal an den Rand der Handlungsunfähigkeit gebracht. Bewegungen gegen die dann zu erwartendenen neuen Kürzungen aufzubauen wird sicher von UP unterstützt werden. Allerdings sind viele AktivistInnen von sozialen Bewegungen inzwischen in lokalen und regionalen Verwaltungen eingebunden und absorbiert.

Scheitert die Bildung einer konservativ-liberalen Regierung, werden die Debatten um eine ‚alternative Regierung‘ aus PSOE, C’s und UP weiter an Fahrt gewinnen. Aus Teilen des UP-Spektrums wird dies propagiert.[20] Selbst Alberto Garzón hat sich dem König schon als Vermittler einer ‚alternativen Konstellation‘ empfohlen.[21] Eine dem neo-liberalen Paradigma weiterhin verschriebene PSOE, eine hart neo-liberale Partei wie C’s plus die schwache Sozialdemokratie von UP: Dies würde für die ‚confluencia‘ die bekannten Probleme der Mitte-Links-Bündnisse der letzten Jahrzehnte mit sich bringen, dass selbst milde sozialdemokratische Forderungen nicht umgesetzt werden. Der Druck aus Brüssel, Berlin und Frankfurt auf solch eine Regierungskonstellation würde jedenfalls zunehmen.

Ein wesentlicher Faktor für Instabilität in Spanien dürfte mit dem geplanten einseitigen Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien in 2017 virulent werden. Eine stärkere Föderalisierung des spanischen Staats mit gestärkten Rechten für seine kleineren Nationen ist weder mit C’s noch mit der PSOE zu machen. Eine Verfassungsreform bräuchte zudem die Zustimmung des Senats, in der die zentralistisch orientierte PP eine satte absolute Mehrheit hat.

Harte Konflikte (Austerität, Katalonien usw.) sind also zu erwarten, die für die bisher erreichte Confluencia auch zur Zerreißprobe werden können.

 

 

[1] Spanien hat ein Verhältniswahlrecht nach D‘ Hondt nur auf Wahlkreisebene. Anders als z.B. in Deutschland mit seinem System von Erst- und Zweitstimmen und einer proportionalen Verteilung der Bundestagsmandate nach den bundesweit erreichten Zweitstimmenanteilen der Parteien werden kleinere Parteien wie C’s oder IU durch das spanische Wahlsystem benachteiligt. In Wahlkreisen mit kleinerer oder mittlerer Wahlbevölkerung müssen sie z.B. auf 8 – 10 % oder mehr kommen, um dort ein Mandat zu erringen.
[2] http://www.elmundo.es/espana/2016/06/27/5770fe0d268e3e863a8b45e4.html
[3] http://www.eldiario.es/politica/graficos-entender-mejor-pasado-podemos_0_531247643.html
[4] http://www.raulzelik.net/baskenland-texte/480-im-treibsand-der-institutionen-barcelonas-linke-stadtregierung-woz-mai-2016
[5] http://www.eldiario.es/politica/Garzon-proceso-confluencia-Podemos-IU_0_537547102.html
[6] http://www.eldiario.es/politica/Podemos-discurso-socialdemocrata-PSOE-perjudicaron_0_535446826.html
[7] http://www.eldiario.es/tribunaabierta/nueva-socialdemocracia_6_520108022.html
[8] http://elpais.com/elpais/2016/06/09/media/1465494615_541772.html
[9] Venezuela unter Chavez und Maduro, Argentinien unter den Kirchners, Brasilien unter Lula und Roussef etc. – der lateinamerikanische (Links)Populismus, an dem sich Podemos vor allem theoretisch und strategisch orientierte, und als dessen Berater einige der Podemos-Gründer wie Monedero und Errejón vormals tätig waren, erleidet tiefe Rückschläge. Zuvor Symbole der Hoffnung für die ‚europäische radikale Linke‘, stürzte die Krise des lateinamerikanischen Populismus diese Kräfte in eine gewisse Ratlosigkeit. Das machen sich die rechten Kräfte zu Nutze.
[10] Ich folge hier weitgehend der Darstellung, die Iglesias in der Zeitschrift New Left Review (No 93, May June 2015) in einem Artikel (Understanding Podemos) und einem Interview (Spain on Edge) gegeben hat. https://newleftreview.org/II/93/pablo-iglesias-understanding-podemos; https://newleftreview.org/II/93/pablo-iglesias-spain-on-edge
[11] Iglesias, Spain on Edge, NLR 93 May June 2015
[12] Rodriguez gewann allerdings weder bei der Wahl 2015 (Listenplatz 2 in Zaragoza) noch bei der Wahl 2016 (Listenplatz 1 in Almeria) ein Mandat im spanischen Parlament.
[13] http://www.eldiario.es/politica/IU-directamente-inmersion-proyecto-Podemos_0_520398588.html
[14] http://elpais.com/elpais/2016/06/09/media/1465501002_875256.html?rel=mas
[15] http://politica.elpais.com/politica/2016/06/10/actualidad/1465551355_015462.html
[16] Sogar Francois Hollande (PS) hatte seinen Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich 2012 u.a. noch mit dem Versprechen bestritten, den Fiskalvertrag abzulehnen und neu verhandeln zu wollen.
[17] http://politica.elpais.com/politica/2016/05/26/actualidad/1464250750_839667.html
[18] https://newleftreview.org/II/98/susan-watkins-oppositions
[19] http://www.eldiario.es/politica/Pablo-Iglesias-acojona-partisanos-ejercito_0_533696752.html; http://www.eldiario.es/tribunaabierta/asalto-cerco-Podemos-nueva-fase_6_538306170.html
[20] http://www.eldiario.es/politica/Izquierda-Abierta-Recortes-Podemos-PSOE_0_542096200.html
[21] http://www.eldiario.es/politica/Alberto-Garzon-PSOE-alternativa-Rajoy_0_541396717.html

MEHREBENENSYSTEM STAAT UND EU: Eine journalistische Frage und eine notwendige Reflexion

„Weshalb kämpfen Sie nicht einfach für andere Mehrheiten im Europäischen Parlament?“ fragte ein Journalist der taz (Berlin) vom 18. Juli 2016 Andreas Nölke von Eurexit in einer unnachahmlichen Mischung von Zynismus, dummen Unverständnis und Arroganz. Nölke reagierte taktisch richtig. Anstatt ihm sein Bobo-Blatt um die Ohren zu hauen, erklärte er ruhig: „So einfach ist das nicht. … Das werden wir innerhalb der jetzigen EU niemals durchsetzen können…“

Das Zentralorgan der deutschen Superstaats-Verherrlicher ist zu 150 % in dieses System integriert, hat sich’s in ihm bequem gemacht und wird dies sicher nicht verstehen. Wie könnten diese Leute begreifen, dass dieser Vorschlag die volle Akzeptanz dieses bürokrati­schen Apparats bedeutete? Die falschen Antiautoritären von einst sind da freilich nicht die einzigen. Es ist schwierig für alle liberalen Mittelschichtler, den fundamental antidemo­kratischen und antiegalitären Charakter der EU zu erfassen und daher ihre Opposition auf den Verein insgesamt, und nicht nur auf den Euro als sein Instrument auszudehnen.

Diese Passage und das Interview insgesamt bietet aber den Anlass, ja macht es notwendig, in Erinnerung zu rufen, wieder einmal, was Staat ist, und was EU ist.

Mehrebenensystem ist das Vokabel, welches in den theoretischen Bemühungen zur EU wohl am häufigsten vorkommt. Aber: Jeder Staat ist ein Mehrebenensystem.

Ich nehme das Risiko gern in Kauf, als seniler Theoretiker der alten Linken zu erscheinen. Doch erinnern wir uns! Schon Engels hat sich mit dem „Ursprung des Staats“ auseinander gesetzt. Als historischer Materialist wusste er, dass die Entstehung und Entwicklung solcher politischer Strukturen einen hohen Erkenntniswert auch für die Gegenwart hat. In den 1960ern, `70ern und `80ern` haben vor allem US-amerikanische Anthropologen und Archäo­logen diese Frage wieder aufgegriffen. Viele von ihnen haben es allerdings ängstlich vermieden, den Namen Engels zu erwähnen – McCarthy war nicht so lange her. An der konkreten Entwicklung Mesopotamiens vor mehr als fünf Jahrtausenden oder an der von Altamerika drei Jahrtausende später haben sie empirisch gut abgestützte Prozess-Analysen zur Entstehung von frühen Staaten („pristine states“) vorgelegt. Ich verkneife mir hier den Drang, Autoren und Beiträge zu nennen. Wesentlich ist das Ergebnis:

Staat ist ein gewaltgestütztes Umverteilungssystem nach oben, dessen Apparat mindestens drei Ebenen umfasst. Die konkrete unterste führt die eigentlichen, die materiellen Umverteilungs-Prozesse durch, schöpft das Mehrprodukt ab und leitet es den Eliten zu. Die mittlere, gewöhnlich in Siedlungen intermediärer Größe zwischen den Dörfern und den Städten lokalisiert, kontrolliert die unterste und korrigiert sie manchmal auch. Die oberste Ebene formuliert die allgemeinen Regeln und übt auch eine allgemeine Kontrolle aus. Sie saß – nicht in Brüssel oder Berlin sondern – in Uruk oder Cuzco.

