Anlässlich des 80. Jahrestags des Beginns des 2. Weltkriegs
schwenkt das EU-Parlament auf rechtsextremen Geschichtsrevisionsimus
ein: Die Kriegsschuld Hitler-Deutschlands wird relativiert, die
präzedenzlose Charakter des Holocaust geleugnet. Die Schlächter und die
Befreier von Auschwitz werden auf eine Stufe gestellt.
Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall Hitler-Deutschlands auf
Polen der 2. Weltkrieg. Dieser Krieg kostete über 55 Millionen Menschen
das Leben und mündete in den beispiellosen Gräuel des Shoa, der
industriellen Ermordung von 6 Millionen Juden. Über die Triebfeder des
Krieges schrieb der Linzer Historiker Hans Hautmann: „Den
aggressiven imperialistischen Gruppierung mit dem
nationalsozialistischen Deutschland an der Spitze ging es nicht mehr
bloß um die Frage der Neuverteilung der Welt wie im Ersten Weltkrieg,
sie strebten die Erringung der Weltherrschaft, verbunden mit der
Versklavung und sogar Vernichtung ganzer Völker an.“ (1) Diese
Aussicht auf Außenexpansion war – neben der Liquidierung der
ArbeiterInnenbewegung im Inneren – ein wesentlicher Grund dafür, dass
das deutsche Industrie- und Finanzkapital den Aufstieg und die
Machtergreifung der NSDAP unterstützte.
Rechtsextremer Geschichtsrevisionismus…
Nach 1945 versuchten rechtsextreme Kräfte wie die FPÖ, die als
Sammelbecken ehemaliger Nationalsozialisten entstanden war, immer wieder
diese faschistische Aggression wenn schon nicht zu leugnen, so doch
immer wieder zu relativieren. Auf dem Boden der 2. Republik waren sie
dabei weitgehend erfolglos. Schließlich bauen die Gründungsdokumente der
2. Republik – Staatsvertrag und Neutralitätsgesetz – auf einem klaren
Grundkonsens der Nachkriegszeit: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg
– verbunden mit dem Bekenntnis zu einem unabhängigen, kleinstaatlichen
Österreich, das nie wieder bei imperialistischen Abenteuern
mitmarschiert, sondern sich als internationaler Brückenbauer versteht.
Die Realpolitik wich auch vor dem EU-Beitritt nicht selten von diesem
Grundkonsens ab, aber seit dem EU-Beitritt und mit der sukzessiven
Militarisierung der EU verflachte dieser Grundkonsens zunehmend zum
Schein, unter dessen Oberfläche kräftig am schrittweisen Aufbau einer
imperialen EU-Großmacht mitgewirkt wurde und wird (EU-Battlegroups,
EU-SSZ, uvm.).
Der FPÖ-Ideologe Andreas Mölzer jubiliert bereits unmittelbar nach
dem EU-Beitritt, dass nun der 2. Republik und ihren Gründungsdokumenten,
die dem deutschnationalen Rechtsextremismus schon immer verhasst waren,
das Sterbensglöckchen läuten würden. Mölzer im O-Ton: „Der biedere
Angehörige der ‚österreichischen Nation’ muss zur Kenntnis nehmen, dass
das angeblich primäre Kriterium seiner Identität, die Neutralität, auf
dem Misthaufen der Geschichte landen dürfte. … Der Staatsvertrag,
zentral das Anschlussverbot an Deutschland, ist durch den Beitritt zur
Europäischen Union, womit sich ja Österreich im gleichen supranationalen
Gefüge befindet wie die übrigen Deutschen, von der Geschichte
schlichtweg überholt.“ (2)
Der Mainstream des österreichischen Establishments hat sich bislang
jedoch davor gehütet, diese Grundlagen der 2. Republik offen in Frage zu
stellen. Für das linksliberale Milieu wurde sogar versucht, die EU als
Hort des Antifaschismus schönzureden. Diese Erzählung war schon immer
falsch: Denn das neoliberale EU-Konkurrenzregime entfachte massenhafte
Existenzangst und damit auch wieder die Furien von Rassismus und
Rechtsextremismus. Zur Durchsetzung neoliberaler Freihandelsverträge
bediente sich die EU beim prowestlichen Regime Change in Kiew
neofaschistischer und antisemitischer Kräfte, die offen ukrainische
NS-Kollaborateure verehren. Im Jahr 2014 verweigerten deshalb die
EU-Staaten unisono einer UNO-Resolution gegen die Verherrlichung des
Nationalsozialismus die Zustimmung.
… findet große Mehrheit im EU-Parlament
Anlässlich des 80. Jahrestags des 2. Weltkriegs hat das EU-Parlament
nun mit großer Mehrheit eine Resolution (3) angenommen, die offen auf
den Geschichtsrevisionismus rechtsextremer Kräfte einschwenkt, indem die
Kriegsschuld des nationalsozialistischen Deutschland relativiert und
der präzedenzlose Charakter des Holocaust geleugnet wird. Verantwortlich
für den 2. Weltkrieg seien Hitler-Deutschland und die Sowjetunion
gleichermaßen, da sie „gleichermaßen das Ziel der Welteroberung verfolgt hätten.“
Als Beleg dafür wird insbesondere der deutsch-sowjetische
Nichtangriffspakt („Hitler-Stalin-Pakt“) vom 23. August 1939 angeführt.
