"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
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Souverän und sozial. statt EURO liberal
 

Die EU und der Arbeitnehmerschutz: Beispiel Schweiz

Der Arbeitnehmerschutz der EU soll verallgemeinert werden – wie in Griechenland

NZZ, Donnerstag, 9. August 2018 Nr. 182, 239. Jg.

Eklat rund um Rahmenabkommen

Gewerkschaften boykottieren Sondierungsgespräche

Vorwürfe an Johann Schneider-Ammann: Die Gewerkschaften beschuldigen den Bundesrat, in den Verhandlungen mit der EU den Lohnschutz opfern zu wollen. Der Wirtschaftsminister spricht von «Vertrauensbruch».

CHRISTOF FORSTER, BERN

Die politische Sommerpause endet mit einem Paukenschlag. Der Gewerkschaftsbund hat die Medien am Mitt­woch kurzfristig zu einer Orientierung eingeladen. Es fallen harte Worte. Die Rede ist von «Verrat an den Arbeitnehmern» und «Sprengstoff für das Verhältnis Schweiz-EU». Der kritisierte Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann lässt zwei Stunden später vor den Medien seinem Ärger freien Lauf.

Was ist passiert? Anfang Juli hat der Gesamtbundesrat Schneider-Ammann den Auftrag erteilt, mit Sozialpartnern und Kantonen den Spielraum bei den flankierenden Maßnahmen zum Schweizer Lohnschutz auszuloten. Es soll eruiert werden, ob der heutige Arbeitnehmerschutz allenfalls auch mit anderen Instrumenten sichergestellt werden kann. Der Bundesrat wollte damit die Diskussionen über die flankierenden Maßnahmen wieder in geordnete Bahnen lenken.

Zuvor hatte Außenminister Ignazio Cassis die heutige Ausgestaltung dieser Massnahmen öffentlich zur Diskus­sion gestellt und damit harsche Kritik geerntet. In den Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen sind die Flankierenden möglicherweise ein entscheidender Punkt. Die EU drängt hier auf Konzessionen der Schweiz. Denn der eigenständige Arbeitnehmerschutz der Schweiz, insbesondere die achttägige Voranmeldefrist für Firmen aus der EU und die Kautionspflicht, ist Brüssel seit Jahren ein Dorn im Auge.

«Nie da gewesener Angriff»

Nachdem Schneider-Ammann mit den Vertretern von Gewerkschaften, Arbeitnehmern und Kantonen Einzel-Gespräche geführt hat, beginnen am Donnerstag die konkreten Arbeiten an den technischen Fragen. Gewerk­schaftsbund und Travailsuisse boykottieren nun aber diese Gespräche, die damit zur Farce werden. Die Gewerk­schaften äußerten bereits Mitte Juli gegenüber dem Wirtschaftsminister Kritik an der Übungsanlage. Es gebe keinen Grund für Konzessionen gegenüber der EU bei den Flankierenden. Diese seien Teil der roten Linien, die der Bundesrat mehrmals bekräftigt habe. Das Fass zum Überlaufen brachte aus Sicht der Gewerkschaften die Einladung des Wirtschaftsdepartements zu den technischen Gesprächen. Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner leitete aus dem Schreiben einen «nie da gewesenen Angriff auf die Schweizer Arbeitnehmenden» ab. Die Arbeitsgruppe solle laut dem Auftrag des Wirtschaftsdepartements Vorschläge machen, wie die Flankierenden in einer für die EU akzeptablen Form ausgestaltet werden könnten, die zudem vor einer allfälligen Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs Bestand haben müsse, sagte Rechsteiner und zitierte dabei aus dem Papier.

Auf dem Spiel stehe nicht nur die Achttageregel, sondern auch die Kautionspflicht, das Schweizer Sanktions­system, die Zahl der Lohnkontrollen und das System der allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge. Die Absichten des Departements laufen laut Rechsteiner auf eine «Demontage der erfolgreichen Schutzmass­nahmen» bei Entsendungen hinaus. Zudem wäre damit jede künftige Anpassung des Schweizer Lohnschutzes von der Zustimmung der EU abhängig. Entsprechende Gesetzesänderungen will der Gewerkschaftsbund mit dem Referendum bekämpfen.

Travailsuisse, die zweite Dachorganisation von Arbeitnehmern, schliesst sich dem Boykott an. Die im Schreiben erwähnten Lösungsansätze hätten alle einen Abbau bei den Flankierenden vorgesehen, sagt Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich. Aufgrund dieser Prämisse sei er nicht bereit zu Gesprächen. Er warnte, dass nur schon der Anschein von Konzessionen beim Lohnschutz auf Druck der EU tödlich für das Rahmenabkommen sei.

Enttäuscht von Rechsteiner

Dass die Gewerkschaften in ihren Schilderungen nur diejenigen Passagen aus dem vertraulichen Papier zitiert hatten, die ihnen in die Hände spielten, wurde spätestens nach den Ausführungen von Schneider-Ammann deutlich. Es sei ausdrücklich festgehalten, dass das derzeitige Schutzniveau der Flankierenden beizubehalten sei, sagte der Wirtschaftsminister. Ihre künftige Ausgestaltung solle nicht nur in einer von der EU, wie von den Gewerkschaften behauptet, sondern auch in einer im Inland akzeptierten Form geschehen.Schneider-Ammann zeigte sich verärgert und persönlich enttäuscht von Rechsteiner. Er sprach von einem «Vertrauensbruch», nachdem man fast 40 Jahre gekämpft, aber sich immer auch wieder gefunden habe.

Ob mit dem Eklat das Scheitern der Verhandlungen mit der Europäischen Union eingeleitet ist, bleibt vorderhand offen. Schneider-Ammann zeigt sich offen für ein klärendes Gespräch mit Rechsteiner. Ob dies in der Sache etwas ändern würde, ist indes fraglich. Denn der Gewerkschaftsbund hat bereits früh signalisiert, dass er bei den Flankierenden keinen Spielraum für Anpassungen im Sinne der EU sieht.

 

Der Bericht der NZZ über eine Schweizer Debatte zur EU und zum Arbeitnehmer-Schutz spricht für sich selbst. Aber einige Erinnerungen dazu sind doch nützlich.

In der Schweiz spielt die SP, wie auch anderswo in Europa, den EU-Turbo, bedingungslos und ohne Reserve. Nur schnell in die EU mit der Schweiz, koste es was es wolle! Seit der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 und über eine Reihe anderer Abstimmungen und Beschlüsse hinweg war und ist dies die Politik der SP. Es scherte sie auch nicht, dass ihre „Volksinitiative“ zum sofortigen EU-Beitritt 2001 mit 3 Viertel der Stimmen und allen Kantonen bei einer ausnahmsweise hohen Beteiligung so eindeutig wie nur denkbar abgelehnt wurde.

Und jetzt stellt sich die Schweizer Gewerkschaft gegen die Mauscheleien der Regierung mit Brüssel. Das ist de­r Punkt, auf den es ankommt. Selbst Gewerkschaften, und nicht nur in der Schweiz, beginnen zu realisieren: Die EU ist unsere Gegnerin. Sie ist das Kartell des Groß­kapitals und der übernationalen Bürokratie, die den inzwischen zum Schimpfwort geworde­nen Neoliberalismus als globales Regime und System durchsetzen will.

Zu allen Gewerkschaften hat sich dies allerdings noch nicht durchgesprochen. Bei der Großd­emo gegen den 12-Stundentag am 30. Juni sagte eine höhere Funktionärin am Heldenplatz: Da hilft uns nur mehr die EU … Ideologen /Ideologinnen sind lernresistent.

Aber für uns ist der Schweizer Fall doch ein Anlass, unsere Haltung zu den Gewerkschaften zu überdenken. Eine unbedingte Unterstützung wäre nach den Erfahrungen des ganzen letzten Jahrhunderts absurd. Vor zwei Jahren schrieb ich eine Polemik gegen eine Schrift des DGB, wo sein Institut besonders devot und gleichzeitig auch ein wenig einfältig gegen Kritiker des Euro und der EU argumentierte. Der Verleger sandte es an die „Junge Welt“. Die aber wiesen es zurück: „Wir wollen nicht antigewerkschaftlich sein!“

Das ist DKP pur. Es geht um die Organisation und nicht um den Inhalt: „Die Partei hat immer recht!“

Doch wir können nicht oft genug festhalten: Die Linke der 1970er und 1980er hat gegen den Wohlfahrtsstaat politisiert. Diese Strategie, so argumentierte sie damals zu recht, stabilisiert das System. Heute treten wir für den Wohlfahrtsstaat ein und verteidigen ihn. Denn es geht um die Lebensumstände der großen Mehrheit der Bevölkerung. Das ist die eine Sache.

Eine ganz andere Sache ist aber die Sozialpartnerschaft. Es geht ja dem ÖGB nicht eigentlich um die 60-Stunden-Woche oder den 12-Stunden-Tag. Dem hat er in einer ganzen Reihe von Fällen bereits zugestimmt. Es geht ihm um die Sozialpartnerschaft. Das ist seine Art, sich im System kommod einzurichten und möglichst nichts Grundsätzliches zu verän­dern. Der Vorschlag der letzten Woche von der Post-Gewerkschaft zeigt diese zwiespältige Haltung sehr deutlich. Sie will die Viertage-Woche, aber sie wagt es nicht, wirklich eine Arbeitszeit-Verkürzung vorzuschlagen, also zu sagen: Wir wollen 35 Stunden, oder in der Folge 30 Stunden.

Wir sind auch heute gegen die Sozialpartnerschaft. Das hindert uns nicht, mit dem ÖGB für Verbesserungen oder gegen Verschlechterungen zu demonstrieren. Aber es geht nicht zuletzt darum, die verbundenen Augen vieler Gewerkschaftsfunktionäre anzusprechen. Und wenn, wie jetzt in der Schweiz, die Augenbinden durch die rauhe Wirklichkeit ein wenig gelockert werden, so ist uns dies ein Anlass zur Genugtuung, und wir möchten wünschen, dass davon auch einige österreichische Gewerkschafterinnen hören.

AFR, 13. August 2018

 

 

 

 

 

1968: „Der Verrat der Intellektuellen“ und die Frage nach dem Weg der Geschichte

Dutschkes Rad nach dem Mordversuch

Das Jahr 1917 haben wir erinnert und reflektiert. Wir haben sogar eine eigene Veranstaltung dazu ausgerichtet. 1918 ist für uns ebenfalls Anlass des Nachdenkens: Die Gründung der Republik Österreich brachte die Basis für eine kleine Nation und die Überwindung des habs­burgischen Spätfeudalismus. 1918 wurde aber für die Sozialdemokratie auch zum Anlass des Verrats an ihrer ohnehin nur mehr rhetorisch revolutionären Politik. In Österreich verbargen sie sich hinter dem Kürzel des Austromarxismus. Im „neuen“ Deutschen Reich der Weimarer Republik hielten sie dies nicht für notwendig. Dort wurden sie offen reaktionär und brachten ihrerseits die Revolutionäre um. „Einer muss ja der Bluthund sein“, meinte der Sozialdemo­krat Noske in schöner Offenheit.

Aber 1968?

1968 ist für die Linke eine Verlegenheit. Und das ist noch eine Untertreibung. Denn 1968 war für viele, die sich heute noch als Linke begreifen, die Zeit ihrer Politisierung, die Zeit ihres Abschieds vom Konservativismus ihrer Herkunft, von der schwarzen Reaktion der Zweiten Nachkriegszeit. 1968 war also für sie und für die Gesellschaft auch ein Riesenschritt vorwärts. Das bleibt durchaus ehrenwert. Daher rührt ja auch noch der Hass der Konservativen, selbst heute noch, auf die „68er“. Ob CDU- oder CSU-ler, AfD-ler oder auch Liberale – für sie ist 1968 der Beinahe-Untergang des Abendlands, das man heute noch retten muss.

Und doch ist die Diagnose im Nachhinein eindeutig. 1968 ist das Symboljahr des Abgleitens des Großteils jener politischen Intellektuellen, die sich damals links nannten, in eine arbeiter­feindliche, gegen die Massen gerichtete und offen antiplebeische Haltung. Sie hat sich inzwi­schen weiter entwickelt zu einer elitären, ja elitistischen Einstellung: Für die Unterschichten haben sie nur mehr Verachtung und Beschimpfung übrig. Der lange Marsch durch die Institu­tionen wurde zum Karriere-Trick. Der heutige Alt-68er ist gewöhnlich ein pensionierter Sektions-Chef. Oder er war Abteilungsleiter in einem Konzern. Nicht selten ist es auch ein aktiver oder ein Ex-Politiker, ein gewesener Minister oder ein ehemaliger Abgeordneter, gewöhnlich von der SP oder den Grünen. Schaut Euch Otto Schily und Daniel Cohn-Bendit an; oder Franz-Josef-Fischer – oder in einem sehr bescheidenen Format in Österreich Raimund Löw!

Hierzulande spielt, mit einer Ausnahme, die wir uns noch vornehmen werden, das Jahr 1968 keine Rolle. Dabei ist die hegemoniale Öffentlichkeit doch so versessen auf „Erinnerungs-Kultur“. Nimmt man eine französische Zeitung in die Hand, ob aus Paris oder der Provinz, so hat man einen drastisch anderen Eindruck: vorne und hinten 1968!