In der weiteren Entwicklung kamen zusätzliche Ebenen hinzu. Insbesondere entstand bald eine überregionale imperiale Ebene.

Diese Darstellung ist gewiss modellhaft-schematisch. Doch der entscheidende Punkt ist das Mehrebenensystem.

Springen wir in die Moderne! Die weitere Entwicklung brachte insbesondere das Entstehen des Nationalstaats. Seine Potenz zieht er aus der überregionalen Integration von lokalen und regionalen Gesellschaften auf der Basis eines verallgemeinerten Konsenses in der Form nationaler Identität. Dieser Konsens und diese Identitäten waren im 19. Jahrhundert durchaus auf einen Verbund von Eliten, Intellektuellen und Oberen Mittelschichten beschränkt, auf „Besitz und Bildung“. Doch etwa Mitte des 20. Jahrhunderts, mit einigen Vorläufern schon früher, gelang es diesem Staat, die Unteren Mittelschichten und die Unterschichten weit­gehend zu integrieren. In seinem Charakter als Sozialstaat bot er ihnen die Absicherung ihrer Lebens-Risiken an und erhielt so ihre Loyalität.

Auf die Dauer kamen den Eliten diese Anbote aber zu teuer. In den USA starteten sie ein offenes Comeback und ein Rollback. In Europa dagegen erfanden sie die EG /EU. Damit kommen wir auf den Mehrebenen-Charakter des Staats zurück.

Das Einziehen einer Ebene über den operativen Prozessen des Alltags-Geschehens macht politisch durchaus Sinn. Normensetzung kann und soll ein abstrakt-universalistisches Ziel haben. Das verhindert in der Tendenz Klientelismus und flicht drückende Machtkonzentratio­nen auf lokaler und regionaler Ebene auf. Man denke an den Grundherrn, der gleichzeitig politische Instanz (z. B. Bezirkshauptmann) und Richter war und dies Alles in seinem Interesse ausspielte! Es war eine der Leistungen des Nationalstaats, diese Häufung von Macht weiter unten durch eine Zentralisierung auf mittlerer Ebene aufzuheben.

Der Prozess wird blitzartig zur erneuerten Unterdrückung, wenn weitere Zentralisierung die ohnehin nur rudimentäre Kontrolle von Unten unmöglich macht. Das Einziehen einer weiteren staatlichen Ebene, voll ausgestattet mit politischer Zwangsgewalt, macht die Real-Abstraktion des Staats wieder zum bösartigen Leviathan, zum Götzen der Macht im Interesse der Eliten.

Auf dieser weiteren Ebene, dem neuen imperialen Staat, agierten die Eliten wiederum weitgehend unkontrolliert und treffen Entscheidungen im Namen des Sachzwangs. Mit dem lügnerischen Versprechen von Wohlstandssicherung durch „mehr Wachstum“ und „trickle down“ gelang es ihnen kurzfristig, einen erheblichen Konsens für das Imperium zu organi­sieren. Die Währungsunion sollte den Prozess unumkehrbar machen. Sie sollte überdies den Abbau der Leistungen für die unteren zwei Drittel der Gesellschaft automatisieren und gegen mögliche Korrekturen immunisieren.

Dabei allerdings überzogen die Eliten und ihre politischen Handlanger. Es gibt nunmehr massenhaft Widerstand. Den versuchen sie zu diskreditieren. So kommen also die Propagandisten des Systems und fragen zynisch: Warum organisierst Du Dir keine Mehrheit für eine soziale EU? Sie selbst wissen natürlich sehr wohl: Diese EU wurde dazu konstruiert, den Sozialstaat abzubauen und entsprechende Leistungen zu verhindern.

Aber das soll uns nicht hindern, eine tatsächlich wichtige Frage zu stellen. Der Nationalstaat war ursprünglich eine Eliten-Konstruktion. Doch unter dem Druck des allgemeinen Wahl­rechts, noch mehr aber unter dem Druck von drohenden Konkurrenz-Systemen wurde kurzfristig der Sozialstaat daraus. Kann man so was nicht auch mit der EU machen?

Wir müssen uns zuerst einmal vorübergehend von der Terminologie „national – übernational“ lösen, wenn wir ernsthaft diskutieren wollen. Denn das behindert den Blick auf die reale Entwicklung. Und dann brauchen wir nochmals einen historischen Umweg.

Die Arbeiterbewegung und die Linke entstanden unter zwei politischen Impulsen. Der eine war der anarchistische: Wir wollen Herrschaft abbauen und damit Selbstbestimmung ermög­lichen. Dazu müssen wir den Staat zerschlagen.

Der zweite Impuls aber argumentierte anders herum: Ja, wir müssen den alten Staat zerschla­gen. Aber wir wollen die Produktion steigern und damit allen Menschen die materielle Mög­lichkeit zu Wohlstand und damit zu besserem und erfüllten Leben bieten. Dafür aber brauchen wir Großgesellschaft, also einen neuen Staat, zumindest zeitweise. Und diesen Staat brauchen wir auch als Instrument, um den alten Staat und die alte Gesellschaft zu überwinden.

Ich möchte hinzufügen: Wenn wir Großgesellschaft wollen, brauchen wir den neuen Staat auf Dauer. Aber wir müssen ihn strikt von unten kontrollieren.

Beide Impulse waren in der Linken stets vorhanden.

Was ist nun also mit dem Schritt über die Nation und den Nationalstaat hinaus?

In vieler Hinsicht haben sich Gedanken verselbständigt, die einmal aus der Linken kamen, wurden dabei aber vergröbert und trivialisiert. Es entstand ein wunderlicher Vulgär-Marxismus, der den meisten gar nicht bewusst ist. Da ist viel Trägheit des Denkens dabei. Nicht nur die (Links-) Liberalen, auch Menschen in der Tradition der alten Linken, sind völlig von der Idee des Nationalstaats besessen. Sie können sich eine weitere Entwicklung nur in dieser Form vorstellen. Nach Außen hin vertreten sie einen rabiaten Antinationalismus. Sieht man aber genauer hin, wollen sie nichts Anderes, als den Nationalstaat vergrößern. Das entspricht haargenau den Absichten der Eliten und der EU. Die wollen allerdings den für uns wesentlichsten Charakter des zeitgenössischen Nationalstaats, den Sozialstaat, dabei unter den Tisch fallen lassen.

Ehrliche Linke müssen sich neue Formen der internationalen Kooperation überlegen. Die vergrößerte Form des alten Nationalstaats wird dies nicht sein. Internationalismus ist das Gegenteil von Supranationalismus.

Wie sehr in einem Jahrhundert die internationale Organisation aber auch Elemente supra­nationaler Institutionen unter der effizienten Kontrolle von Unten umfassen kann, ist eine Frage, die uns heute weder theoretisch noch praktisch bekümmern muss. Heute sind solche Elemente oder vielmehr solche Institutionen nur Instrumente der Unterdrückung und des Sozialabbaus. Daher müssen wir die EU zerschlagen, nicht nur ihr Hauptinstrument, die Währungsunion und den Euro.

Albert F. Reiterer, 6. August 2016

DIE ITALIENISCHE BANKENKRISE UND DIE BANKEN-REGULIERUNG. Was überwiegt: Die Ideologie oder die politischen Nöte des Herrn Renzi?

Die Brexit-Volksabstimmung hat eine auf dem ersten Blick merkwürdige Konsequenz: In Italien wird eine Bankenkrise akut. Nicht dass diese Krise sonderlich überrascht. Man hat seit Längerem dort etwas erwartet. Aber das zeitliche Zusammenfallen ist auffällig.

Italien sitzt seit zwei Jahrzehnten in einer Falle von fehlendem Wachstum und hoher Staats­verschuldung – „a growth trap“, wie es in angelsächsischen Medien heißt. Das ist im We­sentlichen ein €-Problem. Seit die italienischen Regierungen, und im Besonderen der EU-Statthalter Prodi, unterstützt von den aus der KPI hervorgegangenen Demokraten, in den 1990ern den Beitritt zur Währungsunion beschlossen, geht nichts mehr weiter, stagniert die vorher so dynamische italienische Wirtschaft. Verwunderlich ist dies nicht. Der Versuch, mittels Ausgabenkürzungen die Fetisch-Ziele des Maastrichter-Vertrags zu erreichen, musste kontraktiv wirken. Da die italienische Wirtschaftspolitik überdies seit dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere seit den 1960ern auf ein Modell der hohen Inflation ausgerichtet war, das aber wachstumsstimulierend wirkte, war die auf das deutsche Modell ausgerichtete Euro-Union Gift für das Land.

