lbert F. Reiterer
Der €-Staat und seine Alternativen
Eine Zukunft für wen?
I.
Vorbemerkung. 1
Einleitung. 1
- Die Problematik: Das Projekt der Eliten und die Zukunft der Bevölkerung. 3
I.1 Das Elitenprojekt: Die Ein-Viertel-Gesellschaft in der hoch entwickelten Welt 4
1.1.1 Projekt EU ˗ Projekt Euro: Von überstaatlicher Koordination zum supranationalen Staat 4
I.1.2 „Realsozialismus“: Der Zusammenbruch der UdSSR und seine Folgen. 6
1.2 Globale Strukturtendenzen. 9
I.3 Der Widerstand der Bevölkerung – die Frage nach den Alternativen. 10
Vorbemerkung
Der folgende Text ist Teil ausführlicherer Überlegungen zur Frage der EU als regionalisierte politisch-staatliche Organisation des von den Eliten aktiv und mit Emphase vorangetriebenen Prozesses der Globalisierung. Es ist also ein Teil I, worauf noch eine Anzahl von Teilen folgen werden. Das bedeutet aber auch: Der Text ist keineswegs „fertig“. Kommentare und Widersprüche, auch auf dieser website, sind erwünscht.
Zum Text ist eine terminologische Anmerkung notwendig: Ich spreche von Globalisierung, wenn ich diesen politisch gewollte und insbesondere durch jene dominante Strömung beförderte Politik meine. Spätestens seit einem halben Jahrtausend gibt es jedoch einen sozialen und ökonomischen Prozess, welcher als „spontaner“ Ablauf, d. h. als Ablauf „hinter“ der historischen Entwicklung vor sich geht, ohne dass dies notwendig politisch getrieben oder angestrebt wird. Dies nenne ich Mondialisierung. Man soll beide Prozesse nicht verwechseln, obwohl sie sie oft schwer voneinander zu unterscheiden sind. Denn Globalisierung will den spontanen Prozess der Mondialisierung in eine ganz bestimmte Richtung lenken und sie zum reinen Eliten-Projekt ausbauen.
Einleitung
Sie geraten langsam in die Defensive, die Apologeten des € und der EU allgemein. Sie sitzen vor allem in der politischen Klasse und in den Medien. Wir werden noch darüber zu sprechen haben, warum sie dort so dominant sind. Aber fragen wir zuerst: Wie reagieren sie eigentlich auf diese ungewohnte Situation? Waren sie es doch über Jahrzehnte gewohnt, der gläubigen Bevölkerung zu sagen: Dort, in den „Vereinigten Staaten von Europa“, liegt unsere lichte Zukunft. Oder noch viel primitiver, in Österreich bei der seinerzeitigen Volksabstimmung: „Gemeinsam statt einsam.“ Und jetzt müssen sie feststellen: Eine Mehrzahl der Bevölkerung geht nicht mehr mit. Ihre Überzeugungskraft ist ziemlich verbraucht.
Aber dem gegenüber verfolgen sie nun eine fast genial einfache Strategie: Sie ignorieren die neue Situation an der Oberfläche einfach. Unter der Oberfläche aber erhöhen sie diskret den Druck dort, wo sie es vermögen: in den Betrieben, vor allem auch in den Schulen. Das entspricht der neuen autoritären Struktur von Gesellschaft und Politik. Und noch funktioniert es einigermaßen. Wie lange? Vielleicht lange genug, um über die gegenwärtige Krise hinweg zu kommen. Wenn wir nicht dagegen arbeiten.
Wir sprechen vom € und der EU. Manche machen uns den Vorwurf: Ihr seid fixiert auf den €. Ihr seid eine single-issue-group! Die Politik besteht doch nicht nur aus der Währung. Eine politische Alternative muss viel umfassender angelegt sein. Oder noch naiver, nicht selten aus Gewerkschafts-Kreisen: Nicht die Währung ist das Problem, sondern die Politik danach.