Vielleicht sagt uns gerade das: Auch wir müssen 1968 analysieren. Das große revolutionäre Ereignis, von dem manche heute schwärmen, war es gewiss nicht. Es war aber zumindest in manchen Teilen Europas mehr als nur ein Aufruhr von frustrierten Intellektuellen. Jedenfalls hatte es politische Auswirkungen, wenn uns auch viele davon nicht gefallen.

Durch Zufall kam mir ein Interview mit einem inzwischen alten, früher recht angesehenen französischen Soziologen, Alain Touraine, in die Hände (La Depeche / Toulouse, 17. Juni 2018). Er spricht da mehrere wichtige Themen an. Er sieht einen Bruch in der Arbeitswelt seit 1968: „Heute spricht man nicht mehr von Arbeit (travail), man hat vielmehr eine Beschäfti­gung (… est occupé).“ Mir scheint dies extrem wichtig: Besagt es doch, dass sich die Produk­tions- als Arbeitsverhältnisse grundlegend gewandelt haben. Die körperliche Ermüdung und Erschöpfung, das Stigma des alten Proletariats, wurde für den Großteil der Bevölkerung durch nervöse Anspannung und einen dauernden Stress durch Kontrolldruck abgelöst, das Zeichen der neuen plebeischen Unterschicht. Touraine ist leider nicht konsequent. Er sieht auch nicht, dass er von europäischen Verhältnissen, von Verhältnissen im Zentrum, spricht. Hier wurde der Prozess der materiellen Basis-Produktion teils automatisiert. Teils aber wurde er in die Peripherie ausgelagert. Der Wandel der Arbeitswelt ist also ein wesentlicher Aspekt des Strukturwandels im Prozess der Globalisierung. Damit stehen wir vor den techno-sozialen Grundlagen unserer heutigen Verhältnisse. Die Zentrum-Peripherie-Struktur gestaltet ihre Basis um. Das aber hat Konsequenzen für die Klassen-Schichtung. Und es hat fundamentale Konsequenzen für die politische Organisation, vor allem der sozialistischen Bewegungen. Denn bereits 1968 war die politische Bewegung der Lohnabhängigen, vor allem in den Kommunistischen Parteien, in vielerlei Weise überholt. Sie war außerstande, auf neue Anforderungen zu reagieren.

Und damit geht es weiter im Text über 1968.

1968 hat einen neuen Akteur geschaffen oder jedenfalls sichtbar werden lassen, meint Tourai­ne. Der neue Akteur hat eine individuelle oder individualisierende Mentalität. Damit kommen wir langsam an die Problematik heran. Denn diese individuelle Mentalität war stets das Krite­rium der Intellektuellen. Arbeiter und Unterschichten waren entweder eher kollektiv bzw. kol­lektivisierend orientiert, oder sie waren nicht selten anarchisch, letzteres vor allem die Bauern.

Bevor wir auf dieser abstrakten Ebene weiter argumentieren, müssen wir unbedingt einen Blick auf die politischen Abläufe machen. Doch auf die Abläufe wo, in welchem Land? Denn 1968 hatte in Frankreich und Italien eine völlig andere Bedeutung als in der BRD oder auch der USA.

In Frankreich, ebenso wie in Italien, gab es eine starke KP und starke Gewerkschaften. Doch beide Organisationen wurden durch die Basis-Bewegungen völlig überrollt. Die lief jedenfalls in Paris an ihnen vorbei und entwickelte schnell einen Charakter, der nicht weit von einer revolutionären Situation entfernt war. Die Gewerkschafts- und KP-Funktionäre standen ziem­lich hilflos neben dem Geschehen und sahen eigentlich nur zu. Für die Staatsmacht schien die Sache dagegen aus dem Ruder zu laufen. Sie fühlte sich akut bedroht. Da tat De Gaulle einen primitiven und doch genialen Schachzug. Er setzte Neuwahlen an. Damit hatte er Gewerk­schaften und KPF richtig eingeschätzt. Er zwang sie damit in das Korsett des bürgerlichen Systems. Und sie ließen sich gern dort hinein zwängen.

Denn nun konnten sie endlich wieder auf ihre Weise mobilisieren und aktiv werden – in der einzigen Weise, wozu sie imstande waren. Sie taten genau das, was sie konnten. Sie machten Wahlkampf und brachen damit aktiv die Dynamik der Bewegung. Nun konnte sie ihre Stär­ken und ihren Einfluss auf die Arbeiter wieder einsetzen. Cohn-Bendit hatte in gewisser Weise recht, wenn er in seinem Buch von damals („Linksradikalismus…“) der KPF den Vorwurf machte, eigentlich wäre sie es gewesen, welche den französischen Mai in seiner Kampfkraft ein Ende gesetzt habe.

Er empfiehlt dann, in einer Art Polemik gegen Lenin, den „Linksradikalismus“ als Heilmittel. Es ist wert, darüber einen Satz zu verlieren. Denn diese Art von „Linksradikalismus“ war eine zutiefst bürgerlich intellektuelle Haltung. Sie war auch von Cohn-Bendit in Wirklichkeit nicht sonderlich ernst gemeint. Sein Flirt mit Brigitte Bardot hat ihn einige Wochen lang viel mehr beschäftigt als die politische Aktivität.

Aber hätten die KPF und die CGT denn einen Bürgerkrieg beginnen sollen? Der wäre mit Sicherheit verloren gegangen. De Gaulle hatte bereits seine militärischen Einheiten zwar diskret aber doch deutlich in Bereitschaft. Das hätte somit in einer völlig unvorbereiteten, daher hoffnungslosen Situation viel Blut gekostet und wäre vermutlich schnell niedergeschla­gen worden.

Das zeigt, dass die Frage falsch gestellt ist. Das Stichwort heißt nämlich: „völlig unvorberei­tet“. Denn die KPF und auch die Togliattische KPI hatten in ihrer Sowjet-Abhängigkeit nur ein Denkmuster: Yalta. Der Osten war sowjetisch. Im Westen musste man sich eben an die 1944 / 45 vereinbarten Spielregeln halten. Die sahen politische Aktivität nur im Rahmen des parlamentarischen Systems vor. Diese Parteien kamen überhaupt nicht auf die Idee, sich auch nur Gedanken über andere Organisationsformen oder Kampf-Möglichkeiten zu machen. Als eine solche Notwendigkeit im Pariser Mai auftauchte, war ihnen nicht einmal mehr die abso­lute Dringlichkeit alternativer Militanz bewusst, geschweige denn, sie hätten irgendetwas vorzuschlagen gehabt.

Damit war die Geschichte gelaufen. Es war nicht so unähnlich wie das, was Marx ein Jahr­hundert früher im „18. Brumaire“ geschildert hatte. Denn außerhalb Paris war die Bewegung sowieso viel schwächer. Dafür waren die Ängste der Bürger und der sonstigen Mittelschich­ten umso größer. Es war von vorneherein klar, wie Wahlen dieser Art in diesem Kontext und im gegebenen institutionellen Rahmen ausgehen würden. Die KPF aber lief ins offene Messer. Das ländliche Frankreich machte dem Pariser Mai auch ein schnelles und nicht sonderlich ruhmreiches Ende.

In der BRD oder in Österreich lief die Geschichte sowieso ganz anders und viel eindeutiger. Es ist wert, sich eine der recht naiven Erinnerungsschriften anzusehen (Lieb 1968). Die Berli­ner und sodann die deutsche Studentenbewegung war von vorneherein das Aufbegehren bür­gerlicher Jugendlicher und Adoleszenten gegen die erzreaktionäre deutsche Gesellschaft der 1950er und 1960er. Und diese jungen Leute haben ihre eigenen Interessen nicht vergessen! Sie nutzen einzelne Versatzstücke aus dem marxistischen Vokabular („Wissenschaft als Produktivkraft“), um für sich ein „Studienhonorar“ zu verlangen. Von einer Reflexion war da keine Rede. Dass ein Großteil der sogenannten Wissenschaft ein kunstvolles Gebäude hege­monialer Ideologie ist, dass Studenten ohnehin zum privilegierten Teil dieser Gesellschaft gehören – Fehlanzeige! Und selbst eine unterstützenswerte Forderung reformistischen Charakters – etwa: Stipendien für Unterschicht-Kinder – geriet damit ins Zwielicht einer schäbigen Privilegien-Politik.

Das Mailüfterl hier, die „Bewegung“, war exklusiv intellektuell. Nicht der Schatten einer proletarischen Bewegung war hier vorhanden. Rudi Dutschke wurde von einem jungen Hilfs­arbeiter abgeschossen. Als später eine Minderheit zu begreifen anfingen, wie die Gesellschaf­ten des Zentrums tatsächlich strukturiert sind, waren die Folgerungen zwar moralisch ehren­haft und aufrichtig, aber gleichzeitig kurzschlüssig: Es führte zum sofortigen Abgleiten in den Terrorismus, welcher diese Menschen selbst persönlich vernichtete, die politische Entwick­lung aber nicht voranbrachte.

Und in Wien war auch die intellektuelle Bewegung von einer ganz speziellen Art von Intel­lektuellen geprägt. Die Aktionisten, Nitsch, Ossi Wiener, werden heute von den gutbürgerli­chen Blättern wie die „Presse“ hochgejubelt. Eine gewisse Ausnahme ist Mühl, dessen Kom­mune nicht in das heutige Klima der neuen Prüderie passt. Gibt es etwas Kennzeichnenderes? Wir können ruhig beiseite lassen, dass dieselbe „Presse“, die da heute hagiographisch über die Aktionisten von 1968 schreibt (zu denen heimlich auch ihr Redakteur Malte Olschewski ge­hört haben soll), damals wüst gehetzt hat, wie die „Kronenzeitung“ oder der längst verbliche­ne „Express“ auch. Aber was soll eigentlich an den Aktionisten links gewesen sein? Was ist so fortschrittlich daran, im Hörsaal 1 auf den Tisch zu scheißen? – Der nächste Schritt im „linken Forderungs-Katalog“ war sodann dem gleichwert: In Parallele zum „Studienhonorar“ wollten die verkannten Künstler einfach mehr materielle Privilegien.

Es gab eine Gemeinsamkeit in der so unterschiedlichen Entwicklung in Paris, Berlin oder Frankfurt und Wien:

Damals, spätestens, trennten sich die angeblich Linken, die Linksliberalen nämlich, endgültig von der Masse der Bevölkerung. Darüber können und müssen wir reden. Denn diese Massen waren tatsächlich in hohem Maß reaktionär. Wie hätte dies auch anders sein können, nach Jahrzehnten zuerst von SPÖ / SPD, dann von NSDAP, und dann wieder von SPÖ, SPD und CDU? Dass man diese reaktionäre Haltung nicht mitmacht, dass man sie angreift, war ganz in Ordnung. Die Frage ist nur, welche Folgen man daraus zieht.

Der entscheidende Punkt wäre gewesen: Man hätte diese Bedingungen realistisch analysieren müssen. Realistisch analysieren heißt, sich nicht auf das einzige Schlagwort Manipulation zurück zu ziehen. Ich erinnere mich an eine Diskussions-Veranstaltung mit Johannes Agnoli, der eben ein links viel gelesenes Buch („Transformation der Demokratie“) geschrieben hatte. Ein versprengter Liberaler hatte sich in den Hörsaal gewagt und stellte an Agnoli die Frage: Aber warum kandidieren Sie nicht und stellen sich einer Wahl? Und Agnoli hatte keine andere Antwort parat als zu sagen: Wenn Sie mir das Wahlkampf-Budget einer unserer großen Parteien geben, werde ich das tun…

Vor allem dürfen wir über Eines nicht hinweg gleiten: Die Bedürfnisse von Intellektuellen und Unterschichten sind nicht dieselben. Das heißt nicht, dass die intellektuellen Bedürfnisse nicht ihre Berechtigung hätten. Der junge Marx hat, in diesem Punkt vielleicht auch ein wenig unreflektiert, seine Intellektuellen-Bedürfnisse mit den Bedürfnissen der fortschreitenden Menschheit gleichgesetzt. Also nicht die Intellektuellen müssen sich auf das Massen-Niveau begeben, sondern die Massen müssen die materiellen Möglichkeit haben, über die reinen Basis-Bedürfnisse hinaus andere, vielleicht weiter reichende Bedürfnisse zu entwickeln, ein wirklicher Mensch zu werden.

Das war die Grundlage, die Basis-Idee der Marx’schen Befreiungs-Theorie und des Gedan­kens vom revolutionären Subjekt: Das Proletariat, die Unterschichten, muss sich selbst be­freien, um als Menschen überleben zuu können. Damit befreien sie die ganze Menschheit, weil sie damit die Klassen-Spaltung aufheben.