Auf diese für Italien verheerende Grundsituation setzte nun die Bail-in-„Reform“ der EU / EZB auf und verschärft die Lage entscheidend.

Aber ist denn der Grundgedanke einer Beteiligung der Kapitalinhaber und Anteils-Eigner anstelle der sogenannten Rettungen mit Steuergeld höchst überfällig?

Teilen wir die Problematik in einen quasi-technischen und einen grundsätzlichen Teil und sehen wir dann weiter. Die Chose ist tatsächlich grundsätzlich. In einem kurzen Artikel ist dies nicht abzuhandeln. Aber wir werden in den nächsten Wochen und Monaten noch genügend Anlass haben, darauf zurück zu kommen.

Der quasi-technische Teil ist leicht erklärt. Die italienischen Banken sind nach den neuesten Vorgaben unterkapitalisiert. Der (frühere) Stresstest der EZB hat klar gestellt, dass nahezu alle Banken mehr Grundkapital brauchen, obwohl er dies nach Möglichkeit verschleiert. Der neueste Stresstest, mit viel Tam-tam eben veröffentlicht, ist im Grund ohne weitere Informa­tion. Er stellt mehr oder weniger eine PR-Übung der EZB dar, hauptsächlich zur Beruhigung des geschätzten Publikums gedacht. – Ich entschuldige mich jetzt bereits: Man müsste alle diese Vokabel in Anführungszeichen schreiben, weil sie alle durchtränkt von Ideologie sind. Aber der Text gewinnt dadurch nicht an Lesbarkeit, also lasse ich es weitgehend.

Kurz: Die italienischen Banken brauchen mehr Kernkapital, mehr Geld, als Sicherheit und um in Eigenregie darüber zu verfügen. Die Stagnation der letzten beiden €-Jahrzehnte hat zu einem starken Anwachsen der notleidenden Kredite geführt. Für eine weitere Krise, etwa in Folge des Brexit, gibt es keinen Bewegungsraum. Man spricht von 200 Mrd. € als aktuell not­leidender Kredite (8 % der Bilanzsummen) und weiteren 160 Mrd. € (also insgesamt 15 %), die es bald werden könnten. In den Medien kursieren noch höhere Werte. Man spricht von 18 % oder gar einem ganzen Fünftel.

Und dann gibt es auch noch den quasi internationalen Aspekt. Andere Banken außerhalb Italiens halten italienische Bankanleihen und Gelder. Die zittern um ihr Geld. Die italienische Bankenkrise könnte schnell auch die deutschen Banken erfassen. Ich finde im „Handelsblatt“ einen Artikel über die Commerzbank. Dort heißt es: Ihre Eigenkapitalquote sei gesunken, u. a. wegen „Kursverlusten bei italienischen Staatsanleihen“ (27. Juli 2016). Hier wird zwar nicht von den Banken gesprochen, wohl aber von ihrem institutionellen Hintergrund.

Nach dem Stresstest sollten die Banken zusehen, an neues Eigenkapital heranzukommen. Das Geld isr nur auf dem Finanzmarkt zu erhalten, wo es ohnehin eine Geldschwemme gibt. Aber die Spekulanten (die „Anleger“) wissen natürlich Bescheid über den Zustand der italienischen Wirtschaft und ihres Bankensystems. Es wäre von vorneherein ein Risiko, dort Geld hinein zu stecken. Dazu kommt die Bail in-Reform. Die Spekulanten müssen gewärtigen, bei einem künftigen und nicht unwahrscheinlichen Zusammenbruch gerade der Banken, die besonders dringlich Geld brauchen, dieses oder zumindest einen Teil davon zu verlieren. Also hüten sie sich wohl, gutes Geld dem schlechten nachzuwerfen. Wie so oft, haben EU und EZB in ihrer „one size fits all“-Vorgangsweise solche Kleinigkeiten nicht bedacht. Die angeblich so groß­artige Reform verhindert eine sanfte Lösung des Problems.

Damit kommen wir zum Grundsätzlichen.

Warum braucht es überhaupt Beihilfen oder ein bail in? Warum tritt nicht der Staat als „lender of last ressort“, als Bereitsteller von Geld, quasi virtuell ein? Warum übernimmt er nicht das Banken-System in eigene Verantwortung und regelt das Geldwesen, den eigentli­chen Steuerungs-Apparat der Wirtschaft nach seinen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen?

Hier muss eilends hinzugefügt werden: Das heißt nicht, die privaten Verluste zu vergesell­schaften. Das heißt vielmehr, dass solche Verluste aus Gier und leichtfertiger Spekulation gar nicht entstehen sollen, weil es dieses System nicht mehr gibt, weil Banken auf ihre gesell­schaftliche Funktion, die Geldversorgung und den Geldverkehr beschränkt werden.

Das „too big to fail“-Problem gibt es seit Langem. Neuerdings wird es sogar als Kürzel gebraucht, weil es so vertraut ist: TBTF. Es bedeutet nichts Anderes: Das Geld- und Banken­system ist in seiner privaten Struktur ungeeignet: Es ist zur Bedrohung von Wirtschaft und Gesellschaft geworden. Denken wir nur an das Hauptmittel, künftige Krisen zu vermeiden, die Erhöhung der Kapitalquote: Jedem, der sich nicht das Gehirn hat vernebeln lassen, muss klar sein: Ob das Kernkapital 5 % ausmacht oder aber 9 %, macht einen graduellen Unter­schied. Verhindern können 9 % eine Krise nicht. Das könnte nur die Gewissheit, dass die Gesellschaft insgesamt für ihre Versprechungen gerade steht.

Jenseits dessen, dass dies in einem kapitalistischen Marktsystem ein Widerspruch in sich ist, haben die Eurostaaten auch auf das entscheidende Instrument dazu verzichtet: eine handlungs­fähige eigene Zentralbank, die unter anderen dafür zu sorgen hat, dass rein technisch Geldüberhaupt vorhanden ist. Ereinnernwir uns an die Situation in Griechenland vor einem Jahr!

Doch dieses System der viel zu großen und daher erpresserischen Privatbanken entstand nicht einfach spontan aus dem sich selbst überlassenen ökonomischen Prozess. Die gesamtwirt­schaftlichen Probleme entstanden aus dem unsinnigen Marktfundamentalismus, der von der Wirtschaftspolitik gefördert und durchgesetzt wurde. Die Wirtschaftspolitik betet seit Jahren, dass „mehr Markt“ alles regle und der Weisheit letzter Schluss sei. Dieser Markt, der Geld- und Finanzmarkt, droht heute wieder einmal, die gesamte Gesellschaft in den Untergang zu stürzen. Und was ist die Antwort? Italiens „Finanzminister Pier Carlo Padoan sprach von ‚effektiven und nachhaltigen Marktlösungen’“ (FAZ, 29. Juli 2016). Damit wiederholt er nur, und zwar fast wörtlich, das Bla-bla des Gouverneurs der Bank of England, Mark Carney, als dieser im Mai 2014 Vorsitzender des Finanzstabilitätsrats der G-20 Länder war: Es gehe in Hinkunft um „strenge Marktdisziplin“.

Erinnern wir uns: In den 1990er Jahren wurde die Z (Zentralsparkasse der Gemeinde Wien) zuerst mit der Länderbank, dann mit der CA fusioniert, im Namen der Synergien von Großbanken. Dann verscherbelte die sozialdemokratische Stadtregierung ihr Filetstück, wieder im Namen desselben Prinzips. Häupl war schon Bürgermeister, und Sepp Rieder war Finanzstadtrat. Wenn man sie heute zu diesem unsinnigen Akt befragen würden, antworteten sie vermutlich: „Aber das haben damals doch alle getan!“ (Antwort sowohl des Ex-NB-Präsidenten Liebscher als auch des SP-Abg. Krainer, als sie nach Spekulationsverlusten gefragt wurden.) Und damit begann eine Odyssee. Zuerst ging die Bank an die HVB in München, dann an die Unicredit. Heute müssen Kunden und Politiker zittern, weil die Bank Austria, vor Kurzem noch eine der wenigen funktionierenden Teile der Unicredit, von dieser filettiert und damit in eine schleichende Krise gestürzt wurde. Die Unicredit aber ist ein nicht kleiner Teil des italienischen Bankenproblems.