Nun kann vieles an diesem Pakt kritisiert werden (v.a. hinsichtlich
des geheimen Zusatzprotokolls) – ebenso wie an der Politik
Großbritanniens, Frankreichs und anderer Mächte im Vorfeld des 2.
Weltkrieg, z.B.
– die Weigerung der Westmächte, die vom Faschismus
bedrohte und letztlich vernichtete spanische Republik zu unterstützen
(1936 – 1938)
– das grüne Licht der britischen Außenpolitik für die
Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland Monate vor dem Einmarsch
im März 1938
– das Münchner Abkommen von Großbritannien und
Frankreich mit Hitler und Mussolini (September 1938), mit dem das
tschechische Sudentenland an Hitler ausgeliefert wurde (und damit ein
entscheidendes militärisches Bollwerk gegen einen Angriff Deutschlands
auf die mit der Tschechoslowakei verbündete Sowjetunion)
– die Kollaboration Polens mit Hitler bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei
– der deutsch-französische Nicht-Angriffspakt (Dezember 1938)
– die Auslieferung des in London lagernden tschechischen Goldbestandes
an die Nazis, nachdem diese die Tschechoslowakei völlig besetzt hatten
(März 1939).Das möglicherweise größte Versäumnis war,
dass es nicht gelang, ein System kollektiver Sicherheit gegen die
faschistische Aggression zu entwickeln. Vor dem Hitler-Stalin-Pakt
drängte die sowjetische Außenpolitik – seit 1933 bis in den August 1939 –
auf eine solche Anti-Hitler-Allianz. Diese Bemühungen wurden jedoch von
der britischen und französischen Staatsführung permanent unterlaufen
(4), wohl auch mit der Intention, den bevorstehenden deutschen Angriff
nach Osten zu kanalisieren. Hitler hatte schließlich nie ein Hehl daraus
gemacht, dass die „Vernichtung des jüdischen Bolschewismus“, die
„Eroberung von Lebensraum im Osten“, die Versklavung bzw. Vernichtung
der „slawischen Untermenschen“ zu seinen obersten Kriegszielen zählten.
Ein Teil des britischen Establishments war einer Annäherung an Berlin
nicht abgeneigt. Exemplarisch dafür die Erklärung des britischen Lord
Halifax, die dieser 1937 nach einem Besuch bei Hitler im Namen der
britischen Regierung abgab: „Der Führer habe nicht nur in
Deutschland Großes geleistet, sondern auch durch die Vernichtung des
Kommunismus im eigenen Land diesem den Weg nach Europa versperrt … Daher
kann Deutschland mit Recht als Bollwerk gegen den Bolschewismus
angesehen werden“ (5). Nach 1945 kamen Dokumente ans Tageslicht,
aus denen hervorgeht, dass noch im Juli 1939 geheime deutsch-britische
Gesprächen über ein weitgehendes Arrangement mit Nazi-Deutschland
stattfanden, z.B. die Errichtung „eines ‚Colonial Condominiums‘,
demzufolge die europäischen Kolonien in Afrika durch die europäischen
Großmächte (einschließlich Deutschlands, Anm.d.Red.) gemeinsam verwaltet
werden sollten.“ Deutschland könne „neben englischer auch mit amerikanischen (Kapital-)Hilfe rechnen“,
wenn es zu einem Abkommen über die Nicht-Einmischung in die jeweiligen
Interessenssphären käme. Dabei erhielte Deutschland – so ist zumindest
den Aufzeichnungen der deutschen Seite zu entnehmen – „freie Hand im Osten“ (6).
Der spätere britische Premierminister Churchill rechnete scharf mit
dieser Politik unter seinem Vorgänger Chamberlain ab. Er sah es als
fatalen Fehler, die Angebote der Sowjetunion zu einer „Großallianz“
gegen Hitler-Deutschland übergangen zu haben (7). Aufgrund dieses
Versagens der westlichen Diplomatie kam der stramme Antikommunist
Churchill zu einer nüchternen Einschätzung des deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakts: „Vom Standpunkt der Sowjetregierung aus muss
gesagt werden, dass es für sie lebenswichtig war, das Aufmarschgebiet
der deutschen Armeen so weit wie möglich im Westen zu halten, damit die
Russen mehr Zeit gewinnen konnten, ihre Streitkräfte aus allen Teilen
des ungeheuren Reiches zusammenzuziehen. Wenn ihre Politik kaltblütig
war, so war sie jedoch damals in höchstem Maße realistisch“ (7).