In dieser fundamental-strukturellen Auffassung gibt es aber mehrere gefährliche Abkürzun­gen. An ihnen kann man schon den Weg verlieren. Die Gleichheit dieses Interesses an der allgemeinen Befreiung zwischen den Unterschichten und einem progressiven Teil – einem intellektuellen Teil? – der Mittelschichten ist kein Automatismus. Er ist keineswegs immer und in jedem historischen Augenblick gegeben. Es scheint, als ob derzeit die Gruppe der Intellektuellen beinahe geschlossen zwischen sich und den Unterschichten einen Antagonis­mus sieht. Sie stellen sich entschlossen auf die Seite der Eliten. Oder ist das eine okzidentale (Denk-) Beschränkung?

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Identität zumindest im politischen Antagonismus gegen das Alte Regime gegeben. 1848 war die große Stunde dieser natürlichen Koalition. Aber sie ging schnell vorbei. Die Bürger und die Mittelschichten bekamen es mit der Angst. Sie sahen ihre Interessen daher eher auf Seiten des leicht reformierten, des transformistischen Staats. Im Deutschen Reich wenig später wurde Bismarck zum Heros des Bürgertums. Der dankte es ihm nicht, sondern versuchte, dieses Bürgertum in seine eigenen Entwürfe hinein zu schrecken: Dazu wollte er Lasalle benutzen – und Lasalle war bereit, darauf einzusteigen….

Eine weitere Problematik ist das Verhältnis zwischen gegebenen alltäglichen Lebenswelten und kulturellen Orientierungen und Interessen in einer mittleren und längeren Frist. Historisch stellten die Bauern das Parade-Beispiel. Immer wieder ließen sie sich von den Eliten und deren Mittelsmännern, in Europa waren dies vor allem Geistliche, instrumentalisieren. Dabei hätten sie nach ihren längerfristigen Interessen unbedingt an der Seite der städtischen Unter­schichten und, in der Moderne, der Arbeiter stehen müssen. Heute ist dies ein Hauptproblem der Unterschichten in ihrem Verhältnis zu konservativen und reaktionären Kräften – das eigentliche „Populismus-Problem“. Die heutigen Plebeier sehen sich in ihren kulturellen Identitäten viel eher durch die provinziellen Reaktionäre der Rechten repräsentiert. Mit den globalistischen („Links“-) Liberalen wollen sie nichts zu tun haben.

Und was hat dies Alles mit 1968 zu tun?

Die Linksliberalen haben ihre Wahl klar getroffen. Sie entschieden sich für ihre eigenen Inter­essen, für die Globalisierung, gegen eine Solidarität mit den Beherrschten, für die Solidarität mit den Eliten. Ihre politische Organisation ist heute die EU.

Die Linke war auch damals minoritär. Und sie wurde zerrissen und aufgerieben in mehreren Cleavages: jenem zwischen der lokalen Lebenswelt und dem Internationalismus; der eigenen kulturellen Identität und dem Engagement für die Unterschichten und die Dritte Welt; und Einiges Andere. Die Reste der Linken haben es nicht geschafft, eine Synthese der eigenen Lebenswelt und ihrer politischen Einstellung herzustellen. 1968 wurde damit in vielerlei Weise zu einem Symboldatum. Das Jahr kennzeichnet das Scheitern der Intellektuellen als eine progressive Kraft. Es markiert aber auch das Scheitern der traditionellen Linken. Für die damaligen Probleme haben wir bis heute keine gültige Antwort gefunden. Wir müssen sehr acht geben, dass dies kein endgültiges Scheitern wird.

Albert F. Reiterer, 1. August 2018

Lieb, Wolfgang (2018), 50 Jahre danach – Erfahrungen in und mit der 68er Bewegung. Bergkamen: pad.

DAS NEUE WELTSYSTEM DES 21. JAHRHUNDERTS: Nochmals Freihandel: Vom Imperialismus der Nationen zum Imperialismus der Imperien

„Globale Wertschöpfungsketten“

Vertreter aus unterschiedlichen politischen Lagern protestieren gegen das amerikanische Engagement im Vietnam-Krieg.

Die Internationalisierung der Produktion – oder vielmehr eines wesentlichen Teils davon, über diesen Unterschied später – läuft über die globalen Wertschöpfungsketten (GVC – global value chains), und zwar häufig innerhalb transnationaler Konzerne / „Monopole“. Das ist eines der Kennzeichen des sozio-ökonomischen Systems der Gegenwart bzw. der heutigen Produktionsverhältnisse. Dem entspricht eine neue Sorte von Freihandels-System. Der klassische Freihandel war geprägt von der Situation: Produziere hier, verkaufe anderswo. Das neue Freihandelssystem hat seine Produktionsstätten über die ganze Welt verstreut. Es hängt vom reibungslosen Funktionieren von Gewinnung, Zulieferung und Verfügbarkeit von Roh­stoffen und Zwischenprodukten ab, aber auch der Möglichkeit, das Kapital als Produktions­mittel überall ungehindert einzusetzen.

Das erzeugt eine ganze Reihe von Widersprüchen.

Materielle Produktion von Waren ist zwar eine absolut fundamentale und unerlässliche Kom­ponente des Produktions- und Reproduktions-Systems. Aber es ist nur ein Teil davon. Insbe­sondere in den hoch entwickelten Gesellschaften wird Arbeit für die Reproduktion (der Men­schen, der Arbeitskraft) sowie die Organisation des Systems selbst immer wichtiger. Die Interessen der lokalen Produkteure solcher „Dienste“ sind aber keineswegs gleich zu setzen mit jenen der stark internationalisierten materiellen Produktion.

Die lokalen, regionalen, nationalen und imperialen Sitze auch der internationalisierten / trans­nationalisierten Unternehmen führen weiters zu unterschiedlichen Bedingungen für die ansäs­sigen Konzerne und zu Interessen-Differenzen mit anderswo ansässigen.

Man hat die globale Organisation des Kapitals, die Organisation der Weltwirtschaft, bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts über die Organisation des Welthandels versucht. Das funktionierte recht und schlecht, solange die dominanten Beziehungen tatsächlich Handelsbeziehungen wa­ren. Aber auch damals bedurfte es dazu mehrerer Voraussetzungen. Die erste habe ich schon genannt: Die GVC bestimmten noch nicht das Produktionssystem: Die zweite Bedingung aber war: Eine national-imperialistische Macht (die USA; vor dem Ersten Weltkrieg das UK) war unbestritten hegemonial im kapitalistischen Weltsystem. Ergebnis war ein globaler Ansatz, welcher sich im GATT und der WTO organisatorisch niederschlug.

Diese beiden Voraussetzungen zerbröckeln seit einiger Zeit. Ökonomen als Ideologen und fast Alle aus der politischen Klasse weinen dem nach. Aber letztere tut Alles, um den Auf­lösungs-Prozess dieser Sorte von Weltsystem zu beschleunigen. An die Stelle des einheitlich globalen Ansatzes trat ein Prozess von Versuch und Irrtum. Er konkretisierte sich in regiona­len Handelsvereinbarungen (RTAs – regional trade associations) und in Freihandels-Abkom­men. Eines unter ihnen hat den politischen Schritt darüber hinaus gemacht und einen (supra- und superimperialistischen) Staat gegründet – die EU. Der ist für alle anderen dieser Versuche seitens der politischen Eliten enorm attraktiv. Man möchte ihn nachahmen, schafft es mangels an entsprechenden Voraussetzungen aber nicht.

Handelspolitik wurde demzufolge zu einer neuen Art von Industriepolitik. Heute muss man dies noch umfassender begreifen: „Handelspolitik“ wurde zur Wirtschaftspolitik schlechthin. Hier müssen wir auf die GVCs zurückkommen. Denn die GVCs müssen entmythologisiert werden. Noch sind sie keineswegs der quantitativ dominierende Faktor der Weltproduktion (vgl. GVC-Report 2018). Die rein inländischen Produkte machen noch 80 % der Produktion aus. Neben einer Diskussion über die Grundlagen der derzeitigen Weltwirtschaft ist im Konzept der GVC in hohem Ausmaß Ideologie enthalten. Unter diesen „Wertschaffungs-Ketten“ sind so „hoch-technologische Notwendigkeiten“ enthalten, wie das Schälen deutscher Erdäpfel in Polen und ähnliche Wahnsinnigkeiten, welche insbesondere durch die vier „Freiheiten“ der EU zustande kommen und von ihr gefördert werden; oder der Import von Äpfeln aus Neuseeland und Chile nach Österreich …

Diese Wertschöpfungsketten sind in hohem Maß keineswegs technologisch begründet. Es sind politisch (-ökonomisch) erzeigte Strukturen des globalen Systems. A. G. Frank und S. Amin haben dies weitsichtig bereits vor einem halben Jahrhundert in das aussagekräftige Bild gebracht: F&E in die USA und nach Westeuropa; die Billig-Produktion hingegen in den Kongo. Aus dem Kongo wurden allerdings China und Vietnam – das konnte man sich damals beim besten Willen nicht vorstellen. Diese GVCs für Schuhe, Textilien und Handys dienen im Wesentlichen dazu, die Unter- und Mittelschichten in den USA und Europa ruhig zu halten, da man gleichzeitig die Reallöhne, jedenfalls der unteren und mittleren Einkommen (also von drei Viertel der Lohnabhängigen) beschneidet.

Tatsächlich erweisen sich die GVCs als Hauptstraße, auf welcher die Politik der Globalisie­rung in ihrer gegenwärtig bevorzugten Weise, der Großregionalisierung, gefahren wird. Das Zentrum integriert sich. Freilich müsste man in der Mehrzahl sprechen: Es bilden sich politisch und geographisch unterschiedliche Sunzentren. Der alt-neue Imperialismus differenziert und diversifiziert sich.

Diese Art der global-regionalen Arbeitsteilung erweist sich also als Umverteilungs-Maschine von Unten nach Oben. Das gilt sowohl für die Zentren, also für die USA und Europa, als auch für die Peripherie; also für China. Der GVC-Report belegt dies sehr deutlich (p. 6): „Die gro­ßen Gewinne fielen in China einer kleinen Zahl von gut ausgebildeten Arbeitern sowie den Kapital-Eignern – einschließlich der ausländischen Investoren – zu. … In den USA haben gewöhnliche Arbeiter nicht viel, wenn überhaupt was, von einem solchen Gewinn gesehen.“

Auch die ökonomische Literatur befasst sich seit geraumer Zeit mit den Fragen der Vertei­lung, und nicht nur Piketty. Aber der dominante Ton dieser Literatur ist auf einen Technolo­gismus hin gestimmt. Die wachsende Ungleichheit sei eine notwendige Folge der neuen Anforderungen an die Arbeitskräfte, der besseren Ausbildung. Sehen wir einmal ab davon, dass dies in Bezug auf die Verteilung zwischen Kapital und Arbeit hanebüchener Unsinn ist, und die macht einen Großteil dieser wachsenden Ungleichheit ab. Aber es stimmt: Die Ungleichheit wächst auch innerhalb der Lohnabhängigen. Aber diese neue Struktur der Weltwirtschaft, die gerade auch den hoch entwickelten Ländern und Wirtschaften die besser ausgebildeten Arbeitskräfte knapp werden ließ, war keine spontane Entwicklung. Sie wurde politisch geplant und durchgezogen. Das ist es ja, was nicht nur wir an der Globalisierung anzumerken haben: Sie ist eine bewusste Politik der Umverteilung durch Struktur-Verände­rungen. Der Überschuss an schlecht ausgebildeten Arbeitskräfte und der Mangel an besser ausgebildeten wurde durch die Verschiebungen in der Zentrum-Peripherie-Logik erzeugt. Diese Art von Klassenkampf durch Struktur-Politik ging übrigens nicht immer gut aus für die Unternehmen, die sich darauf herein ließen. Es gibt eine ganze Anzahl von Unternehmen, welche ihre Betriebe wieder zurück in die Zentren verlagert haben, weil sie ihrem dortigen Markt näher sein wollen.

Die neue Form der Globalisierung und des Freihandels

Es ist dieser verallgemeinerte strukturelle Aspekt, welche die Freihandels-Verträge nach dem Muster von CETA und TTIP zu solchen strategischen Notwendigkeiten für die Eliten macht. Die Sprecher dieser Eliten, die Mehrheit der Ökonomen, begründen dies allerdings auf teils naive, teils wirklich hinterhältige Art (weil sie sehr wohl wissen, dass dies Unsinn ist) etwa auf folgende Weise: Jedes Land soll das machen, was es am besten kann; dann gewinnen alle an Wohlstand. Dieser Rekurs auf das Ricardo’sche Theorem der komparativen Kosten ist pure Ideologie. Schon Ricardos Darlegung zu seiner Zeit war pure Ideologie – Ricardo wusste sehr wohl, dass Portugal im Jahr 1817 den britischen Inseln an Produktivität schwer unterlegen war, insbesondere in der Textilindustrie. Er bringt aber ein Zahlen-Beispiel (vgl. Ricardo 1971 [1817], 147 ff.). wo das Gegenteil drinnen steht.