Die Frage nach den Motiven ist rhetorisch, klar. Aber wir wollen weiter überlegen. Das gesamtwirtschaftliche System ist heute in einem Ausmaß kollektiv bestimmt, dass es überhaupt keinen Sinn mehr macht, einzelwirtschaftliche Probleme ohne Bezug auf die Gesamtwirtschaft zu betrachten. Auch wenn wir bei einer teilweisen Fein-Regulierung über den Markt bleiben – das ist nun ein ganz anderes Problem – , muss zumindest das Regel­medium selbst, das Geld, öffentlich gelenkt und bestimmt sein. Mit einem Geldsystem, welches auf Banken mit kürzestfristigen Profit-Interessen beruht, ist dies schlicht nicht möglich. Wie kurzfristig das Bankensystem agiert, entgegen den längerfristigen Not­wendigkeiten, zeigt am besten eine Tatsache: Es werden von den Banken vierteljährliche Bilanzen gelegt, und der Geldmarkt reagiert heftig auf die dort veröffentlichten Indikatoren, die es nach Bilanz-Grundsätzen gar nicht geben dürfte. Denn so kurze Handlungszeiträume sind schlicht unsinnig.

Über diesen grundsätzlichen Aspekt wäre viel zu sagen. Hier soll, für einen ersten Einstieg, aber etwas Anderes noch angemerkt werden. Das ist der politische Charakter der Krise.

Renzi geht laut Umfragen einer Niederlage entgegen. Rosstäuscher, der er ist wehrt er sich verzweifelt gegen den Absturz. Er kritisiert Draghi, dieser habe in seiner früheren Funktion als italienischer Notenbank-Chef nichts gegen die Bankenkrise getan. Das ist zwar richtig. Aber damit lenkt er nur vom eigenen Problem ab. Renzi will eine staatliche Rettung mit 40 Mrd. Aufwand an Steuergeld, nicht weil er dies wirtschaftlich für sinnvoll hält, sondern weil er die Volksabstimmung im Oktober und die nächsten Wahlen fürchtet. M5S hat die Demo­kraten in manchen Umfragen schon überholt. RenzisWunsch, wieder Steuergeld zu verstreuen, hängt nicht zuletzt mit den sogenannten Rentenreformen zusammen. Wie überall, bemühte man sich auch in Italien, die Altersversorgung auf die Kapitalmärkte auslagern. Renzi fürchtet den gut gestellten italienischen Mittelstand. Und die Helden der EU argumentieren bereits: Man dürfe Renzi nicht in der Bredouille sitzen lassen, man dürfe nicht zulassen, dass M5S die nächsten Wahlen gewinnt. Notfalls müsse man die gerade eben beschlossenen Regeln wieder brechen. Woher allerdings die Monti dei Paschi, die im Moment im Vordergrund der Sorgen steht, die dringlich nötigen 5 Milliarden nehmen soll, ist unklar. Man murmelt von einer privatwirtschaftlichen Lösung, ohne zu sagen, was das ist.

Kann es einen klareren Hinweis geben, wiesehr die Herrschaften in Panik sind? Wie orientie­rungslos sie agieren? Wie sie zuerst den eigenen ideologischen Lehrsätzen folgen und dann bei jedem kleinen Gegenwind bereit sind, diese über Bord gehen zu lassen?

Albert F. Reiterer, 31. Juli 2016

Deutsches Eurexit-Komitee gegründet

Eine Alternative zum Euro

Soziale und demokratische EU blockiert

Die institutionelle Ausgestaltung des Euro spielt für die Krise der EU eine wesentliche Rolle. Eine Reform der Gemeinschaftswährung verlangt zumindest, dass der Süden der EU von einem Teil des Wettbewerbsdrucks entlastet wird. Ohne hohe Lohnabschlüsse in Deutschland und ohne ein EU-weit koordiniertes, staatliches Investitionsprogramm für ökologische und soziale Projekte sowie eine wirksame Regulierung und Kontrolle der Finanzmärkte wird dies aber nicht gelingen.

Stattdessen zwingen die EU-Institutionen, unter führender Beteiligung Deutschlands, dem Süden seit Jahren Austeritätsprogramme auf, die sowohl den Sozialstaat als auch die Demokratie aushöhlen. Das Scheitern dieser Politik ist inzwischen offensichtlich.

In Südeuropa erleben die Menschen die Rettung des Euro als Kette von Erniedrigungen, weil sie immer tiefer in die Rolle von Befehlsempfängern gedrängt werden. Die Widersprüche des Euro-Regimes nähren Ressentiments zwischen den Bevölkerungen der Mitgliedsländer und spalten die EU. Hier liegt einer der Hauptgründe, warum die Krise zur Brutstätte von Rechtspopulismus und Nationalismus wurde.

Der Euro – ein Schlüsselproblem

Dass der Euro eine Fehlkonstruktion ist, wird inzwischen von vielen Fachleuten eingeräumt. Um den brüchigen Bau zu stützen, wurde ein ganzes System von Hilfskonstruktionen geschaffen, wie z.B. der Fiskalpakt, Six-Pack-,Two-Pack, ESM etc. Der sog. Bericht der Fünf Präsidenten sieht eine Vertiefung der Integration nach neoliberalen Vorstellungen vor und läuft auf die irreversible, quasi verfassungsmäßige Festschreibung der Austerität hinaus.

Es muss über Alternativen zum Euro nachgedacht werden. Als zentrales Element einer Volkswirtschaft ist eine Währung auch immer Ausdruck gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Der Euro ist mehr als Münzen, Geldscheine und der Kontostand auf der Bank. Er ist ein System aus Regeln und Institutionen, mit der EZB an der Spitze. Die Art und Weise, wie ein Währungssystem ausgestaltet ist, hat enormen Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft.

Zwar würde ein alternatives Währungssystem nicht alle Probleme lösen, die sich einer am Gemeinwohl orientierten Politik heute in den Weg stellen. Gleichwohl ist die Währungsordnung eine Schlüsselfrage. Die auch in linken Kreisen anzutreffende Meinung, die Währung sei ökonomisch neutral, ist ein Irrtum.

Notwendig ist eine ergebnisoffene Diskussion, um die verschiedenen Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Im Mittelpunkt sollte die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen einer einvernehmlichen Auflösung der Einheitswährung zugunsten eines neuen europäischen Währungsregimes stehen. Unabdingbar erscheint uns, dass einzelnen Staaten oder Staatengruppen ein geregelter, solidarisch abgefederter und freiwilliger Ausstieg aus dem Euro-System ermöglicht wird. Ein neues System müsste zu währungspolitischer Kooperation verpflichten und rein nationalstaatliche Politiken vermeiden. Gleichzeitig muss es der jetzigen Machtposition der EZB ein Ende bereiten und den einzelnen Volkswirtschaften die nötige Flexibilität und Autonomie für ihre wirtschaftliche Entwicklung und die Überwindung von Krisen ermöglichen. Eine Sakralisierung des Euro ist nicht akzeptabel.

Soziale Gerechtigkeit, Kontrolle der Finanzmärkte, Demokratisierung

Wir wollen eine an den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung und an ökologischen Erfordernissen ausgerichtete Wirtschaftspolitik, eine gerechte Steuer- und Sozialpolitik. Welcher Ebene – lokal, national, europäisch – dabei welche Rolle zukommen sollte, ist eine ergebnisoffene Frage der Diskussion.

Wir wollen eine grundlegende Reform des Finanzsystems. Das Kasino muss geschlossen werden. Die Finanzmärkte müssen in den Dienst sozialer und ökologischer Entwicklung gestellt werden. Daher lehnen wir das Projekt einer Kapitalmarktunion ab, mit der die Liberalisierung der Finanzmärkte gefördert werden soll.

Wir wollen eine demokratische Erneuerung. Dies bezieht sich auch darauf, die Demokratie in den Mitgliedsländern zu stärken und vor autoritären Übergriffen von EU und EZB zu schützen.

Verabschiedet im Juni 2016

Einige prominente Erstunterzeichnerinnen und Unterzeichner:

  • Dr. Diether Dehm (MdB), Musikproduzent, Liedermacher und Politiker (Schatzmeister der Europäischen Linken)
  • Prof. Dr. Heiner Flassbeck, Genf, Herausgeber Makroskop
  • Inge Höger, Herford, Bundestagsabgeordnete für DIE LINKE
  • apl. Prof. Dr. Martin Höpner, Köln, Politikwissenschaftler, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln
  • Ralf Krämer, Berlin, Gewerkschaftssekretär, Mitglied des Parteivorstands DIE LINKE
  • Dr. Lydia Krüger, Berlin, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac
  • Oskar Lafontaine, Saarbrücken, Vorsitzender der Fraktion der LINKEN im Landtag des Saarlands
  • Dr. Werner Murgg, Abgeordneter zum Steiermärkischen Landtag und Stadtrat in Leoben
  • Prof. Dr. Andreas Nölke, Frankfurt, Politikwissenschaftler, Goethe Universität

Website der Initiative, selbstunterzeichnen, vollständige Liste der UnterstützerInnen

http://eurexit.de/aufruf

 

Ein Hoch auf den Brexit!