Das ist, so glauben wir, eine schwere Fehl-Einschätzung. Der € ist nicht nur eine Währung. Der € ist nicht einfach ein Geld unter anderen Geldformen. Der € ist ein umfassendes politisches Projekt. Die europäischen Eliten und ihre Bewunderer in der ganzen Welt verfolgen damit ein strategisch durchgeplantes Projekt für eine neue Gesellschaft und einen neuen Staat.
Die EU ist eine Schlüssel-Institution der Globalisierung. Das wissen die Anhänger und Bewunderer der EU selbst mindestens ebenso gut wie wir. Und diese Bewunderer finden sich deswegen nicht nur in Europa. Von der zahnlosen „Afrikanischen Union“ bis nach Südostasien reichen die Versuche der Nachahmung, und es wird wohl kein Zufalll sein, dass die chinesische Nomenklatura auch dazu zählt ˗ jene Elite-Gruppe in Beijing, die dort einen Kapitalismus konstruiert hat, der selbst die Industrielle Revolution in Europa noch menschenfreundlich aussehen lässt.
Wir könnten also ohne weiteres auch sagen: Unsere Strategie heißt Entglobalisierung. Unsere französischen Freunde sprechen von Demondialisation. Die Zerschlagung der Eurozone und die Auflösung der EU ist nur ein Teil, der europäische Teil dieser Strategie. Wir bekämpfen die supranationale Organisation, den EU-Überstaat, weil er die europäische Organisation des globalen Finanz-Kapitalismus ist. Sein Hauptinstrument aber ist der Euro. Der Austritt aus dem Euro wäre somit der erste fundamentale Schritt im Paradigmenwechsel unserer Gesellschaft und Politik: eine Anfang für das Ende des Wegs der Gesellschaftsspaltung zugunsten der Eliten; ein erster Schritt hin zur Wiedereinbeziehung der Mittel- und Unterschichten in den sozialen Entscheidungs- und Entwicklungsprozess.
Dies bedeutet auch ein erhebliches Ausmaß an Renationalisierung. Nicht dass die Vergangenheit so leuchtend war. Aber sie war offen. Diese Offenheit der politischen Entwicklung, welche die EU mit aller Macht beseitigen will, gilt es wieder herzustellen. In diesem neuen Versuch, der Bevölkerung Anteil an der politischen Entscheidungs-Kompetenz zu verschaffen („Souveränität“ heißt das Fetischwort dafür) können wir die Empfindlichkeiten vieler Intellektuellen-Gruppen vor allem im deutschsprachigen Raum nicht schonen. Es ist ein Teil des Kampfes um die Hegemonie. Die Nation war stets auch der Demos, das Volk als politische Entscheidungskörperschaft, so verstümmelt diese Funktion in den Manipulationen der Herrschenden oft genug herauskam. Aber wir müssen dies wieder klar stellen, nicht uns ducken.
Der Aufbau der EU und des € ist also konstituierender und wesentlicher Teil jenes Globalisierungs-Prozesses, welcher den essenziellen Ablauf des Spätkapitalismus in der Gegenwart bildet. Das Geld, die Währung, ist in einer über den Markt laufenden Wirtschaft das wichtigste Instrument. Sind wir antikapitalistisch, so müssen wir uns logischer Weise gegen diesen Globalisierungs-Prozess stellen, und damit auch gegen € und EU als eines besonders kennzeichnenden Kernprozesses in diesem Rahmen. Daher verfolgt die folgende Darstellung nicht zuletzt das Ziel, den Aufbau der EU als europäischen Prozess der Globalisierung darzustellen.
Diese „neue“ Gesellschaft sieht in vielem sehr alt aus und erinnert stark an die Vergangenheit. Damit ist nicht unbedingt die Ideologie der „tiefen Begründung“ der EU gemeint. Die nimmt bisweilen schon absurde Züge an. Nicht nur der Karolinger Karl, von der apologetischen Historiographie „der Große“ genannt, wie aber meist in solchen Fällen, passender „der Blutige“ geheißen, ist ein Gründungsvater der EU. Nein, diese ist bereits in der Vorgeschichte verankert (Grantham 2006). Warum nicht gleich im Erbgut, in der DNA? Ich denke hier eher an die vordemokratischen Charakteristiken aus dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich nun in der EU wieder zeigen.