Die „Mega-Regionals, wie man solche Organisationen des Freihandels (TPP) auch gern nennt, bauen sich als spezialisierte Weltstaaten für ein bestimmtes Gebiet (nämlich Industrie- und Wirtschafts-Gebiet) auf, wo das Kapital teils selbst die Regulierung übernimmt. Indem sie alles aus einem kommerziellen Blickwinkel ansehen und regulieren, scheinen sie sich an der Oberfläche zu beschränken. Aber diese scheinbare Restriktivität und politische Zurück­haltung schlägt sofort in ihr Gegenteil um, und muss dies auch. Sie wird zu einer umfassenden Regulierung der betroffenen Regionen nach ganz speziellen Sonder-Interessen des Welt-Kapitals.

Diese Versuchsstationen des regionalisierten globalen Kapitals brachten auch eine neue Form des Imperialismus hervor. Nennen wir ihn den imperialen Imperialismus, weil sein Träger nicht mehr der nationale Staat, sondern das supranationale Imperium ist. Davon gibt es meh­rere Formen. Die USA haben noch die äußere Form des Nationalstaats bewahrt. China steht ideologisch auf demselben Fundament, ist seiner ganzen Organisation nach aber seit je ein Imperium. Ich denke dabei nicht an die insgesamt 100 Mill. ethnischen Minderheiten, son­dern an die strikt und höchst zentralisierte Staats-Organisation, welche ohne irgendwelche Rücksicht auf regionale Unterschiede und Identitäten einem Schema folgt.

Graphik 1

Schließlich gibt es die EU. Sie schmiedet aus den typenbildenden europäischen Nationalstaa­ten einen supranationalen Überstaat.

Das Kapital ist längst nicht mehr primär national organisiert, das Finanz-Kapital sowieso, aber auch das Industrie-Kapital. Aber verteilt auf nationale Staaten und auf Imperien mit dominanten nationalen Kernen (EU – BRD z. B.) hat es eine notwendige nationale Bindung. Es möchte sie zwar am liebsten abstreifen. Aber da gibt es Probleme. Dieser Widerspruch äußert sich u. A. in der doppelten Loyalität, welche Kapitaleigner gern an den Tag legen. Zum Einen sind sie auf eine ganz spezielle Weise Nationalisten. Nicht dass ihnen nationale Identi­tät irgendwas bedeutet, im Gegensatz zu den Mittel- und Unterschichten. Aber das Kapital braucht „seinen“ Staat. Denn es braucht die politische Unterstützung. Allerdings muss der Staat Macht haben und durchsetzungskräftig und -bereit sein. Daher orientieren sich nicht wenige Kapitalisten auch emotiv auf die USA. Die sind gewillt und in der Lage, militärisch-politisch die Interessen ihrer Kapitalisten durchzusetzen. Dass dies faktische Grenzen hat, ist eine andere Frage. Wir können dies ja in der Gegenwart am „Handelskrieg“ sehen, welchen Trump gerade vom Zaun bricht (Sommer 2018). Dass Trump so um sich schlägt, hat vorwiegend mit der Abstiegs-Position der USA zu tun.

Der Kreis um Wallerstein hat bereits Ende der 1970er vom Ende des Hegemonie-Zyklus gesprochen, an wel­chem die USA angelangt sind (Research Working Group 1979). Damals allerdings steuerte die Sowjetunion auf ihren Zusammenbruch und ihre Auflösung zu. Folge war eine kurze Periode, wo die USA dominierten wie kaum jemals zuvor. Man konnte sich damals also mit gutem Grund über die Wallerstein-Aussage lustig machen. Inzwischen muss man dies vielleicht etwas revidieren. Die Beobachtung scheint längerfristig jedenfalls zuzutreffen.

Wenn vielleicht auch die VGR-Daten in ihrer Qualität nicht so sind, wie wir sie uns wünschen würden, führt doch kein Weg an ihnen vorbei. Sie zeigen zweierlei: Der Anteil des Außen­handels am gesamten Welt-Produkt steigt seit dem Zweiten Weltkrieg fast stetig, nachdem er in der Zwischenkriegszeit mit der Weltwirtschaftskrise abgesackt war. Aber gleichzeitig ist er doch beschränkter, als man geneigt ist zu glauben. Er macht derzeit ein knappes Drittel aus. Und dabei gilt es, auch auf die kategorienweise Verteilung Zentren – Peripherie zu sehen (vgl. Graphik 1). Dabei fällt vor allem auf: Die Zentren haben einen vergleichsweise nur beschei­den größeren Anteil als die Peripherie.

Graphik 2

Wenn wir aber Daten beibringen, müssen wir nicht nur Entwicklungs-Kategorien, sondern auch einzelne Länder betrachten (Graphik 2). Die Zentren haben nur deswegen eine so niedrige Export-Quote, weil die USA hier hohes Gewicht hat. Die USA haben aber aus zwei Gründen keine so hohe Außenhandelsverflechtung – allerdings ein hohes absolutes Gewicht: Zum Einen gibt es die bekannte statistische Regelmäßigkeit, dass große Länder eine ver­gleichsweise niedrige Außenverflechtung haben, weil bei ihnen viel vom Handel im Inneren stattfindet, der bei kleineren Wirtschaften über die nationale Grenzen läuft. In der EU wird der Intra-Handel von den internationalen Organisationen zum Welthandel gezählt, was dessen Anteil enorm in die Höhe treibt. Zum Anderen ist allerdings auch der Bedeutungsverlust der USA erkennbar. Das gilt übrigens auch für Japan. Bei den USA macht in einer Trendlinie die Steigung nur ein Fünftel von der für die BRD aus.

Für die EU ist allerdings zu sagen, dass die BRD einen „Hub“ des Welthandels bildet. Das schlägt voll durch. Die EU ist ein Export-Gebiet zum Nutzen des deutschen Export-Kapitals. Der Jargon um trade-creating – Freihandelszonen und Zollunion schaffen neuen Handel – und trade-diverting – diese Organisationen lenken vor allem bisherige Handelsströme ab zum Nutzen einer Hegemonialmacht – verwischt hier eher die Sachlage und insbesondere die politische Verursachung.

Eine besondere Stellung nimmt auf Grund der schieren Größe, aber auch der bisherigen Geschichte, die VR China in dieser globalen Struktur ein. Das Land präsentiert sich gegen­wärtig als eigentlicher Verteidiger des multilateralen Freihandels. Es positioniert sich auch gegen die gegenwärtige Entwicklung in der Globalisierung, nämlich die zunehmende Bedeu­tung der RTAs, gegen die Regionalisierung des Handels bzw. der Wirtschaft. Das ist leicht erklärlich. Mit Dengs Machtübernahme hatte es die klassische Strategie der Abhängigkeit gewählt, nämlich die kapitalistische Entwicklung über den Außenhandel. Aber diese Strategie war in eine nationale Entwicklungs-Strategie eingebettet. Allein seiner Größe wegen konnte es selbst in einer solchen Dependenz-Strategie mit seinem Willen zur politischen Steuerung seine eigenen Akzente setzen und eine sklavische Abhängigkeit à la Singapur oder Burkina Faso vermeiden. Dieser Wille zur politischen Steuerung auch der Außenwirtschaft ist vielleicht das Einzige, was aus der chinesischen Revolution noch übrig blieb, eine ziemlich wichtige „nationale“ (?) Strategie.

Aber nun stößt das Land an die Grenzen dieser Strategie. Sie sind sowohl von Innen wie von Außen gesetzt. Innen wächst der Druck der eigenen Bevölkerung gegen die mit der Außen-Abhängigkeit verbundene Strategie der Überausbeutung der eigenen Bevölkerung. Da kann die Pekinger Führung noch so viele Menschen erschießen lassen und dann „produktiv ver­werten“ (durch Organhandel). Dem treten die Regierung und die politisch-ökonomische Elite mit einem Versuch zur Förderung und Entwicklung einer chinesischen Mittelklasse entgegen. Bislang hat es einiger Maßen funktioniert. Die Mittelklasse hat noch einen nicht sehr großen Anteil, aber bei dem Umfang der Bevölkerung fällt sie trotzdem ins Gewicht. Das ist heute die eigentliche Stütze der Pekinger Führung neben den Oligarchen des chinesischen Kapitals. Auch wenn der Druck groß ist, das Land ist nicht explodiert oder sonstwie kollabiert.

Außen aber gibt es die Konkurrenz-Politik der Zentren USA, EU und Japan. Die besteht vor allem im gerade besprochenen Strategie-Wechsel weg vom multilateralen Freihandel (viel­mehr nicht weg, aber seiner Verschiebung in der Bedeutung) hin zu den RTAs. Das ist auch eine Strategie gegen China, und die chinesische Führung weiß dies. Sie reagiert doppelt. Zum Einen tritt sie selbstbewusst als Führerin der Dritten Welt, als imperiale und imperialistische Macht auf und als die Hauptstütze des Freihandels. Zum Anderen ist sie aber auch wieder bereit, sich den neuen Bedingungen unterzuordnen. Sie sucht den Anschluss an TPP. Um jedoch den RTAs der USA etwas entgegen zu setzen, wird die Neue Seidenstraße propagiert, die ihrerseits eine Art chinesisch dominierte RTA sein soll.

Damit wirkt die Grundhaltung der chinesischen Führung zwiespältig. Einerseits pocht sie auf die neue Stellung „China should not just be a rules taker!“ So gibt Yong Wang (WEF 2025, 23), offenbar ein wichtiger Wirtschafts-Ideologe Chinas, die Haltung wieder. Andererseits ist dies aber doch wieder die Fortsetzung der Einordnung in den kapitalistischen Weltmarkt, wo China eben sein Heil sucht. Denn auch dort gilt: Außenpolitik und speziell Außenwirtschafts­politik wird nicht zuletzt mit dem Blick auf innere Machtverhältnisse eingesetzt. Ein höherer Freihandels-Standard, so teilt uns der gerade zitierte chinesische Wirtschafts-Ideologe mit, soll auch im Inneren die Widerstände von Wirtschaftsfunktionieren und Bürokraten gegen die „neue“ Politik der Totalunterordnung unter das globale kapitalistische System brechen.

 

Eine Aktualität aus dem Handelsblatt, 18. Juli 2018

Zeichen für den Freihandel

Die EU schließt mit Japan ein neues Wirtschaftsbündnis. Weitere könnten folgen.

Die EU und Japan wollen sich zur größten Freihandelszone der Welt zusammenschließen. EU-Kom­missionschef Jean-Claude Juncker, EU-Ratspräsident Donald Tusk und Japans Premierminister Shinzo Abe unterschrieben am Dienstag in Tokio feierlich das Freihandelsabkommen Jefta. Das Abkommen enthalte eine „machtvolle“ Botschaft gegen den Protektionismus, heißt es in einer ge­meinsamen Erklärung der drei Unterzeichner. Die EU und Japan würden damit ihren „festen politischen Willen demonstrieren, die Flagge des freien Handels hochzuhalten“.

Mit Inkrafttreten des Jefta-Abkommens im kommenden Jahr sollen über 90 % der japanischen Einfuhr­zölle wegfallen. Dies bringe EU-Exporteuren Einsparungen von einer Milliarde Euro, erwartet die EU-Kommission. Insgesamt könnten die EU-Exporte nach Japan jährlich um 13,5 Milliarden € steigen. Davon würden vor allem die Landwirtschaft, der Maschinenbau, die Chemiebranche und die Auto-industrie profitieren. Die deutsche Wirtschaft begrüßte das Abkommen. Damit schließe die EU den umfassendsten Freihandelsvertrag ihrer Geschichte. Dies sei „ein hoffnungsvolles Signal in einer für den Welthandel sehr schwierigen Zeit“, sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang. R. Berschens.

Das ist die Ideologie des Freihandels. Aber es geht nicht um Zölle – die sowieso nur mehr geringe Bedeutung haben. Es geht um die Entgrenzung als Strategie des Abbaus politischer Steuerungs-Möglichkeiten

 

Es wäre noch viel zu sagen. Der Begriff der Dienste nimmt z. B. eine besondere Stellung und eine zunehmende Bedeutung im neuen Welthandel ein. Nun schlägt sich dieser Begriff als unmittelbare Produktion, die gleichzeitig einen Verbrauch darstellt, mit dem Begriff des Handels. Ein Teil der etwas altmodischen marxistischen Ökonomie hat mit diesem Begriff überhaupt Schwierigkeiten. Das übersieht den wichtigsten Punkt dabei. Die neuere Entwick­lung hat die „Dienste“ einfach so definiert, dass sie im Grund einfach ein Ausdruck der zunehmenden Arbeitsteilung und noch mehr, der zunehmenden Kommodifizierung aller menschlichen Aktivitäten sind. Überdies erhält das Konzept eine zunehmend parasitäre Bedeutung („Finanz-Dienstleistungen“). Es ist schließlich kein Zufall, dass die höchsten Anteile an Dienstleistungen am Export in den Off-shore-Wirtschaften Luxemburg, Malta und Zypern zu finden sind. Diese korrupten Nischen der Steuer-Hinterziehung und sonstiger Betrügereien leben in hohem Ausmaß davon, aus anderen Wirtschaften Werte zu sich abzuzweigen. Usf.

Konsequenz

Kommen wir zum Schluss mit dieser Einleitung und Übersicht!