Erklärung der Europäischen Anti-Euro-Koordination

 

Bei der Volksabstimmung am 23. Juni 2016 hat sich die britische Bevölkerung – besonders die Arbeiterklasse und jene Schichten, die von der neoliberalen Globalisierung überrollt werden – entschieden, Souveränität und Demokratie für das Volk einzufordern. Das ist ein großer Sieg für Freiheit und Frieden. Die unablässige Propaganda der Mainstream-Medien, die Drohungen und Erpressungen der Führer multinationaler Konzerne und der Oberhäupter der EU-Staaten erzielten nicht den gewünschten Effekt.

 

Die Europäische Union zielt darauf ab, die nationale Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten zu beschneiden, um ihre neoliberalen Maßnahmen zu zementieren; ihre Politik nutzt den Reichsten, indem sie die Ärmsten auspresst.

 

Der Sieg für den Brexit ist ein Schlag gegen dieses System, das wir abschaffen wollen.

 

Die Europäische Union ist einer der wichtigsten Mechanismen, um neoliberale Maßnahmen umzusetzen, das Sozialsystem abzubauen, die Demokratie zu untergraben und rassistische Gesetze durchzusetzen.

 

Die EU steht nicht für Frieden und Zusammenarbeit – ganz im Gegenteil, sie befördert Konflikte, Handelskriege sowie den Wettbewerb um die geringsten sozialen Rechte und die schlechtesten Arbeitsbedingungen. Der Austritt aus der EU eröffnet einen Weg zur Zusammenarbeit zwischen den Völkern. Die Zukunft wird einen Trend in Richtung Berücksichtigung der Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der Umwelt bringen, nicht nur ihre Ausbeutung durch die herrschende Klasse.

 

Vorerst gibt es im Vereinigten Königreich jedoch keine politische Kraft, die genug Einfluss hat, den Neoliberalismus zurückzudrängen. Trotz des Erfolges für den Brexit ist eventuell zu befürchten, dass es keine politischen Veränderungen in Bezug auf die Wirtschaft, Demokratie, Gesellschaft und Sozialsystem geben wird. Allerdings wurden nun die Bedingungen dafür geschaffen, dass sich das Kräfteverhältnis dahingehend verschiebt, dass größere Veränderungen möglich werden, und das war im Rahmen der EU undenkbar.

 

Uns ist bewusst, dass fremdenfeindliche und rechtsextreme Kräfte die Situation nutzen, um ihre reaktionäre Propaganda zu verbreiten. Wir wissen aber auch, dass sie in Wirklichkeit für das System und für die EU sind. Deshalb müssen fortschrittliche, demokratische und „linke“ Kräfte im Kampf gegen die EU die Initiative übernehmen.

 

Nach dem französischen und dem niederländischen „Nein“ im Jahr 2005, dem irischen „Nein“ 2008 stimmte im Juli 2015 auch die griechische Bevölkerung mit „Nein“ – doch der Wille all dieser Völker wurde missachtet. Am 23. Juni 2016 haben nun auch die Briten klar für einen Austritt aus der EU gestimmt.

 

Die unterdrückten Klassen in jedem Land der EU sollten in dieser neuen politischen Situation die Gelegenheit nutzen, ihren Kampf für die Wiederherstellung der nationalen Souveränität, der Souveränität des Volkes zu verstärken. Der Austritt bzw. die Auflösung der EU ist eine grundlegende Voraussetzung für ein Ende des Sozialabbaus, eine Machtübernahme durch die Bevölkerung, für eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und der internationalen Zusammenarbeit, für eine Politik, die vom Volk ausgeht, für eine Politik für das Volk.

www.noeurointernationalforum.com

Existenzkrise der EU

von Wilhelm Langthaler

Die Abfuhr, die die britischen Unterklassen der EU und damit ihrer eigenen Elite erteilten, hat das herrschende Regime (und nicht nur die Tories) in eine Führungskrise gestürzt. Boris Johnson, der konservative Wortführer der Austrittskampagne und logischer Nachfolger des geschlagenen Premiers Cameron, weigert sich plötzlich, in dessen Amt als Nachfolger anzutreten. Es zeigt sich, dass der „Brexit“-Flügel der Konservativen den Sieg seiner Kampagne gar nicht wollte.
Politisch zum Votum passend wäre indes eine Labour-Regierung, geführt von Jeremy Corbyn. Der Exponent des linken Flügels hatte jahrelang keinen Hehl aus seiner Skepsis gegenüber der neoliberalen und antidemokratischen Union gemacht. Als er dann aber Parteichef geworden war, schwenkte er auf eine vorsichtige Verteidigung der EU ein.

Dennoch versucht die alte New-Labour-Gruppe Corbyn daraus den Strick zu drehen und ihn präventiv zu stürzen. Sollte es der Labour-Linken gelingen sich gegen diese Attacke zu Wehr zu setzen, könnte das zur zweiten Niederlage der parteiübergreifenden Eliten in kurzer Frist führen. Linke aus verschiedenen Lagern haben bereits Neuwahlen gefordert und für eine Labour-Regierung unter Corbyn geworben, die mit demNeoliberalismus und der EU tatsächlich bricht.

Mittelfristig könnte der Brexit auf die Rest-EU viel dramatischere Auswirkungen haben.

Die in den EU-Verträgen festgeschriebene, zunehmende supranationale Zentralisierung kann gestoppt werden. Durch die Brexit-Abstimmung wurde jedermann vorgeführt, dass die EU rückgängig zu machen ist. Das gilt noch mehr für den Euro, der die Krönung dieser Union sein sollte. Da tut es nichts zur Sache, dass sich London dem Euro standhaft verweigert hat und den Zwang zur politischen Zentralisierung immer abgelehnt hat.
Die tektonische Verschiebung in Großbritannien trifft die EU in einer Situation, in der durch die Zwangsjacke des Euro die inneren sozialen, ökonomischen und politischen Widersprüche bereits zum Zerreißen gespannt sind. Insbesondere im europäischen Süden sind die niederen Klassen immer weniger bereit, das Diktat der Eliten zu akzeptieren. Das alte System der politischen Herrschaft der Besitzenden ist verbraucht und steht vor dem Zusammenbruch. Jedes weitere Krisenereignis kann eine Kettenreaktion auslösen, die das gesamte Gebäude des Nachkriegssystems ins Wanken brächte.

Wilhelm Langtaler ist Buchautor und Mitglied der österreichischen Gruppe EuroExit

Quelle: http://www.unsere-zeit.de/de/4827/positionen/3043/Existenzkrise-der-EU.htm

Brexit und der EU-Austritt Österreichs

von Boris Lechthaler

oder ernsthaft und gelassen bei der Sache bleiben!

Die EU-Integration Österreichs funktioniert nur in der scheinbaren Polarität von EU-affinem Establishment und rechtsextrem kanalisierter EU-Opposition. Würde dieses Schauspiel nicht die Bühne beherrschen, würde offenkundig wie sehr die EU-Integration rechtsextremen Vorstellungen folgt und wie hohl die EU-Opposition der Rechtsextremen ist. Der EU-Austritt Österreichs wird aus einer emanzipativen Perspektive immer dringlicher. Der Brexit kann dafür den Spielraum erweitern, aber auch einengen. Der Rest hängt von uns ab.

Das wohl bemerkenswerteste am britischen Referendum über die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU ist die Heftigkeit, mit der die FPÖ-Spitze unmittelbar darauf in Hinblick auf einen EU-Austritt Österreichs zurückruderte. Mantraartig wurden sie befragt, ob sie nun eine Volksabstimmung über den EU-Austritt Österreichs auf die Tagesordnung setzen würden. Mantraartig kam die Antwort: Nein, auf keine Fall! Der freiheitliche Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer liegt mit Kanzler Christian Kern auf einer Linie: eine Volksabstimmung gebe es nur bei einem Beitritt der Türkei zur EU.

Solche Rosstäuscherei ist schon lang nicht mehr elegant, sondern plump in vollendeter Form. Dennoch werden die Zuschreibungen – pro- und contraeuropäisch – fortgeschrieben. Bei der kommenden Wiederholung der Stichwahl zum Bundespräsidenten, werden sie wiederum jegliches genauere Nachfragen, für was die Kandidaten nun wirklich stehen, über den Rand der Wahrnehmung hinaus drängen. Die FPÖ ist in der komfortablen Lage, dass ihr so von ihren scheinbaren Gegnern die relevante Minderheit der EU-Austrittsbefürworter regelrecht zugetrieben wird. Rechte Leimrutenfänger wie die Betreiber des EU-Austrittsvolksbegehren leisten das Übrige, damit EU-Opposition im taktischen Irrgarten der FPÖ verkommt. Sie braucht nur noch jene Teile des wirtschaftsliberalen Establishment, das für einen rechtsliberalen Kurs optiert ohne mit der EU brechen zu wollen, davon überzeugen, dass sie das mit dem EU-Austritt ohnehin nicht ernst meint. Damit kommen Mehrheiten für die FPÖ in greifbare Nähe. HC Strache meint, es gehe nicht um EU-Austritt, sondern eine Reform der EU. Auch wenn die FPÖ dabei vage bleibt, der Brexit droht die weitere Entwicklung der europäischen Integration genau im Sinne der Rechtsextremen zu beschleunigen.