So spricht man denn auch öfters von einer Refeudalisierung der postmodernen Gesellschaft. Eine unbefragte Herrschaft der Eliten hat es in der vor- und frühkapitalistischen Vergangenheit bereits gegeben, im vor- und frühnationalen Staat. Motzt man sie heute modisch auf und verkauft sie als die „Leistungs-Gesellschaft“, so kann das eine Zeitlang bei manchen Leuten funktionieren. Der größere Teil der Menschen fühlt aber gegenwärtig schon, was das zu bedeuten hat, und wohin die Reise geht.
Seien wir ganz klar: Es geht um mehr als ein technisches Detail, etwas, was nur Währungs-Politiker und Bank-Menschen interessieren kann. Es geht um die Frage, wie die Gesellschaft morgen aussehen wird.
Die EU als bürokratischer Überstaat muss zerschlagen werden. Sie ist der Herrschafts-Apparat, den sich die Wirtschafts-Oligarchie, die Industrie- und Finanz-Eliten geschaffen haben. Hier können sie ihre Interessen zur unbestrittenen Dominanz bringen. Hier hoffen sie, Gesellschaft und Politik nach ihrem Geschmack zu formieren. Dieser Apparat kann nicht reformiert werden. Die Bürokratie, d. h.: die eigentlich herrschende politische Elite, kann nicht in den Dienst der Bevölkerung genommen werden. Noch umgibt sie sich mit einem Aufputz in der Gestalt der Summe der politischen Klassen der Mitgliedsstaaten. Aber die eigentliche Herrschafts-Ausübung geht in den großen Zügen schon an diesen politischen Klassen vorbei. Die nationalen Bürokratien wurden und werden immer stärker zum unmittelbaren Herrschafts-Instrument der herrschenden Cique, der Brüsseler Zentral-Bürokratie. Die Räte („Rat“, „Europäischer Rat“) werden immer stärker zum PR-Komitee dieser Brüsseler, Luxemburger und Frankfurter Zentralen.
Denn es gibt mehrere Äste, mehrere Teilapparate. Nicht alle sind gleich sichtbar. Der EuGH (Luxemburg) arbeitet sehr im Schatten der anderen Institutionen, und ist dabei doch neben der EZB und schon viel länger der wichtigste Zweig, wichtiger als die Kommission. In zäher Anstrengung hat er eine immer ausgeprägtere Zentralisierung erreicht. Selbst Höchstgerichte glauben heute, vor wichtigen Urteilen und Erkenntnissen seine Entscheidung anrufen zu müssen („Vorab-Entscheidung“). Ein sofortiger Austritt aus der Jurisdiktion dieses Gerichts wäre daher ein besonders wichtiger Schritt.
I. Die Problematik: Das Projekt der Eliten und die Zukunft der Bevölkerung
Mitten im Zweiten Weltkrieg erstattete Lord Beveridge der konservativen Churchill-Regierung in Großbritannien einen Bericht mit weit reichenden Vorschlägen für eine Transformation der Politik. Haben wir die Herausforderungen des Nazismus, seine Ambitionen auf Weltherrschaft bewältigt ˗ so der Tenor seiner Darlegungen ˗ , so wartet doch eine neue gewaltige innere Herausforderung auf uns: Wir müssen Gesellschaft und Politik so umbauen, dass wir die Menschen wirklich mitnehmen. Wir müssen die Lebensrisiken in den Griff bekommen: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Armut im Alter. Aber hat uns der Krieg nicht gezeigt: Auf eine vitale Herausforderung hin sind wir im Stande, alle unsere Kräfte zu mobilisieren?