Das globale System der Weltwirtschaft muss als eine erstrangig politische Angelegenheit betrachtet werden. Im Zentrum steht die USA, trotz ihrer Schwächen und Abstiegs-Tenden­zen. Das kann man sogar räumlich-wörtlich nehmen. Auf ihrer Westseite geht es um die TPP (Transpazifische Partnerschaft). Auf der Ostseite um TTIP. Und TPP sowie TTIP sind ja keineswegs tot, wie es uns einige Politiker weismachen wollen. Die Vorhaben wurden vorerst in den Hintergrund geschoben. CETA soll den Türöffner bilden. Geht CETA durch – und die Chancen dafür sind nicht gering – dann steht TTIP blitzartig wieder auf der Tagesordnung, vielleicht unter einem anderen Namen. Und an TPP ist mittlerweile der große Freihändler China interessiert.

Im Kampf dagegen ist Trump unfreiwillig und kurzfristig der beste und effizienteste Verbün­dete. Denn mit diesem Präsidenten haben die europäischen Eliten ihre Schwierigkeiten,. Als Vertreter der vom Abstieg bedrohten Weißen und nicht zuletzt von deren Lumpen-Proletariat handelt er gezwungener Maßen gegen die liberalen Mittelschichten und auch einen Teil der Eliten. Das können die Europäer ihren Bevölkerungen schwer vermitteln und schmackhaft machen. Eine strategisch denkende globale Linke sollte sich das zunutze machen können.

  1. Juli 2018 Albert F. Reiterer

Bertelsmann Stiftung (2018), Globalisierungsreport 2018. Wer profitiert am stärksten von der Globalisierung? Johann Weiß, Dr. Andreas Sachs, Heidrun Weinelt. Gütersloh.

GVC-Report = GLOBAL VALUE CHAIN DEVELOPMENT REPORT 2017. Measuring and Analyzing the Impact of GVCs on Economic Development. Washington: International Bank for Reconstruction and Development / The World Bank.

Lee, Keun / Shin, Wonkyu / Shin, Hochul (2013), How large is the Policy Space? WTO Regime and Industrial Policy. Seoul: National University (Manus).

Research Working Group on Cyclical Rhythms and Social Trends (1979), Cyclical Rhythms and Social Trends of the Capitalist World Economy. Some Premises, Hypotheses, and Questions. In: Review II, 483 – 500.

Ricardo, David (1971 [1817]), On the Principles of Political Economy and Taxation. Ed. by R. M. Hartwell. Harmondsworth: Penguin.

WTO (2018), Annual Report. Genva: WTO.

WEF = World Economic Forum (2015), The High and Low Politics of Trade. Can the World Trade Organization’s Centrality be Restored in a New Multi-Tiered Global Trade System? Geneva: WEF.

Mit Antifa gegen Rechtspopulismus?

Der Finanzcrash 2008 hat die Krise der Globalisierung rasant beschleunigt. Die Verwaltung des Status Quo durch die traditionellen liberalen/konservativen/sozialdemokratischen Eliten-Parteien wird zunehmend prekärer. Herausgefordert werden sie vor allem durch den Rechtspopulismus. In zahlreichen Ländern ist er zur wichtigsten Opposition aufgestiegen, mit realistischen Regierungschancen. Im Osten kontrolliert er Ungarn und Polen, im Westen nun auch – im Bündnis mit den eher linken Cinque Stelle – Italien (zur österreichischen Version ein paar Worte weiter unten). Die Linke dagegen konnte nur sehr punktuell profitieren (Corbyn, Sanders, Iglesias, Mélenchon). In Griechenland endete ihre größte Chance, sich als Alternative zu präsentieren, im Desaster und hat ihre Glaubwürdigkeit al Opposition in Europa nachhaltig beschädigt. Vor diesem Hintergrund – Krise der Eliten, anhaltende soziale Verwerfungen, Aufstieg der Rechten – florieren im linken Lager die Analogien zum Aufstieg des Faschismus und der Aktualität des antifaschistischen Kampfes. Aber ist diese Vorstellung haltbar und führt sie zu einem sinnvollen Politikvorschlag für das Europa von heute?

 

Die Rechtspopulismus-Faschismus Analogie

Zweifellos gibt es phänomenologische Ähnlichkeiten zwischen dem historischen Faschismus und den heutigen Rechtspopulisten: völkische Hetzte einst gegen Juden, jetzt gegen Migranten (Moslems), Betonung nationaler Identitäten, Aufgreifen sozialer Probleme der Unterschichten, verbale Gegnerschaft zu Fraktionen des Kapitals (Banken, Spekulanten), autoritärer Sicherheitsstaat.

Dies sollte aber nicht dazu führen, substantielle Unterschiede zu übersehen. In erster Linie liegen die Kräfteverhältnisse zwischen Arbeiterbewegung und Kapital gänzlich anders. Der Faschismus hatte als ganz zentrales Charakteristikum den „präventiven Bürgerkrieg gegen den Kommunismus“: er beendete mit Gewalt die sozialrevolutionären Anstürme, die nach dem 1. Weltkrieg ganz Europa erschütterten. Damit hatte er von Anbeginn eine Teilsympathie der Eliten, die sich so dieser Bedrohung von Links entledigten. Dieser Aspekt der „terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitroff-Formel; die Kritik daran sie hier dahingestellt) wurde mit der Machtübernahme Hitlers und der Entfesselung des 2. Weltkrieges immer wichtiger, das sozialpopulistische Unterschicht-Element (Röhm-Putsch 1934) wurden zurückgedrängt.

Für die gegenwärtigen politisch-ökonomischen Eliten gibt es keine Bedrohung von Links, der sie durch ein Bündnis mit rechten Schlägertruppen entgegentreten müssten. Der Rechtspopulismus als Vehikel des Unmuts der Globalisierungsverlierer bedeutet vielmehr eine bedrohliche Destabilisierung, die eine Büchse der Pandora von Brüchen im System aufstoßen kann. Wo die Erdrückung durch Umarmung (die österreichische Lösung) nicht möglich scheint, werden alle Geschütze aufgefahren, um die populistischen Regierungsexperimente zu erledigen (siehe Mattarella in Italien; auf der linken Seite die äußerst erfolgreiche Drohkulisse, die zur Rückführung der Tsipras-Regierung ins Establishment führte). Das soll nicht heißen, dass es von jenen Teilen des Unternehmertums, die auf der Verliererseite sind, keine Unterstützung gibt – ganz im Gegenteil, sie stellen in der süd- (Italien) und osteuropäischen (Ungarn, Polen) Periphere einen wichtigen Teil des populistischen Phänomens dar. Aber eben als Teil der Globalisierungsverlierer, nicht als Teil des herrschenden Blocks.

Auch mit Krisenanalogien und deren politischen Folgen sollte vorsichtig umgegangen werden. Die Arbeitslosenzahlen in Deutschland und Österreich zeigen einen doch schärferen sozialen Fall in Folge des Crashs von 1929, vergleichbar mit dem Desaster, in das Griechenland durch die Welle an Austeritätsprogrammen seit 2010 gebracht wurde. Dementsprechend tiefer war die Repräsentationskrise der parlamentarischen Demokratie und umso konsensfähiger – nicht nur in den Unterschichten, sondern auch unter den Eliten – wurden radikale und autoritäre Herrschaftsoptionen. Heute ist der Parlamentarismus das wesentliche Feld der Auseinandersetzung, außerparlamentarische soziale und politische Mobilisierung ist ein Nebenschauplatz. Gerade dieses Kampffeld ist auch für den Rechtspopulismus eine Schwierigkeit, da der „Gang durch die Institutionen“ rasch zur „österreichischen Lösung“, der Rückführung ins Establishment, führt. Salvini in Italien ist bis jetzt, angesichts der Tiefe der Krise, eine gewisse Ausnahme. Aber das laute Ausländer-Raus Geschrei mit Bulldozer-T-Shirt, auch wenn es den europäischen Eliten nicht gefällt (wie 2015 auch Varoufakis Lederjacke und Motorrad den EU-Ministerkollegen aufgestoßen ist), ist schlicht einfacher als ein Budgetgesetz, das mit den Austeritätsregeln aus Brüssel/Berlin bricht. Erst da wird sich zeigen, ob die italienischen Rechtspopulisten zum Bruch bereit sind (die Cinque Stelle von Di Maio wären es sicher nicht).

Dass die liberalen Eliten über die „illiberale Demokratie“ lamentieren, die der institutionalisierte Rechtspopulismus herbeiführt, ist übrigens mehr als zynisch: demokratische Entscheidungsspielräume der Parlamente wurden bereits über Jahre an technokratischen wirtschaftsnahe Bürokratien übertragen, mit Sicherheits- und Überwachungsgesetzen haben auch die „liberalen“ Systemparteien nicht gegeizt, und (Mehrheits-)Wahlrechtsreformen zur Herrschaftssicherung gegen Stimmenverluste sind wohl auch nicht das Idealbild einer auf Konsens basierenden Demokratie.

 

Antifa als Antwort?

Die Leseart des Rechtspopulismus mit der historischen Brille einer neu aufkommenden faschistischen Gefahr führt sachlogisch zur Antifa als Antwort. Dabei lassen sich zwei Spielarten unterscheiden.

Die vorherrschende Strategie von Links ist eine Art Wiederauflage (als Karikatur) der Volksfront: alle „demokratischen“ Kräfte – von den bürgerlichen Liberalen über die Sozialdemokratie bis zur außerparlamentarischen Linken – geeint gegen den Rechtspopulismus. Die Hegemonie in einem solchen Block ist unter den heutigen Kräfteverhältnissen unschwer zu erraten: sie liegt beim (neo)liberale Establishment. Die ein oder andere vorsichtige soziale Kritik am Neoliberalismus und der Globalisierung durch die Linke ändert daran gar nichts. Geeint durch die (durchaus reale) Angst, dass jeder größere Bruch die liberale Gemütlichkeit erschüttern wird, bleibt man gebunden an die Perspektive der Aufrechterhaltung des Status Quo. Zu schön war der Traum der gut situierten westlichen Mittelschicht vom Clinton’schen „Ende der Geschichte“, dass man gar nicht glauben kann, dass diese System immer mehr Verlierer produziert hat, die sich nun zu Wort melden.

Eine zweite Antifa-Strategie, jene der radikalen Linken (je nach Land ein ganz oder beinahe marginale, kulturelle Parallelwelt) erinnert an ein tragische Neuauflage der „Dritten Periode“: die Krise erfordere eine autoritäre Lösung zur Rettung des Kapitals, die sich in der aufsteigenden Rechten anbahnt. Es sei nur eine Frage der Zeit (der wachsenden „Kampfkraft der Arbeiterklasse“ = der eigenen Organisation), bis das Kapital von den alten liberalen/sozialdemokratischen Eliten, die die Lage nicht mehr im Griff haben, wie einst auf diese neuen rechten Kräfte setzen werde. Die Lösung (à la Dritte Periode): Antifa heißt Angriff. Die Unterschichten kommen zwar als Opfer vor, jedoch nur in der Ideologie, nicht in ihrer realen Widersprüchlichkeit, wo sie sich eben gerade im Sog des Rechtspopulismus befinden. Die Unzufriedenheit der Globalisierungsverlierer artikuliert sich eben gerade nicht wie in den 20er Jahren in radikalen sozialen Kämpfen, die nach einer radikalen außerparlamentarischen Kraft (geschweige denn einem schwarzen Block) suchen. Jeder der nur einigermaßen mit offenen Augen die Realität anerkennt, versteht, dass diese Strategie genauso in den Untergang, hier eben in der völligen Chancen- und Bedeutungslosigkeit, führt.

Nationale Souveränität als Hebel für Demokratie und soziale Gerechtigkeit

Wo also könnte sich ein Ausweg finden? Dazu seien drei Punkte andiskutiert.