Der Brexit und Großbritannien

Folgt man den Mainstreamberichten über das britische Referendum, so waren es ausschließlich nationalistische, ja sogar rassistische, Motive, die die Briten dazu bewogen, mehrheitlich für einen Austritt zu votieren. Dabei wird zunächst außer Acht gelassen, dass sich auch die Remainkampagne rassistischer Stereotype bediente, in dem sie eine europaweite Flüchtlingsabwehr als geeigneteres Abschottungsinstrument favorisierte. Und so sprechen manche Umfragen davon, dass nur für ca. 36% die Migrationsfrage entscheidungsrelevant gewesen sei. Wie auch immer, Motive fluktuieren. Fest steht, dass die Abstimmung entlang sozialer Zugehörigkeit entschieden wurde. Es waren die proletarischen Milieus, die den Ausschlag für den Brexit gaben. Welche Auswirkungen der Brexit unmittelbar und langfristig für die Menschen in Großbritannien hat, kann heute nicht beantwortet werden. Wir können getrost die Woge düsterer Prognosen als Gräuelpropaganda verebben lassen. Großbritannien ist weder – wie in manchen klug gemeinten Karikaturen – im Atlantik versunken, noch wurde es ein paar tausend Kilometer Richtung Grönland katapultiert. Die Folgen des Brexit für die Menschen in Großbritannien sind auch deshalb so wenig prognostizierbar, weil sie sowohl die sozialen Kämpfe in Großbritannien intensivieren werden, als auch selbst Ergebnis dieser Kämpfe sein werden. Es ist ja auch umgekehrt nicht so, dass ein Verbleib GB in der EU, für alle Menschen die gleichen Wirkungen gehabt hätte. Ein häufiges Argument, der Finanzplatz London könne nur in der EU seine besondere Bedeutung verteidigen, ist nicht nur nicht schlüssig, es beantwortet auch nicht die Frage, ob dieser Finanzplatz mit seiner relevanten Bedeutung für das britische BIP überhaupt im Interesse der arbeitenden Menschen ist. Seine Folgen sind ein überbewertetes britisches Pfund und überbewertete Immobilien. Beides ist im Interesse der Eliten, aber nicht im Interesse der arbeitenden Menschen. Der Finanzplatz London könnte im Ergebnis der Austrittsverhandlungen sogar an Bedeutung gewinnen. Auch Singapur, Hongkong oder Panama liegen nicht in der EU und haben dennoch eine herausragende Bedeutung für die transnationalen Kapitalbewegungen.

Es heißt, die Briten hätten keinen Plan, wie mit dem Brexit umgegangen werden soll. Das ist Unsinn. Es gibt Pläne. Sie sind allerdings entlang der sozialen Interessen gespalten. Die Eliten werden um einen Austrittsvertrag kämpfen, der so weit irgend möglich ihren Interessen entspricht. Dabei wird die Frage, ob jemand für oder gegen den Brexit gewesen sei, rasch zweitrangig. Freilich gilt es auch relevante Teile der Bevölkerung mitzunehmen. Das ergibt einen klaren Raster für die Verhandlungen: weitgehende Teilnahme am Binnenmarkt ohne Arbeitnehmerfreizügigkeit und politische Unterordnung, keine automatische Übernahme von EU-Rechtsnormen – das konnte man nicht einmal den Schweizern aufzwingen. Wenn einmal der Brüsseler Theaterdonner verhallt ist, wird rasch deutlich werden, dass sie damit bei den EU-Eliten offene Türen einrennen. Warum sollte man mit Verschlagenheit und Vehemenz Freihandelsabkommen mit Kanada (CETA) und den USA (TTIP) aushandeln und durchsetzen und dann GB den Sessel vor die Tür stellen. „Am Aufbau von Handelshemmnissen kann keine Seite ein Interesse haben“ sagte Bundesbankpräsident Jens Weidmann in München (EurActic, 4.7.2016) Deutschland hat kein Interesse daran, pikanterweise aber auch nicht dessen Gegner.

Die wirklich relevante Frage ist, ob es den arbeitenden Menschen in Großbritannien gelingt, zu einem relevanten Akteur in diesem Prozess zu werden. Trotz mancher Euphorie darüber, dass sie qua Referendum die Pläne der Eliten ordentlich durchkreuzt haben: mit einem Referendum wird man noch nicht zum politischen Subjekt. Die Eliten werden versuchen unter dem Titel „Kosten des Brexit“ Sozialkürzungen und Belastungen durchzusetzen. Mit dem Brexit eröffnen sich neue Möglichkeiten für die Durchsetzung einer anderen Sozial- und Wirtschaftspolitik. Sie können dann relevant werden, wenn es den arbeitenden Menschen in GB gelingt, eine oppositionelle Austrittsagenda auf die Tagesordnung zu setzen. Bei Labour versuchen jene Kräfte den derzeitigen Vorsitzenden wegzuputschen, die genau das verhindern wollen.

Der Bildungsbürger als glühender EU-Claqueur

„73 der 751 Abgeordneten zum Europaparlament stammen aus Großbritannien….diese Abgeordneten können eigentlich nicht anders als sofort zurückzutreten.“, meint Reinhard Göweil am 28.6.2016 in der Wiener Zeitung. Mitunter kommen ihm selbst Bedenken: „Die Abgeordneten sind ja für diese Periode gewählt und manche sogar guten Willens, ihr Amt auszufüllen. Doch das hilft alles nichts, sie müssen gehen – und zwar gleich.“ Man lässt ja auch die Ehefrau nicht mehr mit dem gemeinsamen Auto fahren, wenn diese einem die Scheidung in Aussicht stellt, ist man versucht zu ergänzen, wenn man weiter in den juristischen Wirrgarten des Herrn Göweil eindringt. In Brüssel haben sich Juncker und Schulz zu einem ordentlichen Mit-dem-Fuße-Stampfen- entschieden, und die Chefredakteure der EU-affinen Medien stampften nicht nur mit, sondern wetteiferten um eine vermeintliche Hinein- und Hinterhertreterei. Freilich übersahen sie dabei geflissentlich, dass der Delinquent, auf den man jetzt keine Rücksicht mehr nehmen könne, „das hilft alles nichts“, noch gar nicht am Boden lag. Selbst als die deutsche Kanzlerin schon unmissverständlich zu erkennen gab, dass der Brexit wesentlich auch zwischen London und Berlin verhandelt wird, beratschlagt uns ein Florian Hartlieb noch in der Wiener Zeitung (28.6.2016) mit vorgeschobenem Kinn: „Die Scheidung ist schnell zu vollziehen!“ Überhaupt wo sich herausstellt, dass die zu Scheidende eine ziemliche Schlampe gewesen sei. So habe sie „immer wieder Sonderregelungen verlangt und Entscheidungen blockiert. Bis heute gehört (sie) nicht zur Eurozone. Die Trittbrettfahrerei könnte nach einem Brexit aufhören.“ Auf der anderen Seite des Kanals steht „das ganze Konstrukt des Vereinten Königreichs … auf dem Spiel.“ „Die EU ist in einer weitaus besseren Situation. Wenn sich Angela Merkel & Co allerdings erneut wie einst vom griechischen Linkspopulisten Alexis Tripras vorführen und vertrösten lassen, ist das Projekt ‚Europa‘ gescheitert.“ Haben wir da was übersehen oder bringt Hr. Hartlieb einiges durcheinander. Egal. Die Belastbarkeit der im Text benannten Fakten ist hier nur von zweitrangiger Bedeutung. Uns interessiert hier vor allem die Aggressivität und Schadenfreude mit der das EU-affine Bildungsbürgertum seine Entrüstung über das „Leave“ der Briten kundtut. Rücksichtslosigkeit wird unüberhörbar wieder zur empfohlenen Methode bei der anstehenden Finalisierung des Reichs. Schwülstig distanziert man sich vom seinerzeitigen Nationalismus und bedient sich seiner Methoden, wenn es darum geht, chauvinistische Haltungen euronationalistisch zu reincarnieren. Die alten Kastrationsängste – im Vergleich zu Peking und Washington werde man den Kürzeren haben – erleben Wiederauferstehung, bis sich Hr. Hartlieb endgültig verschwurbelt: „Der Mangel an Nicht-Europa … muss beseitigt werden.“

Ist das ein Vorgeschmack auf das, was uns blüht, wenn EU-affine Bildungsbürger und rechtsextreme EU-Reform zusammenfinden?