Der Beveridge-Bericht war in einer ganzen Reihe von Punkten bemerkenswert. Da war der Auftraggeber. Churchill hatte in den 1920ern alle seine Kräfte eingesetzt, um die britische Arbeiterbewegung zu zerschlagen. Er hatte dabei auch einen gewissen Erfolg, wie später Thatcher. Und jetzt kam die Einsicht: Wir müssen die Arbeiter und die breite Unterschicht integrieren. Repression allein reicht nicht hin. Der Beveridge-Bericht umriss ein Alternativ-Modell zum sowjetischen Anbot, aber auch zum wilden Laissez faire-Kapitalismus. Er beinhaltete ein gewichtiges Maß an Umverteilung gegenüber den Marktbedingungen. Damit rettete er ein fast schon bankrottes kapitalistisches System. Zusammen mit dem US-New Deal und dem sich abzeichnenden skandinavischem „Volksheim“ gab er den Impuls für den Sozialstaat der Nachkriegszeit. Er gestaltete damit die westeuropäische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Aber diese Integration der Unterschichten ins System kostete.
Eine Zeitlang waren die Eliten bereit, diese Kosten zu tragen, zumindest der größere Teil unter ihnen. Gegenüber einem „Sozialismus“, was auch immer dies gewesen wäre, war dies vorzuziehen. Zwar: Es gab stets die scharfmacherischen Ideologen, einen Hayek etwa. Doch zumindest die Europäer zogen eine sehr diskrete Form der Politik vor. Repression war immer auch ein Teil davon. Die deutschen Notstands-Gesetze, das KPD-Verbot; in Österreich das Niederprügeln von Streiks, das bildete alles einen integralen Bestandteil dieser Politik. McCarthy lebte nicht nur in den USA. Aber vorerst ging die Reise eher in Richtung von mehr Leistung an die Bevölkerung und ein gewisses Nachgeben gegenüber Beteiligungs-Wünschen. So sank die Ungleichheit sogar noch, und die Ansprüche aus der Bevölkerung stiegen.
Der Wandel kam wieder von jenseits des Atlantiks, und zwar nicht zuletzt auf dem Weg über Großbritannien. Schon die Nixon-Regierung hatte eine gewisse Wende gebracht. Reagan und Thatcher, als die Gallions-Figuren des Neo-Konservatismus, machten dies mit Eklat zu ihrem Programm und darüber hinaus zu einem globalen Programm überhaupt.
In Kontinental-Europa machte zuerst Frankreich den Schwenk. Die Sozialdemokratie hatte Anfang der 1980er mit der Präsidentschaft Mitterand eine unabgesicherte keynesianische Konsum-Politik ausprobiert und war damit in die Bredouille geraten. Der Zusatz-Konsum ging in die Importe. Die Leistungsbilanz kippte. In einer völlig offenen Wirtschaft ist dies nahezu unvermeidlich, und daher ist eine keynesianische Politik in einzelnen Teilstaaten der EU auch mittlerweile fast unmöglich. Mit dem Eifer von Neubekehrten machten sich Delors und seine Gefolge nun daran, den Neoliberalismus härtester Art zu europäisieren. Sie fanden dabei offene Türen in der BRD.
Aber da war doch die erwartungsvolle Bevölkerung. Wie konnte man ihr vermitteln, dass es nun „Schluss mit lustig“ war, wie es später ein FPÖ-Industrieller und -Politiker so unnachahmlich formulierte? Man musste sich nach einer Politik umsehen, welche positiv besetzt war und in ihrer Struktur die neue Umverteilung nach oben robust durchsetzen konnte. Und eine solche Struktur war vorhanden. Sie musste nur noch zielgerichtet eingesetzt werden. Es gab die EG. Bei der lagen weit gediehenen Pläne zu ihrem Ausbau hin zum bürokratischen Staat in der Schublade.
Fast unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die US-Regierung eine weit reichende Entscheidung getroffen. Sie beschloss, alle Morgenthau-Ideen von der De-Industrialisierung Deutschlands fallen zu lassen und Europa insgesamt bzw. die einzelnen Staaten in ihren Neuaufbau-Bemühungen zu unterstützen. Die UdSSR hingegen setzte insbesondere im Osten Deutschlands ihre Politik der Demontagen und der damit angestrebten Selbst-Entschädigung für die Kriegsfolgen fort. Sie beschädigte damit dauerhaft den vergleichbaren und bald auch tatsächlich mit dem Westen verglichenen Entwicklungsstand Ostdeutschlands. Damit nahm sie der künftigen DDR jede Chance, von einer überragenden Mehrheit der Bevölkerung anerkannt und bejaht zu werden. Die sehr hohen Wachstumsraten ˗ tatsächlich waren sie langfristig etwas höher als im Westen ˗ konnten dies nie wieder wett machen.