  1. Die Probleme der Unterschichten wahrnehmen: Das scheint fürs erste einfach, da soziale Fragen wie Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Löhne oder Wohnen für die meisten Linken selbstverständlich sind (wenngleich man sie in der liberalen Volksfront gerade dem gemeinsamen anti-populistischen Block opfert). Die zentrale Schwierigkeit ist, dass gegenwärtig die „Ausländerfrage“ alles überlagert. Diese hat drei Aspekte, zwei problematische, weil ideologische und abzulehnende, und einen realen. (1) Die Migrationsfrage wird vom Rechtspopulismus genutzt, um das Wesentliche, nämlich den Bruch mit dem neoliberalen Sozialabbau, zu überspielen. Man sichert sich Konsens über Ausländerhetze, während man sozial- und wirtschaftspolitisch alles beim Alten lässt. (2) Die Ablehnung der Migranten in breiten Teilen der Bevölkerung (nicht nur den Unterschichten) hat ein kulturchauvinistisch-imperialistische Element, nämlich den Hass gegen den Islam. Das ist nicht verwunderlich: schließlich wurde seit über einem Jahrzehnt ständig, von allen Leitmedien und vor allem vom liberalen Establishment der Antiislamismus propagiert. Die Verteidigung der westlichen Demokratie gegen das islamische Mittelalter war die große Erzählung, mit der die Interventionskriege im Nahen Osten und Afghanistan legitimiert wurden. Zynisch wer sich heute verlegen wundert, dass sich das festgesetzt hat und nun vom Rechtspopulismus genutzt wird. (3) Der reale Aspekt, auf den es eine Antwort zu finden gilt, ist die Konkurrenz am Arbeitsmarkt durch Migration, die vor allem die untersten Schichten trifft. Und auch die Frage der Sicherheit – ein wenig verwunderliches Problem, bei der Perspektivlosigkeit, in die die Migranten gedrängt werden – muss erst genommen werden. Dass dies der Mittelschichtlinken egal ist, ist klar, denn sie wird davon nicht berührt. Aber will man die Krisenreaktion der Unterschichten verstehen, dann muss es als reales Problem wahrgenommen werden, um Antworten zu finden, die eben nicht der rechtspopulistische polizeiliche Sicherheitsstaat und die Lager an der libyschen Küste sein können.
  2. Die Schwächen des Rechtspopulismus aufgreifen: Die Wählerschaft des Rechtspopulismus wird kaum nach anderen Optionen Ausschau halten, wenn die einzige Alternative, die ihnen angeboten wird es ist, die Regierung ihrer Hoffnungsträger mit allen Mitteln zu verhindern. Sollen sie es doch probieren und zeigen, wie weit zu gehen sie bereit sind, wenn es um die Versprechen einer Wirtschaftspolitik im Interesse der Unteren, eine Änderung der Austeritätsregeln des europäischen Fiskalpaktes oder ein Nein zu Freihandelsabkommen wie CETA geht. Die Fliegengewicht-Populisten der FPÖ haben bereits Gegenwind aus den eigenen Reihen gespürt, als sie CETA durchwinkte und den 12-Studentag ratifizierte. Da musste Kickl schnell mit ein paar Anti-Ausländer-Manövern die Stimmung wieder ablenken. Auch in Italien wird das Budgetgesetz im Herbst die Probe aufs Exempel werden. Und selbst wenn Salvini/Di Maio einen Bruch wagen sollte (im Gegensatz zu Tsipras; was zu hoffen ist): das folgende Erdbeben wird viele Karten neu mischen und auch für die Linke Fronten eröffnen, auf denen sie mitspielen kann, wenn sie sich nicht ans Establishment hängt.
  3. Den demokratischen Aspekt des Nationalstaats zurückgewinnen: Bei ein wenig historischem Gedächtnis ist es schwer zu begreifen, wie der Nationalstaat für die Linke zu einem derartigen Synonym für das Böse werden konnte. So lange ist es schließlich nicht her, dass die Verteidigung des demokratischen und souveränen Nationalstaats gegen suprastaatliche kapitalistische Bürokratien à la EU Konsens war. Der Nationalstaat war der Ort des sozialen Ausgleichs (Sozialstaat) und der parlamentarisch-demokratischen Steuerung. Von ihm ging die Aushandlung internationaler Bündnisse mit anderen Staaten aus. Selbst die Antiglobalisierungsbewegung war in ihren Anfängen noch geprägt von der Dritt-Welt-Solidarität, wo Souveränität und nationale Unabhängigkeit fortschrittlich besetzte Werte waren. Heute erscheint selbst die Kritik am Freihandel in vielen Kreisen wie ein Aufruf zum Nationalismus und in einen neuen Weltkrieg (gegen Trump hat die liberale Volksfront sich jetzt offenbar um die WTO und G7 erweitert). Die Krise der Globalisierung nimmt jedoch keine Rücksicht auf solche ideologischen Irrwege. Der Nationalstaat als Ort des Eingreifens in wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklungen hat nie aufgehört zu existieren und wird nun in seiner Rolle neu definiert. Die Rechtspopulisten greifen dazu auf ihre völkischen Ideen einer ausschließenden Nation zurück. Die Linke braucht dagegen ein überzeugendes alternatives Narrativ der Nation als Ort demokratischer Willensbildung, sozialen Solidarität und Völkerverständigung. Dafür würde sie ausreichend Ansätze in der Geschichte der demokratischen, sozialistischen und besonders auch der antifaschistischen Bewegung finden, die es wert sind, in eine moderne Politik übersetzt zu werden.

Wien, 12. Juli 2018, Gernot Bodner

LEHRSTÜCK ITALIEN: Die Eliten, die Massen und die Populisten

Die europäische Elite gerät in Sorge. Aber auch wieder nicht so übermäßig. Sie tut mehr so als ob. Sie weiß schließlich und lässt es ihre politischen Häuptlinge auch offen und als Drohung aussprechen: „Die Märkte“ werden es den Italienern schon beibringen, wie sie zu wählen haben. Und hat Oettinger nicht recht? „Meine Erwartung ist, dass die nächsten Wo­chen zeigen, dass die Märkte, dass die Staatsanleihen, dass die wirtschaftliche Entwicklung Italiens so einschneidend sein könnten, dass dies für die Wähler doch ein mögliches Signal ist, nicht Populisten von links und rechts zu wählen.“ Der Stil ist mehr als holprig. Aber: „Nichts davon ist falsch“, legt der „Spiegel“ nach, und hat in seiner Art auch recht. Und Juncker fordert von den Italienern „mehr Arbeit, Ernsthaftigkeit, weniger Korruption“. Das ist ja der Richtige, der Luxemburger, der da weniger Korruption fordert. Das war dem Herrn Tajani doch ein wenig zu heftig. Aber wer ist schon der Herr Tajani?

Was kann man nun wirklich erkennen und erwarten? Im Moment ist Matarella in der Symbolik eingeknickt. Er – d. h. seine Auftraggeber – dürften erkannt haben, dass sich die Situation bei einem folgenden Wahlkampf mit Volksabstimmungs-Charakter für die Eliten verschlimmern dürfte, wenn sie den offenen, gewaltsamen Putsch vermeiden wollen. Und so steckt er die Ohrfeige ein, welche die Bestellung des Savona zum „Europa-Minister“ für ihn bedeutet. Das sind die Spielchen in der politischen Klasse, im Umgang unter sich.

Aber bei diesem Spiel sollten wir nicht übersehen: Die Eurofreunde haben sich durchgesetzt. Wenn Giovanni Tria – Wirtschaftsminister anstelle von Savona – im Euro-Exit nur „Kosten ohne Gewinn“ sieht, dann steht er auf demselben Standpunkt wie alle neoliberalen WU-Fanatiker. Lorenzo Fioramonti, angeblich Ökonom und Abgeordneter der 5S, sagt dasselbe und positioniert sich dort, wo jeder Macronianer auch stehen könnte: „Nicht die Gemeinschafts­währung ist das Problem, sondern wie sie gehandhabt wird“ (Sonntagszeitung, 3. Juni 2018). Und wenn sich der „Spiegel“ so darüber entsetzt, dass Tria meint, eigentlich verstoße die BRD mit ihren riesigen Leistungs-Bilanz-Überschüssen ständig gegen den Stabilitätspakt, so sagt er nur das, was man in jedem seriösen mainstream-Journal auch lesen kann.

Die flat tax befürwortet er, und die Einnahmen-Ausfälle will er durch eine entsprechende Erhöhung der Mehrwert-Steuer ausgleichen. Kann es etwas noch Eindeutigeres geben? Die Mehrwertsteuer ist regressiv, belastet stärker die unteren und auch die mittleren Schichten; die oberen Mittelschichten und die Oberschichten kratzt sie nicht. Die aber werden durch die flat tax weitgehend verschont und erhalten zusätzlich durch den „Familien-Bonus“ noch dicke direkte Subventionen. Was selbst Berlusconi in dieser Offenheit nicht wagte, macht nun die sogenannte „Populisten-Regierung“.

Das Grundeinkommen ist vor allem eine Subvention für den südlichen Teil Italiens, oder, sprechen wir offen, ein Stimmeneinkauf – und zwar für die Lega, nicht etwa für M5S. Die Lega hat begonnen, sich zur gesamtitalienischen Partei auszuweiten. Aber noch erinnert man sich an ihre tatsächlich rassistischen Gehässigkeiten gegen die terrani, diese Untermenschen in Süditalien. Sie muss sich also irgendwie glaubwürdig machen. Die Gelegenheit bietet ihr nun M5S auf einem Silbertablett. Im Gegensatz zur Lega hat sie nämlich ihre Hochburgen in Unter-Italien. Es geht um die Arbeitslosen im Süden, die kaum mehr eine Hoffnung haben.

Die Arbeitslosigkeit liegt im nördlichen Teil aktuell auf dem Niveau Schwedens (z. B. Lombardei 6,4 %; Stockholm Region: 6,3 %), im mittleren auf dem Niveau der schlechter bedienten Regionen Frankreichs oder Kroatiens (z. B. Latium: 10,7 %; Nord-Pas de Calais: 12,9 %), im Süden aber auf dem Niveau Griechenlands (z. B. Sizilien: 21,5 %, Thessalien: 20,6 %). Die Indikatoren beziehen sich auf 2017.

Selbstverständlich wird dies einerseits eine Erleichterung für die Betroffenen im Süden bringen. Aber vergessen wir nicht: Aus einer linken Sicht ist ein Grundeinkommen stets eine zweifelhafte Angelegenheit. Es ginge viel mehr darum, eine entsprechende Politik des Arbeitsmarktes zu betreiben. Das Grundeinkommen wurde als neoliberales Instrument nicht zufällig vor allem von solchen Theoretikern wie Milton Friedman und seinen Gesinnungs-Genossen propagiert. Hier handelt es sich um eine Form der Notstandshilfe auf nicht beson­ders eindrucksvollem Niveau. Was dies bewirken könnte, wäre eventuell – mit Glück – einen Nachfrageschub. Es wäre also ein keynesianisches Mittel der Wirtschafts-Politik. Die Frage stellt sich, wie sehr dies aber funktioniert. Man kann nicht oft genug auf Frankreich in den 1980ern hinweisen, also zu einer Zeit, wo der EG-Binnenmarkt noch keineswegs so durchge­setzt war wie heute. Auch damals ging ein erheblicher Teil in den Import. Das aber war der Anlass zur damaligen politischen Wende in Frankreich hin zum bundesdeutschen Paradigma und zur Austerität …

Im Übrigen muss man immer wieder betonen: Öffentliche Schulden bedeuten, wenn man nicht von vorneherein davon ausgeht, dass sie nicht zurück gezahlt werden, eine Überga­be des gesellschaftlichen Ressourcen an die Gläubiger. Schulden sind eine Machtfrage. Drastisch und bildhaft ausgedrückt: 133 % des BIP als öffentliche Schuld heißt: Das gesamte Produkt des kommenden Jahres und noch ein Drittel des darauf folgenden dazu gehört den Gläubigern.

Man könnte mir nun vorwerfen: Aber hast Du Dir den Illusionen über die Populisten, Illusi­onen über die M5S gemacht? Ich reiche den Vorwurf weiter. Beim letzten Treffen In Rom Mitte Mai konnte ich nur verwundert feststellen, wie sehr unsere italienischen Genossen Hoffnungen auf die kommende Regierung als einem Bruch mit der bisherigen Politik setzen. Und damit vergessen, dass auch Links-Populisten Populisten sind: also Politiker, die viel­leicht ein Problem erkennen, aber weder gewillt noch von ihren Ausgangs-Punkten her theoretisch und praktisch in der Lage sind, eine entsprechende Politik zu führen. Dass also eine populistische Regierung eine Enttäuschung sein muss.

Warum dann das Geschrei der Eliten und ihrer Intellektuellen und Journalisten?

Sie fürchten den politischen Effekt des Ungehorsams. Wenn die Vorgaben der Oligarchie so gar nicht befolgt werden, dann könnte dies dazu führen, dass die Bevölkerung vielleicht auch in radikalerer Weise ungehorsam wird.

Es ist geradezu grotesk. Da müssen wir auf Salvini, den Rechten hinschauen, der sich nicht scheut, immer wieder auch an faschistoides Vokabular anzustreifen und sogar Minister-Posten für die Fratelli d’Italia verlangt, seine neofaschistischen Freunde. Denn hier kündigt er in einer symbolischen, reaktionären Weise den Kultur-Gehorsam auf, wie es auf der Linken offenbar niemand mehr in progressiver Weise wagt. Denn Di Maio kann gar nicht mehr umfallen; der liegt nur mehr. Der ist ja nicht einmal mehr ein Populist. Da die wenigen, die ihn vielleicht noch herausfordern könnten, offenbar aufgeben und sogar das Land verlassen („Diba“, Alessandro di Battisti wird hier genannt, den ich nicht beurteilen kann), gibt es offenbar in seiner Organisation niemand als Alternative.

Die Eliten und ihre Sprecher aber besorgen zwar in gewisser Weise unsere Anliegen, indem sie Alarm und Krisen-Stimmung aufrecht erhalten. Aber auch das ist ein zweischneidiges Schwert. In den letzten Jahrzehnten haben stets die Herrschenden den Krisen-Modus genutzt, um ihre Anliegen durchzubringen. Die Linke hat mit ihrem gebannten Warten auf die revolutionäre Krise stets übersehen, dass die Rechte und der mainstream mit der „Krise“ stets auch die Massen soweit unter Druck gesetzt haben, dass sie parierten. In diesem Sinn hat Oettinger Recht, und dass er es so offen sagt, ist vielleicht sogar ein Beweis, wie sicher sich die Herrschaften in Wirklichkeit fühlen.