Das EU-affine Establishment inszeniert inzwischen einen Beschwörungsreigen nach dem anderen. Der unförmige Europapathos zeigt immer deutlichere clowneske Züge. So etwa wenn Ex-Kanzler Schüssel in der „Presse am Sonntag“ (26. Juni 2016) dazu aufruft „kühlen Kopf (und ein heißes Herz) (zu) bewahren“, um im nächsten Absatz die „Spannungen im südchinesischen Meer“ neben der „Demografie“ und vielem anderen (mit der EU?) lösen zu wollen. „Trauen wir uns einen Beitrag zum Frieden in unruhiger Zeit zu, dann ist es Zeit für einen Vorstoß zu einer Gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik:…“. Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments spricht auf der selben Seite (erstmals?) von „den EU-Gegnerinnen und -Feinden, egal, wo in den Mitgliedsstaaten.“ Lunacek plädiert für einen „Europäischen Konvent“ und eine „Koalition der Willigen“. Ersteres wird es nicht geben. Zweiteres existiert bereits, aber mit ständig wechselnder Architektur, die nur ein Faktum, dass Deutschland sich immer in der Mitte befindet, verbindet. „Und jetzt? Europa wird sich nicht provinzialisieren, es wird sich wieder etwas überlegen, den Funken zum Bürger überspringen lassen.“, verkündet uns „Zukunftszuversicht“ (Lunacek), Fr. Lydia Mischkulnig, wenige Zeilen später. Um dann doch „erschöpft auf(zu)klatschen“, und zu resümieren: „Da bleibt nicht viel über. Eigentlich gar nichts. Dagegen wird nicht viel helfen. Außer meine Europa-Gedanken nicht von zynischen Referendums-Strategen versauen zu lassen.“

Es ist diese Mixtur aus inszeniertem europapolitischen Pathos und praktischer Tollpatschigkeit, die das EU-affine Establishment einem großen Teil der arbeitenden Menschen als fremd erscheinen lässt. Im EU-Integrationsprozess erhitzen sich nicht die Herzen. Das EU-affine Establishment wird aggressiv. Die EU-Integration Österreichs funktioniert nur in der scheinbaren Polarität von EU-affinem Establishment und rechtsextrem kanalisierter EU-Opposition. Würde dieses Schauspiel nicht die Bühne beherrschen, würde offenkundig wie sehr die EU-Integration rechtsextremen Vorstellungen folgt und wie hohl die EU-Opposition der Rechtsextremen ist. Und wir können sicher sein, solange die FPÖ nicht in der Regierung ist, wird die Aufführung weitergehen. Dass sie in die Regierung kommt, wird immer wahrscheinlicher. Dann werden auch die Rollen im Schauspiel neu verteilt. Gut denkbar, dass sich dann die Rücksichtslosigkeit des Wertekostüms entledigt, um endlich Europapolitik als „Wir zuerst-Politik“ darzustellen.

Eine EU der Exekutive – mit Sitz in Berlin

Welche Reform der EU auf der Tagesordnung steht, wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, warum Großbritannien bei der EU ist oder gewesen sein wird. Dabei ging es vorwiegend um Geo- nicht um Wirtschaftspolitik. Aufgabe der Briten war zu verhindern, dass sich aus dem gemeinsamen Markt mit gemeinsamen Institutionen ein Reich wird, das mit einer Stimme spricht und mit einer Faust zuschlägt. Diese Aufgabe war schon einmal blockiert. In den 60’ern war es jedoch für den französischen Präsidenten De Gaulle vermeintlich möglich, Faust und Stimme in Paris zu dislozieren. Der Brexit führt jedoch unzweideutig zu einem stärkeren Gewicht Deutschlands. Dieses wird sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und bei den Austrittsverhandlungen in den wirtschaftspolitischen Fragen London weitgehend entgegen kommen, wenn dieses die neue Stellung Deutschlands respektiert und Unruhe bei mittleren und kleinen Verbündeten in Europa im Rahmen hält. Deutschland war bereits 2015 an dritter Stelle in der Rangliste der Rüstungsexporteure und Angela Merkel kündigte als Richtwert für den deutschen Verteidigungsetat 3,4% des BIP wie in den USA an. „Während die Vereinigten Staaten und die EU gestrauchelt sind, hat Deutschland sich behauptet und ist zu einer bedeutenden Macht geworden“, resümiert der deutsche Außenminister Steinmeier in „Foreign Affairs“.

Die EU der FPÖ im Entstehen.

Die von der FPÖ geforderte EU-Reform läuft bereits. Es ist eine EU, die ihre industriellen Kapazitäten für Aufrüstung nutzt und dieses militärische Drohpotential zunehmend eigenständig als geopolitisches Machtmittel einsetzt. Es ist eine EU der Austärität mit einer restriktiven und selektiven Sozial- und Menchenrechtspolitik. Es ist eine EU der entmachteten Parlamente, in der Berlin immer deutlicher als das eigentliche Machtzentrum erkennbar wird.

Der EU-Austritt Österreichs wird aus einer emanzipativen Perspektive immer dringlicher. Der Brexit kann dafür den Spielraum erweitern, aber auch einengen. Der Rest hängt von uns ab.
(7.7.2016)

Quelle: http://www.solidarwerkstatt.at/index.php?option=com_content&task=view&id=1531&Itemid=1

Europäische Lexit-Plattform

Demokratie und Souveränität statt neoliberaler Integration und dem gescheiterten Euro-System

„Anders als häufig behauptet ist die EU kein neutrales Spielfeld. Vor allem die Ereignisse seit der Großen Rezession (2007-2009) haben gezeigt, dass das gegenwärtige Integrationsprojekt durch die rückschrittliche Natur seiner Verträge und eine beispiellose Radikalisierung seines neoliberalen Charakters definiert ist. Ungleiche und hierarchische Kräfteverhältnisse (Zentrum – Peripherie) sind seit längerem Teil der Europäischen Integration. In den letzten Jahren gipfelte diese Ungleichheit in einer deutschen Dominanz über die EU-Wirtschaftspolitik. Die Regeln, die mit der Euroeinführung geschaffen wurden, und die strengen und kaum legitimierten Maßnahmen, mit denen auf die Eurokrise reagiert wurde (EuroPlus-Pakt, Fiskalpakt etc.) haben den autoritären, neoliberalen Charakter der EU-Integration weiter verschärft. So wurde das gegenwärtige Integrationsprojekt zu einem Hindernis für Demokratie und Souveränität.“

 

Hier der gesamte Aufruf sowie die Erstunterzeichnerinnen und Unterzeichner:

http://lexit-network.org/aufruf

 

Ausgewählte Firmatare

  • Tariq Ali, author and filmmaker, UK
  • Alfredo D’Attorre, MP Sinistra Italiana, Italy
  • Stefano Fassina, former Vice-Minister of Finance, MP Sinistra Italiana, Italy
  • Prof. Heiner Flassbeck, Hamburg University and Makroskop, Germany
  • Inge Höger, MP Die Linke, Germany
  • Prof. Martin Höpner, Max Planck Institute for the Study of Societies, Germany
  • Prof. Costas Lapavitsas, SOAS University of London, UK
  • Frédéric Lordon, CNRS, France
  • Prof. Andreas Nölke, Goethe University, Germany
  • Prof. Wolfgang Streeck, Max Planck Institute for the Study of Societies, Germany

Britische Gewerkschafter gegen die EU

Austritt von links „für unsere Rechte“

Folgendes Interview erschien in „il manifesto“ vom 22.Juni 2016:

Nicht die gesamte Labour-Linke hält sich die Nase zu und stimmt für Remain <d.h. den Verbleib Großbritanniens in der EU>. Es gibt Komitees, die sich die Idee eines Austritts aus Europa zu eigen gemacht haben und sich auf die klassischste sozialistische Tradition des Euoskeptizismus eines Michael Foot, eines Tony Benn und des vor einigen Jahren viel zu früh verstorbenen Eisenbahngewerkschafters Bob Crowe beziehen. Außer dem Left Leave, den auf Initiative der Socialist Workers Party (SWP) von Alex Callinicos entstandenen Komitees, gibt es die Kampagne der Trade Unionists against the EU (TUAEU). Wir fragten ihren Leiter Enrico Tortolano, dessen Großvater väterlicherseits aus Sorrento stammt, nach einem überzeugenden Argument für einen Austritt aus der EU von links.

 

Befürchten Sie nicht, dass ein Ausscheiden aus der EU zu einem Um-Sich-Greifen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus nationalistischer Prägung führt?

 

„Dies ist ein Referendum über die Wiederaneignung der Demokratie. Jahrhundertelang hatte das britische Volk das Recht, seine Vertreter zu wählen und sie auszuwechseln, wenn sie seinen Ansprüchen nicht gerecht wurden. Diese Regel findet in der EU, einer nicht gewählten Versammlung, keine Anwendung. Jean-Claude Juncker bekam seinen Posten <als Chef der EU-Kommission> als Belohnung dafür, dass er Luxemburg zu einem Steuerparadies für die Superreichen gemacht hat.