Aus der im Marshall-Plan und sodann der OEEC, heute OECD, verkörperten neuen US-Politik der Stützung für (West-) Europa kamen die ersten starken Impulse für eine verstärkte europäische Koordination. Zwar wollten die USA mit den einzelnen Staaten einzeln handeln und verhandeln, schon um nicht die Kontrolle über diesen Prozess zu verlieren. Aber gleichzeitig war es dann doch notwendig, auf Westeuropa als Ganzes zu schauen. Dem entsprach eine ganz ähnliche Haltung auf europäischer Seite. Man wollte von den USA möglichst viele von den Mitteln haben, die sie bereit stellten. Man konkurrierte also mit den anderen Staaten um die begehrten Dollars. Aber gleichzeitig war auch eine minimale Abstimmung notwendig. Dieser Impuls wurde umso stärker, je mehr man sich wieder auf eigene Beine stellen konnte. Er wurde insbesondere durch das deutsche Problem verstärkt. Irgendwann wollte man den Einbezug des sich bald wieder eigenstaatlich organisierenden westlichen Deutschland, der künftigen BRD, in die westliche Sphäre. So kam der erste Impuls für eine stärkere Koordinierung, die bald zu festen Formen fortschreiten sollte, aus jener Richtung, gegen welche sich implizit und teils auch explizit ein Teil der Bemühungen richten sollte, weil eine neue Konkurrenz entstand.
I.1 Das Elitenprojekt: Die Ein-Viertel-Gesellschaft in der hoch entwickelten Welt
1.1.1 Projekt EU ˗ Projekt Euro: Von überstaatlicher Koordination zum supranationalen Staat
Die Idee einer übernationalen Organisation der „souveränen“ Einzelstaaten bis hin zum alles umfassenden Weltstaat ist nicht neu. Als logische Weiterentwicklung und intellektuelle Konstruktion musste sie auftauchen, nachdem sich das Westfälische System durchgesetzt hatte. Damit benennt man heute in der Politikwissenschaft ebenso durchgehend wie sprachlich irreführend jenes System von Staaten in (West-) Europa, wie es sich zur Zeit der Französischen Revolution durchgesetzt hatte. Die Staaten nahmen letzte „Souveränität“ für sich in Anspruch, die unbeschränkte Macht über Leben und Tod ihrer Untertanen und die Abwehr jedes Eingriffes seitens anderer Staaten.
Doch im selben Moment, als sie sich durchgesetzt zu haben schien, wurde diese politische Idee in der politischen Wirklichkeit auch schon völlig negiert. Die Mächte des Alten Regimes intervenierten in Frankreich, um die Revolution zu ersticken. Die sogenannten Napoleonischen Kriege waren Angriffskriege der alten absolutistischen Dynastien gegen das neue Frankreich, bis Napoleon den Spieß schließlich umdrehte.
Nach dieser langen Kriegsepoche von 1790 bis 1815, aus der das Alte Regime vorerst siegreich hervorging, wollte man solche Risiken ein- für allemale ausschalten. Die Heilige Allianz nahm für sich in Anspruch, in Europa die Verhältnisse zu regulieren. Wiederum intervenierten die Metternich, Friedrich Wilhelm, Nikolaus, etc., ungeniert in anderen Staaten, wenn diese nicht so wollten wie sie. Dies war allerdings ein ausschließlich politisches Anliegen; die Ökonomie stand nicht zur Debatte.
Die Heilige Allianz, die erste Vorläuferin von EG und EU, ging in den Revolutionen von 1848 unter. Ihr Nachglanz motiviert heute noch Monarchisten und einige Altkonservative als glühende Befürworter der EU. Bedeutung haben diese oft etwas komischen Figuren allerdings nicht.