Albert F. Reiterer, 3. Juni 2018

Regierung Fünfsterne-Lega

Italien: Euro-Regime & Populisten auf der Probe

von Wilhelm Langthaler

[Bild: chauvinistische Propaganda der deutschen Medien gegen Italien, so wie sie auch gegen Griechenland betrieben worden war]

Die Regierungsbildung in Italien war turbulent. Der Kern der Auseinandersetzung ging um das von Volk geforderte Ende der Abbaupolitik und den Nachfrageimpuls, die aber den Euro/EU-Vorgaben diametral zuwiderlaufen.

Zwischenzeitlich hatte der Präsident versucht, die Populistenregierung autoritär zu unterbinden und eine EU-konforme „Technokraten“-Exekutive zu bilden. Er musste zurückrudern, um noch einen weiteren Abstieg der Regime-Parteien zu verhindern.

Aber vielleicht hat er doch etwas erreicht? Bisher ist unklar, was der Kompromiss um die Figur des Euro-kritischen Ministers Savona bedeutet. Das wird sich erst in der nächsten Periode zeigen.

Im Sinne der Eliten ist es sicher klüger, die Regierung Fünfsterne-Lega gefügig zu machen – mit einem Wechselspiel aus Druck, Einbindung und Desavouierung. Das hat ja bei Syriza in Griechenland wunderbar funktioniert.

Man darf nicht vergessen, dass die Lega nicht nur eine ideologisch rechte Partei ist, sondern auch mit dem Oligarchen Berlusconi in Koalition war und im industriellen Norden weiter ist. Ein Flügel ist Teil der herrschenden Ober- und Mittelschichten. Und auch in den Cinque Stelle gibt es sehr moderate Kräfte, einschließlich Di Maio selbst.

Vielleicht ergibt sich daraus die Chance auf einen radikalen demokratisch sozialen souveränistischen Pol für den Bruch mit dem neoliberalen Euro-Regime.

DIE INTRIGEN DER ELITE UND IHRE PUTSCH-GELÜSTE: Der Fall Italien

La Repubblica ist eine Römer Tageszeitung. Eugenio Scalfari gründete sie 1976 als Kampf­blatt der italienischen Sozialdemokratie. Ihr Ziel war es, die KPI zu zerstören. Dass ihr dies nach ziemlich kurzer Zeit gelang, liegt allerdings nicht an Scalfari. Es liegt an der Selbstzer­störung der italienischen Linken. Wie sehr Scalfari dazu beigetragen hat, ist schwer zu beurteilen. – Heute ist dieses Blatt eine Hauptstütze des politischen mainstreams.

Dieses Blatt brachte am 8. Mai einen Bericht über die kommende Technokraten-Regierung – wie der Journalist glaubte. Der entscheidende Punkt war. Der italienische Staatspräsident beabsichtigte eine Regierung zu installieren, welche das gerade Gegenteil tun sollte, was eine Mehrheit der Wähler in den vergangenen Wahlen wollte und klar zum Ausdruck brachte. Es sollte eine Ministerpräsidentin installiert werden – der Name von Lucrezia Reichlin wurde genannt –, welche völlig dem rechten neoliberalen mainstream zu zu zählen ist und die skla­vische Unterwerfung unter die EU und die BR Deutschland garantieren sollte.

Die folgende Einigung machte zumindest in dieser Hinsicht der italienischen politischen Klas­se und den offenen und verhüllten Renzianern einen Strich durch die Rechnung. Umso größer ihre Wut. Matarella gab seine Putsch-Gelüste in der Tradition seines Vorgängers Giorgio Napoletano nicht auf. Er lehnt den designierten Wirtschafts-Minister Paolo Savona ab, weil dieser nicht EU-freundlich genug und ein Kritiker des Euro ist. Aber genau diese Position hat in den Wahlen eine klare Mehrheit bekommen. Erst war es nur der Rechte Salvini, der andeu­tete, dass er sich das abschminken möge. Nach langem, langem devoten Schweigen spricht nun auch Di Maio, der angebliche Populist, Klartext: Er verlangt ein impeachment des Präsidenten.

Dazu ist zu sagen: Das ist so konstruiert, dass zwar die Mehrheit der Abgeordneten (Senat und Kammer zusammen) eine „Anklage“ einbringen können. Aber entschieden wird von der Kaste. Es sind die höchsten Richter, aus denen eine Auswahl getroffen wird. Dass diese aber gegen ihren Standes-Kollegen entscheiden werden, ist so gut wie ausgeschlossen. Eine Krähe kratzt der anderen kein Auge aus. Dies trifft umso mehr zu, als Napoletano genug Präzedenzfälle geliefert hat, wie man einen legalen Putsch mit illegitimen Mitteln durchführt. Vergessen wir nicht: Matarelle wurde von der Parlaments-Mehrheit gewählt, die mit Aplomp gerade abgewählt wurde. Aber als Juristen können sich jetzt die Berufs-Kollegen des Matarella auf die „Legalität“ berufen. Außerdem hat der einen neuen Allliierten: Berlusconi…

Allerdings wird die Wahl aller Voraussicht nach eine Stärkung sowohl der Lega als auch, dank des Konflikts mit Matarella und der von ihm vertretenen bisherigen politischen Klasse, bringen. Wenn Matarella das in Kauf nimmt, dann muss diese politische Klasse schon ziemlich verzweifelt sein.

Was aber hat die Ängstlichkeit der EU-Eliten und ihrer journalistischen Sprachrohre wirklich zu bedeuten? Man fragt sich mit das mit Verwunderung. Denn im Regierungs-Programm der beiden künftigen Regierungs-Parteien ist ohnehin das meiste drinnen, was sich den Ober­schichten und den oberen Mittelschichten ihr Herz erfreut: flat tax, „Familienbonus“, ….

Aber das Ganze ist verbrämt mit einer gewissen Rhetorik des Bruchs und des Kultur-Ungehorsams. Das halten gerade die intellektuellen Sprecher der Eliten schlecht aus. Sie wünschen nicht nur eine gewisse Politik. In gewissermaßen katholischer Tradition ist ihnen ebenso wichtig, dass die Handelnden, und speziell die, welche aus einem Protest der Bevölkerung her kommen, Reue und Bußfertigkeit zeigen. Tsipras ist das gepriesene Modell. Wir brauchen bloß in die deutschen Zeitungen zu schauen. So sollen alle sein. Sie sollen nicht nur tun, was die Eliten möchten. Sie sollen vor allem auch so reden. Nur das gewährt auf Dauer Hegemonie.

Sie begreifen dabei nur nicht, dass ein größerer Teil der Bevölkerung das nicht mehr will. Anstelle also zu kapieren, dass ihnen diese Kräfte, M5S usw., beides liefern: die Politik und zumindest eine Zeitlang die Beruhigung der Bevölkerung durch Scheinkritik, wollen sie die Total-Unterwerfung auch in der Rhetorik.

Es ist nicht zuletzt der Stil der politischen Auseinandersetzung, welcher zeigt: Die Elite fühlt sich und ihre Hegemonie bedroht. Wer sich im Hauptstrom, im „Verfassungsbogen“ bewegt, soll mit „Achtung“ behandelt werden. Die Opposition, welche diese Grenzen nicht beachtet, ist „populistisch“, wohl auch – seit einiger Zeit – „faschistisch“. Der Doppelstandard ist hier wieder einmal mit Händen zu greifen. Der sogenannte „Antifaschismus“ ist nicht nur in Mitteleuropa, in Österreich und Deutschland, zu einem Schlachtross der Konservativen und Liberalen geworden. Die, welche inhaltlich den Faschisten historisch am nächsten standen, sind heute ganz eifrige Antifaschisten. Mit einer Faschismus-Analyse hat dies natürlich nichts zu tun. Wie auch? Hat doch Dimitroff schon auf die militant kapitalistische Grundlage des Faschismus verwiesen. Damals hat das Bürgertum den Faschismus als Rettungswall und Anker gegen jede demokratische Veränderung umarmt. Heute will die obere Mittelschicht und ihre Intellektuellen in derselben Tradition jede Änderung ihrer elitären Politik – in deren Mittelpunkt der Euro und die EU steht – mit dem durchsichtigen Vorwand abblocken, die „Populisten“ seinen alle Faschisten. Die konsequente Linke wird sich durch solche Anwürfe nicht irritieren lassen.

Bei aller Skepsis gegenüber den künftigen italienischen Regierungs-Parteien müssen wir, mit einem gewissem Amüsement, festhalten: Die Janitscharen des Bisherigen und der EU können es noch so weit bringen, dass aus dieser Regierung noch eine Herausforderung des status quo und des deutschen Europa wird.

Albert F. Reiterer

Macron, May und Merkel

Hat die EU die von Macron geforderte Reform und den bitter nötigen Aufbruch verpasst?

von Rainer Brunath

Eigentlich können die Schlagzeilen der Tageszeitungen den deutschen Leser nicht vom Hocker reißen – sollte man meinen, wenn man in den gleichen Zeitungen liest: „Die deutsche Wirtschaft wächst weiter mit hohem Tempo. Und die Deutschen seien in ihrer Mehrheit positiv zu Globalisierung und Freihandel eingestellt“. Ja was ist denn nun und was meinen die Vorbeter und Besserwisserschreiberlinge der Mainstream-Medien überhaupt?

Man kann doch nicht abstreiten, dass (deutsche) Manager in den Zentren deutscher Wirtschaft und ihre Mitspieler in den Chefetagen in Brüssel einigermaßen geschickt agieren, wenn es um den Zugang der weltweit größten Märkte USA und China geht. Es muss wohl etwas anderes dahinter stecken, als deren „Sorge um das Wohl der EU“. Könnte es sein, dass sie mit ihrer „Sorge“ etwas kaschieren, nämlich die Frage, ob Deutschland dabei ist, seine führende Rolle in Europa in Zukunft mit Frankreich, dem zweiten großen Mitspieler in der EU, teilen zu müssen? Das wäre fatal, um nicht zu sagen eine Niederlage im Gepoker um Märkte und Profit zwischen den großen EU-Staaten. Den Süden hat man ja schon ausgeschaltet, die kleinen Staaten zählen nicht, Skandinavien ist Randgebiet.

Und das UK? Britannien bereitet (den deutschen Politmanagern in Brüssel) keine Sorgen mehr. Es wurde von den Regierungschefs abgespeist. Ein Freihandelsabkommen wurde angeboten, was für Theresa May ein segensvoller Durchbruch war. Und man legte ihr noch ein kleines Bonbon in das Geschenkpaket. Man ist ja solidarisch, wenn es um einen Feind geht. Da steht man zusammen obwohl man sich untereinander nicht die Butter auf dem Brot gönnt. Aber in der Frage, ob Theresa May´s impertinente Schuldzuweisung an Präsident Putin in Russland bezüglich des Giftgasanschlags in Südengland zutreffend sei – da gab es kein Gezänke. Da stand man wie ein Mann an Ihrer Seite. Und auch das war Balsam für Theresa May und ihr Punktekonto auf ihrer Beliebtheitsskala – und es lenkte ab von der Frage, wie es denn nun weitergeht mit der „Weltmarktbedeutung“ der Insel. Denn in Politkerreisen in London ist man diesbezüglich immer noch unschlüssig, weil man fürchtet, dass die Brexit-Entscheidung, die ohne die Unterstützung durch die herrschenden Eliten Englands zustande kam, den im Land dominierenden Finanzsektor schaden könnte.

Das, was nun Macron versucht, in der EU gleichbedeutend zum deutschen Einfluss aufzuschließen, darum hatte sich Margaret Thatcher sich schon in den 1980er Jahren bemüht, indem es Bedingungen schuf, die Londons Bedeutung auf dem Finanzsektor führend machten. Heimlicher Wunsch ihrerseits war es, der wachsenden Bedeutung Deutschlands in der EU etwas entgegenzusetzen. Es war vergebliches Streben, wie wir heute wissen. England stand zum Brexit-Votum bei EU-Deutschland mit 50 Milliarden Euro in der Kreide was letzten Endes zum Bruch führte. Nun ist man in London ohne Strategie, wie die ganze Angelegenheit abgewickelt werden und wie es weitergehen soll.

So verfiel man einvernehmlich auf eine Übergangszeit, die nach den Austritt Britanniens im März nächsten Jahres, bis zum Ende 2020 gültig bleiben soll und in der alles so bleibt wie es ist: keine Zölle zwischen Britannien und der EU. Die Frage aber, wie es mit dem Finanzstandort London weitergehen soll, ist nach wie vor offen.

Die britischen Eliten gehen nach wie vor davon aus, dass britische Banken agieren können so als wären sie EU-Inländer und das Kapital auf dem Kontinent ist sich nicht sicher, ob es nicht auf den freien Zugang zur Londoner Finanzmetropole verzichten will und nicht lieber heimische Finanzzentren nutzen will. Und an diesem Punkt kann man Macrons Initiative verstehen. Er sucht den Schulterschluss mit Berlin um Kapital von London nach Paris und Frankfurt zu locken.