Mit der Gnade der späten Geburt muss im historischen Rückblick vieles
beleuchtet und kritisiert werden. Aber für eines eignete sich weder die
sog. Appeasement-Politik der Westmächte noch der Hitler-Stalin-Pakt:
zur Relativierung der Kriegsschuld Hitler-Deutschlands, zur
Relativierung der Verbrechen des auf Weltherrschaft und Vernichtung
ganzer Volksgruppen gerichteten NS-Regimes. Wer das tut – wie es das
EU-Parlament getan hat, setzt die Schlächter und die Befreier von
Auschwitz auf eine Stufe. Wer dies tut, verhöhnt die unermesslichen
Opfer, die die Sowjetunion mit über 25 Millionen Toten für die Befreiung
Europas vom Nationalsozialismus gebracht hat, nicht zuletzt auch für
das Wiederstehen eines demokratischen und unabhängigen Österreich.
Täter-Opfer-Einebnung
Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal Centers in Jerusalem,
hat schon früher einmal eindringlich vor dieser Täter-Opfer-Einebnung
gewarnt: „Die Parallelisierung des Nationalsozialismus und des
Kommunismus ignoriert die entscheidende Besonderheit der Naziideologie,
die darauf abzielte, bestimmte Menschen nur ihrer Herkunft wegen zu
vernichten … Die behauptete Austauschbarkeit beider Phänomene übersieht
den präzedenzlosen Charakter des Holocaust.“ Begehe man den 23. August als Gedenktag (Tag des Abschlusses des Hitler-Stalin-Pakts, Anm. d. Red.), dann impliziere dies, „dass
die Sowjetunion und Nazideutschland gleichermaßen für die Verbrechen
des Zweiten Weltkriegs verantwortlich wären … als wären jene Länder,
deren Soldaten den industriellen Massenmord beendeten, genauso schuldig
wie das Regime, das das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ersonnen,
gebaut und betrieben hat“. Eine „unzutreffende[…]
Gleichsetzung kommunistischer und nationalsozialistischer Verbrechen
würde zukünftige Generationen mit einer vorsätzlich verfälschten
Darstellung des Holocaust aufwachsen lassen“ sowie „den entscheidenden
Unterschied zwischen Tätern und Opfern einebnen“, warnte Zuroff (8).
Dem ist nichts hinzuzufügen.
ÖVP, SPÖ, Grüne, Neos Hand in Hand mit der FPÖ
Doch eines noch: Alle österreichischen Abgeordneten im EU-Parlament
haben diese Resolution zugestimmt. Die Abgeordneten von SPÖ, ÖVP, Grünen
und Neos stimmten Hand in Hand mit der FPÖ. Ein bemerkenswerter Erfolg
des rechtsextremen Geschichtsrevisionismus, der über die EU-Ebene
implementiert werden soll. Wehren wir uns dagegen! Verteidigen wir den
antifaschistischen Grundkonsens, wie er nach wie vor in der
österreichischen Verfassung verankert ist!
Und stellen wir die Abgeordneten zur Rede, die diesem skandalösen
Angriff auf den antifaschistischen Grundkonsens, zugestimmt haben (9):
Alexander Bernhuber, Karoline Edtstadler, Othmar Karas, Lukas Mandl,
Simone Schmiedtbauer, Barbara Thaler, Angelika Winzig (alle ÖVP), Hannes
Heide, Evelyn Regner, Andreas Schieder, Günther Sidl, Betina Vollath
(alle SPÖ), Roman Haider, Georg Mayer, Harald Vilimsky (alle FPÖ),
Monika Vana, Sarah Wiener (beide Grüne), Claudia Gamon (Neos).
Shame on you!
Gerald Oberansmayr auf solidarwerkstatt.at
(3.10.2019)
Quellen:
(1) in: guernica 3/2005
(2) in: Servus Österreich – Der lange Abschied von der zweiten Republik, Andreas Mölzer, Berg 1996
(3) European Parliament resolution of 19 September 2019 on the
importance of European remembrance for the future of Europe (2019/2819
(RSP)) 2019/2819 (RSP))
(4) siehe auch die sehenswerte ARTE-Dokumentation “Der Hitler-Stalin-Pakt” https://www.bing.com/videos/search?q=hitler+stalin+pakt&&view=detail&mid=E55550E746FD4B9A23DEE55550E746FD4B9A23DE&rvsmid=D1A204651340674C0060D1A204651340674C0060&FORM=VDQVAP
(5) zit. nach L. Besymenski, Generale ohne Maske, Berlin 1963
(6) in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Oktober 1966, in: Helmut
Metzmacher, Deutsch-englische Ausgleichsbemühungen im Sommer 1939
(6) vgl. Winston Churchill, Der Zweite Weltkrieg, Bern 1954, S. 122/123
(8) Efraim Zuroff: Der Rückfall. taz.de 16.03.2012
(9) https://oegfe.at/wordpress/wp-content/uploads/2019/09/Abstimmungsmonitoring_September_2019.pdf