 

Die EU ist ein Business-Club und sie ist auch rassistisch. Für die weiße europäische Bevölkerung besteht eine begrenzte Reise- und Niederlassungsfreiheit. Es gibt finstere / krumme Abkommen zwischen der EU, der griechischen Regierung und der Türkei auf dem Rücken von Migranten, die Opfer von Misshandlungen, Gewalt und Verletzung der Menschenrechte geworden sind. Ich weise die Kritik zurück, laut der jene, die eine solche imperialistische Organisation verlassen wollen, Rassisten seien.

 

Es geht darum die Rechte der Werktätigen zu verteidigen, während das, was die EU tut, der Abbau der gewerkschaftlichen Tarifverhandlungsmodalitäten und die Beseitigung der Errungenschaften aller europäischen Arbeiter ist. Wie üblich: 1% bereichert sich und 99% dürfen sich um die Reste streiten.“

 

Aber handelt es sich nicht um eine Art von linkem Nationalismus, um die kurzsichtige korporative Interessenvertretung?

 

„Absolut nicht. Eine Sache muss klar sein: Wenn wir uns am 23.Juni von der EU trennen, können wir ein echtes Solidaritätsnetzwerk für die Werktätigen ganz Europas schaffen.“

 

Sind Sie der Meinung, dass die Rechte, die die Arbeitnehmer hier im United Kingdom erlangt haben, besser sind als die innerhalb der EU erreichten?

 

„Ohne Frage. Ich bestreite nicht, dass es zwei oder drei von der EU erlassene Gesetze gibt, die von den britischen Werktätigen begrüßt wurden. Das Problem besteht darin, dass es wenige sind. Andere aber, wie der Equal Pay (die gleiche Entlohnung von Frauen und Männern von 1970, die durch die Kämpfe der Arbeiterinnen im Ford-Werk von Dagenham erreicht wurde; Anm.d.Red.), wurden vom britischen Parlament ratifiziert. Dasselbe gilt für die jüngsten Festlegungen des Minimum und Living Wage (Mindestlohn; Anm.d.Red.). Im United Kingdom wurde das Recht auf bezahlten Urlaub im Unterhaus durch einen Gesetzesakt von 1938 beschlossen und dann im Factory Act von 1948 ratifiziert.“

 

Ihr behauptet, dass die Reform der EU von innen, die von der Linken, die für das Remain <den Verbleib> eintritt, unmöglich ist. Warum?

 

„Der Lissaboner Vertrag ist der einzige auf der Welt, der eine neoliberale und marktorientierte Wirtschaftspolitik in der eigenen Verfassung festschreibt. Die EU hat den Growth and Stability Pack, um die Haushaltsdefizite zu regulieren. Wer mitmacht, ist gezwungen, sich dem anzupassen. Um irgendeinen Artikel zu ändern, ist es notwendig, dass alle 28 Länder gleichzeitig dafür sind und die jüngsten Spannungen zwischen Deutschland und Griechenland sind ein deutliches Beispiel dafür.“

 

Leonardo Clausi

 

Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: Gewerkschaftsforum Hannover

Kontakt: gewerkschaftsforum-H@web.de

NZZ: „Der Euro gefährdet die EU“

Nach der britischen Austrittsabstimmung äußert sogar die Finanzoligarchie ihre Zweifel an Euro und EU

von Wilhelm Langthaler

Der Schock sitzt tief, sehr tief. So tief, dass sogar ganz oben die Solidarität der Banker in den Hintergrund rückt und ihre Denker meinen Zweifel auszusprechen zu müssen. Wenn sogar aus dem Organ der Schweizer Bourgeoisie zitieren kann als wäre es das eigene Buch „Europa zerbricht am Euro“, dann vermag man das Ausmaß der Krise erahnen. Es ist ein Versuch zu retten was zu retten ist.

Folgend ein ungekürztes Zitat aus dem Leitartikel der Neuen Zürcher Zeitung vom Wochenende nach dem Brexit-Referendum (25./26.6.2016). In eckiger Klammer meine Kommentare. Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit von mir hinzugefügt.

Die Mitverantwortung der EU [für die Krisenphänomene] wurde jedoch durch die Einführung des Euro massgeblich verstärkt. Die Einheitswährung erweiterte dank niedrigen Zinsen und hohen Krediten in vielen Ländern die Spielräume für Missbräuche, Blasenbildungen und Verschuldung. Sie verstärkte Fehlanreize für verantwortungsloses Handeln und erlaubte es nationalen Politikern und Bankern, die Verantwortung auf die europäische Ebene abzuschieben.

Der Euro gefährdet die EU

Der Euro, die vermeintliche Krönung der europäischen Integration, steht heute im Zentrum von Europas Krise. Es erscheint fraglich, ob die Fehlkonstruktion langfristig zu retten ist. Wenn doch, dann nur durch einen neuen Gesellschaftsvertrag, dem die Bürger der beteiligten Staaten in transparenter und freiwilliger Weise zustimmen. [Eine nicht ernst zu nehmende ideologische Floskel, die der Autor wohl kaum selber glaubt.]

Dieser Vertrag müsste entweder die fiskalische Selbstverantwortung der Euro-Staaten glaubwürdig etablieren oder [vulgo: die politische Last der Austerität müssen die Eliten voll selbst tragen und dürfen sie nicht auf die EU-Institutionen überwälzen – eine völlig unrealistische Vorgabe], dem Rat führender Ökonomen folgend, die Währungsunion in eine fiskalische Transferunion und Risikogemeinschaft verwandeln, was eine gemeinsame Fiskalpolitik und die dauerhafte Subventionierung des Konsums einzelner Länder durch andere bedeuten könnte. Letzteres würde eine sehr weitgehende politische Integration voraussetzen. [Die Flucht nach vorne in verschärfte supranationale Zentralisierung, von der der Autor andeutet wie unwahrscheinlich ihre Durchsetzung mit demokratischen Mitteln ist:]

Die Führung der Union ist bis heute vor diesen ehrlichen Schritten zurückgeschreckt, weil sie Niederlagen in Volksabstimmungen über die notwendigen Vertragsänderungen fürchtet. Doch das dauernde Lavieren und Verschleiern höhlt das Vertrauen und die Akzeptanz der Bevölkerung aus. Es gefährdet letztlich die Existenz der EU.

Eine offene Debatte über den Zweck und die Verfassung der Europäischen Union ist überfällig. Sie ist die einzige Chance, die in allen Teilen Europas wachsende Schar der Euroskeptiker und EU-Hasser für die gemeinsame Idee zurückzugewinnen. Dabei weisen die ursprünglichen Wünsche der Briten vor dem Referendum einen möglichen Weg: Das in den Römer Verträgen von 1957 und der Präambel des Maastricht-Vertrags von 1992 stehende Ziel einer «immer engeren Union» ist aufzugeben. [sic!] Sie ist kein Selbstzweck.

Eine neue identitätsstiftende Vision ist nötig. Realistischer wäre etwa eine Union mit viel fachen Integrationskreisen, die möglichst allen Mitgliedern jene Schritte und Geschwindigkeiten ermöglicht, die ihre Bürger wünschen. Mit dem Nebeneinander von Schengen-Raum, an dem sogar die Nichtmitglieder Schweiz und Norwegen teilhaben, Dublin-Abkommen, Euro-Zone, Übergangsbestimmungen für Neumitglieder und diversen Opt-outs aus verschiedenen Vertragswerken geht die EU bereits jetzt einen pragmatischen Weg des Miteinanders von Mitgliedern mit oft ganz unterschiedlichen Interessen. Er könnte zur neuen Normalität werden. Eine solche Union wäre offener, beweglicher, freier, anschlussfähiger für neue Mitglieder und wohl selbst für die eigenbrötlerischen Briten akzeptabler, hätten sie sich entschieden, dabeizubleiben.

Was an solch einem unklaren und unbestimmten Rückbau identitätsstiftend sein soll, bleibt unverständlich, reine und leere Hoffnung. In der Substanz erscheint es als eine Rückkehr zum Kerneuropa des reichen Zentrums wie es von Schäuble/Lamers Anfang der 1990er ventiliert wurde, das eine Freihandelszone politisch führt und kontrolliert.

Wie man dorthin kommen kann ohne großen Schaden zu nehmen, sagt Peter Rásonyi nicht. Denn ein solcher Rückzug käme einem Eingeständnis des historischen Scheiterns gleich – eine präzedenzlose Niederlage der globalistischen Eliten. Das würde die gesamte politische Architektur Europas unter US-Vorherrschaft über den Haufen werden und vor allem an der Peripherie antikapitalistische Versuche ermöglichen. Aber das wäre vor einem Schweizer Banken-Lohnschreiberling dann noch zu viel verlangt.