Zugleich soll das EU-Bündnis noch wettbewerbsfähiger gemacht werden. Man denkt daran, einen „Anerkennungsfond“ einrichten, der EU-Staaten zugeteilt werden soll, die „Reformen“ durchpeitschen. Was Reformen sind, bestimmt die Kommission und nicht das EU-Land: es sind Maßnahmen wie Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Senkung das allgemeinen Lohnniveaus, höheres Renteneintrittsalter. Vorbild ist die Schrödersche Agenda 2010 und die Art der Behandlung der Eurokrise 2012/13, als die „Troika“ im Auftrag des EU-Rates und speziell Berlins Maßnahmen gegen Hilfskredite in den südlichen EU-Ländern durchsetzte. Hier will Macron mithalten. Ob er Erfolg haben wird, hängt von der Entschlossenheit der französischen Arbeiter und Angestellten zur Gegenwehr ab.

 

 

DIE KURZ-STRACHE-REGIERUNG UND IHR FINANZMINISTER: Die „Budgetrede“ ist Ausdruck der politischen Blockade in Österreich

Die Budgetrede eines Finanzministers ist eine rituelle Angelegenheit. Der Informationswert ist meist sehr gering. Das Ganze ist eine Frage der Rhetorik. Von dort her ist es zu beurteilen. Wenn sie über etwas Aufschluss gibt, dann über den Geisteszustand der Regierenden, aber auch der Opposition – und wie beide wahrgenommen werden möchten.

Die veröffentlichten Zahlen sagen ebenso wenig aus. Es sind Globalgrößen. Ich gebe hier die Eckzahlen wieder, wie sie auf der website des Finanzministeriums zu finden sind:

Mrd. € 2017 2018 +/- % 2019 +/- %

Einnahmen 73,8 76,4 +3,5 79,7 +4,3

Ausgaben 80,7 78,5 -2,7 79,1 +0,8

Inflation, % 2,1 1,9 1,9

BIP real, + % 1,5 3,2 2,2

Wir sehen, dass bereits im laufenden Jahr sehr deutlich Leistungen abgebaut werden. Im kommenden Jahr wird es real (inflationsbereinigt) weitere Kürzungen geben. Es ist ja das erklärte und stets wiederholte Ziel dieser Herrschaften, staatliche Leistungen für die Menschen abzubauen.

Der Herr Löger betont, dass es auch zusätzliche Leistungen geben werde. Und wer wird die bekommen, wer wird verlieren? Ganz einfach: Bekommen werden Menschen mit hohem Einkommen, und je höher, umso mehr. Das läuft unter dem Stichwort „Familienbonus“. Das ist natürlich ein Propaganda-Vokabel. Man lernt als Ökonom im ersten Semester, dass es die Haushalte, vlg. „Familien“, sind, welche alle Einkommen beziehen bzw. sie verkonsumieren. Wer soll es also bekommen, wenn nicht die „Familien“? Das ist eine Definition. Wer soll eine staatliche Leistung sonst bekommen, wenn sie nicht direkt an die Unternehmen geht? Es fragt sich nur, welche Haushalte / Familien sie bekommen.

Der „Familienbonus“ ist einfach ein Steuergeschenk an die Besserverdienenden.

Doch gehen wir zurück zur hölzernen Rhetorik des Herrn Löger mit seinen Grammatik-Feh­lern und seinem schlechten Stil. Der philosophiert da nämlich über „eine tiefere Erklärung unseres Verständnisses von Leistung“ und polemisiert gegen eine „fehlerhafte Interpretation“. Denn „Leistung schafft Mehrwert“. Da hat er Recht. Und wer sackt ihn ein? Nun, er und sein Kompagnon Blümel sprechen gern von „Leistungsträgern“, die ihn sich durch „unternehmeri­sches Agieren“ aneignen. Wieder hat er Recht. Aber meint er das auch so?

Inhaltlich müssen wir besonders acht geben: Lassen wir uns nicht durch die Propaganda der Medien und der hegemonialen Intellektuellen verwirren! Die von ihnen so geschätzten positiven Punkte sollten wir stets genau ansehen. An einem Beispiel möchte ich zeigen, was ich meine.

Der Ansatz für „Wissenschaft und Forschung“ soll von 2018 auf 2019 um gleich 7,2 % steigen, von 4,463 Mrd. auf 4,783 Mrd. €. Das ist doch einmal was, eine gute Entwicklung! Wirklich? Das Forschungs-Budget kommt im Wesentlichen einer ganz kleinen Gruppe von Akademikern zugute und sagt von vorneherein überhaupt nichts aus über den sinnhaften Einsatz von Mittel. Da sind enorme Beträge für Beiträge an Einrichtungen wie dem CERN dabei, wo die Mitgliedschaft „alternativlos“ (Fassmann) sei. Der FWF bekommt sein Geld und finanziert teure Vorhaben wie Altersbestimmungen der Diet-Bestandteile des Ötzi – die völlig überflüssig sind, weil wir ohnehin gut Bescheid wissen, mittels anderer viel billigerer Methoden; usw.

Aber diese und eine ganze Reihe anderer Bereiche sind völlig immunisiert. Eine Debatte über Sinn und Unsinn von „Forschung“ findet nicht statt, weil wir doch alle gar nicht imstande seien, dies zu beurteilen. Das ist das beliebteste Argumente jeder Art von Bürokratie, und erst recht der Wissenschafts-Bürokratie. Wenn jemand ein kritisches Wort wagt, wird er / sie niedergebügelt… Der antihegemoniale Kampf hat aber gerade an solchen Bereichen anzuset­zen. Hier werden häufig Mittel in großem Stil hinaus geworfen, welche anderswo sehr viel sinnvoller einzusetzen wären.

Das sind politische Details. Das allgemeine Bild ist unscharf.

Wir sehen zwei Trends, die sich bis zu einem gewissen Grad widersprechen. Zum einen setzt die neue Regierung einfach die Politik der vorigen, der VP-SP-Regierung fort und verschärft sie ein wenig. Das betonen nicht zuletzt die konservativen Zeitungen: „Löger legt ein solides erstes Budget vor“ (SN, 22. März 2018). – „Strukturell bleibt alles beim Alten“ (Presse, 21. März 2018). „Lögers Budget ist solide, ihm fehlen aber echte Akzente einer neuen Politik“ (Standard, 22. März 2018).

Aber gleichzeitig will die Regierung eine neue Radikalität im Umbau des Staats und im Ab­bau des Sozialstaats signalisieren. Aber ganz wagt sie es doch nicht. Daher kommen die altbe­kannten Phrasen von der „langfristigen Sicherung des sozialen Friedens“ und der „nachhalti­gen Finanzierung des Sozialstaats“. Die Aussichten auf einen politischen Erfolg dieser Strate­gie sind gemischt, aber nicht schlecht. Der Hinweis auf „60 Jahre untragbare Schuldenpolitik“ trifft nämlich einen empfindlichen Punkt in der heterogenen, aber breiten Koalition der Wäh­ler dieser Regierung, nicht zuletzt der Unterschichten. Da steht ein bestimmtes Verständnis dahinter, mehr eine Ahnung als eine Einsicht. Die alt-sozialdemokratische, widersprüchliche Rhetorik für einen neuen politischen Keynesianismus stößt auf wachsende Skepsis und kommt jenseits einiger „Links“-Liberaler überhaupt nicht an. Als der National- und Sozial­staat unumstritten war und diese Politik wachsender Staatsverschuldung teilweise funktionier­te, hat man sie als Notwendigkeit akzeptiert, aber auch damals nicht mit Begeisterung. Denn warum soll man staatliche Leistungen über Schulden finanzieren? Keynesianismus war als Konjunktur-Politik gedacht, wurde hier aber an Stelle einer Struktur-Reform eingesetzt. Inzwischen hat das EU-Imperium die wirtschaftliche Steuerfähigkeit des nationalen Staats abgebaut. Und das begreift ein Großteil der Bevölkerung nicht schlecht. Es bleiben nur die Schulden übrig, und die zahlen eines Tages wahrscheinlich die Unterschichten.

Die Widersprüchlichkeit der Opposition tut das Ihre dazu. Typisch Kern: Auf der einen Seite beklagt er den Abbau der Arbeitsmarkt-Politik. Auf der anderen Seite aber motzt er, das sei doch kein „echtes“ Nulldefizit. Damit gibt er der Regierung in ihrer Grundstrategie natürlich vollumfänglich Recht – und muss es bei seiner EU-Hörigkeit auch tun!

Was diese Budget-Rede und die Reaktionen darauf also wirklich kennzeichnet, ist der intel­lektuell ärmliche Versuch, der Versuch auf Löger-Niveau, den angestrebten Paradigmen-Wechsel programmatisch durchzubringen. Der Neoliberalismus hat „den Markt“ zum neuen Weltgeist erhoben. Doch das tat die mainstream-Ökonomie schon seit der Neoklassik, seit Menger und Böhm-Bawerk, seit Walras und Pareto, und im Grund seit Adam Smith. Jetzt aber fühlen sich die neuen Herren und Damen in Österreich stark genug, eine solche neue Hegelei durchzusetzen. Und der Herr Löger schwadroniert eben auf seinem Niveau: „Es beginnt eine gute, neue Zeit. … Wir haben das Budget im Griff. Endlich! … Wir ändern den Kurs…“

Das Ritual der Budget-Rede tut noch immer eine gewisse Wirkung. Denn sie ist einerseits eine der ganz wenigen Gelegenheiten, wo eine von den Hegemonial-Medien systematisch verblendete Öffentlichkeit überhaupt policies, Politik-Inhalte und nicht nur belanglose personality-Shows zur Kenntnis nimmt. Aber gleichzeitig sind die realen Bedingungen für eine substanzielle Debatte nicht gegeben. Eine General-Debatte über die Politik findet schon deswegen nicht statt, weil alle im Parlament vertretenen Kräfte im Grund auf einer Linie stehen und sich vielleicht noch in feinen Nuancen unterscheiden. Die Budget-Rede sieht somit die Regierung im Vorteil. Bestätigen doch auch die oppositionellen Stellungnahmen im Grund die „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik. Was dies politisch für uns bedeutet, bleibt vorerst ungewiss.

AFR, 23. März 2018

Nein zur Ratifizierung von CETA durch die Mitglieder der EU

Erklärung der Europäischen Koordination zum Austritt aus EU, Euro und NATO

Eigentlich reicht die Ablehnung durch einen einzigen Mitgliedsstaat aus, um CETA hinfällig zu machen. Der Vertrag hätte furchtbare Konsequenzen für unsere Bauern, die Gesundheitsversorgung, die Beschäftigung, die Umwelt (insbesondere den Ausstoß von Treibhausgasen) und natürlich die Demokratie.

Landwirtschaft in Gefahr

Allein die Erhöhung der kanadischen Quote für Rindfleisch würde genügen, um die Produzenten noch mehr in die Krise zu stürzen. Zehntausende Arbeitsplätze stehen in dem Sektor auf dem Spiel, auch in der Verarbeitung. Auch bei Schweinefleisch sind ähnliche Auswirkungen zu erwarten.

Gesundheitsrisiken für die Bürger

Kanadische Produkte sind nicht den gleichen Standards unterworfen wie jene aus europäischen Ländern. Ihr Konsum könnte zu gesundheitlicher Gefährdung führen.

Folgen für die Beschäftigung

Im Allgemeinen führt die Öffnung der Grenzen zu höherer Arbeitslosigkeit in denen der Konkurrenz ausgesetzten Sektoren, was wiederum zu geringeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen führt.

CETA bedroht das Klima und erhöht die Emissionen von Treibhausgas

In Frankreich hat eine Expertenkommission (von Emmanuel Macron gewollt und einberufen) anerkannt, dass „der große Abwesende im Vertrag das Klima ist“ und dass er negative Auswirkungen auf die Emission von Treibhausgasen haben wird. Die Gewinnung von Erdöl aus Ölsanden ist höchst umweltbelastend. Der Extraktionsprozess setzt Methan frei, dessen Treibhauswirkung 20 Mal größer als CO2 ist, sowie Schwefeldioxid, das zur Versauerung von Wasser und Böden führt. Ein in Alberta aus Ölsand gewonnenes Fass führt zu dreimal mehr Treibhausgasen als ein klassisch gewonnenes.

CETA missachtet die Demokratie

Der demokratische Prozess ist durch zwei durch CETA institutionalisierte Mechanismen bedroht. Einerseits durch die Schiedsgerichte, die eine Privatisierung der Justiz darstellen und die Rechtsprechung des Staates und damit die Demokratie in Frage stellen. (Die Schiedsgerichte können die Staaten zu riesigen Entschädigungszahlungen an Multis verurteilen). Auf der anderen Seite durch Prozesse der Harmonisierung von Normen, die den Behörden der beiden Seiten erlauben legislativen Entscheidungen zuvorzukommen. Auch große Konzerne können das durch Lobbyismus für ihre Interessen nutzen.

Wir müssen alles tun, dass die Parlamentarier und Regierungen den Vertrag nicht ratifizieren.

Wir rufen alle Abgeordnete mit Nein zu stimmen.