Das Europäische Konzert trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an ihre Stelle. Es versuchte seinerseits, die innereuropäischen Konflikte und jene an den Rändern des damaligen Europas, insbesondere des Osmanischen Reichs, zu regulieren. Der Erfolg war überschaubar. Das Europäische Konzert brach mehrmals vorübergehend zusammen, und 1914 endgültig. Zu heterogen waren seine Eliten und ihre Interessen, von der Bismarck’schen Version eines militaristischen Neo-Absolutismus über den republikanischen Imperialismus Frankreichs zu der neuen Gier Italiens.
Vom ersten Kriegstag 1914 weg begannen die Koalitionen des Ersten Weltkriegs jeweils ihre Nachkriegs-Überlegungen und -Planungen. Beide Seiten gingen davon aus, den Krieg zu gewinnen. Dabei ist der Unterschied zwischen der deutschen Seite und der Entente höchst aufschlussreich.
„Mitteleuropa“ hieß der deutsche Entwurf, der sich in vieler Hinsicht in der Entwicklung der EWG bzw. EG in ihren Anfangs-Stadien wiederfindet. Allerdings war der Anwendungsbereich nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich nach Westen verschoben. Die ursprüngliche Geographie des Entwurfs ˗ von Berlin bis Istanbul ˗ zeichnet sich erst gegenwärtig wieder ab, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres äußeren, osteuropäischen Gürtels. Es ist aber nicht uninteressant, dass der Verfasser dieses Entwurfs, Friedrich Naumann (1915), in der BRD bis heute als Namenspatron des Partei-Instituts der nahezu verblichenen FDP dient.
Dieses „Mitteleuropa“ war also klar und deutlich ein Entwurf des national-liberalen deutschen Imperialismus. Aber schon damals, im ersten Kriegsjahr, lud Naumann die anderen europäischen Staaten zum Beitritt in diesen Verbund ein. Und er richtete sich keineswegs nur an die skandinavischen Länder oder Belgien und die Niederlande. Der Autor spricht vielmehr ausdrücklich die Feindstaaten, die Kriegsgegner an. Italien wird ausdrücklich genannt, wenn Naumann auch ein wenig skeptisch wirkt. Dieses Vorläufer-Design der EG war also ein Entwurf des deutschen Imperialismus, als er sich noch siegreich wähnte. Er ist nicht zuletzt deswegen so interessant, weil er sich auf sozio-ökonomisches Gebiet begibt.
Dieses Buch war noch nicht erschienen, als Kautsky 1914 den Begriff des Ultra-Imperialismus für die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung der imperialistisch-kapitalistischen Welt nannte. Da die kaiserlichen Deutschen gerade den Krieg begannen, als der Artikel erschien, ging der Ansatz vorerst unter, und Lenin (1916) goss Hohn und Spott auf Kautsky aus. Inzwischen ist diese Idee Kautskys, spätestens seit der Errichtung der BRD, zentrales Gedankengut der SPD im Besonderen und der europäischen Sozialdemokratie im Allgemeinen: jetzt allerdings nicht mehr als analytisches Konzept, sondern als politische Strategie.
Die Entwürfe aus Großbritannien und den USA trugen einen anderen, zugleich weiterreichenden und auch wieder bescheideneren Zug. Sie gaben den Abriss einer neuen Weltordnung nach dem Krieg. Aber sie beschränkten sich auf das klassische Feld der Politik und insbesondere der Außenpolitik. Sie zogen somit das Prinzip der politischen Globalisierung weiter, wie es sich schon bis 1914 entwickelt hatte. Immerhin gab es bereits an die 30 internationale Organisationen und Institutionen (Graml 1969, 13). Sie sind für das Argument hier nur wichtig, weil sie dokumentieren: Die Globalisierung ist keineswegs jener verwunderlich neue Prozess, wie ihn Hardt / Negri 2000 in ihrer Mystifizierung des „Empire“ dargestellt haben. Von Bedeutung waren diese Entwürfe, die Völkerbund-Ideen, weil sie die politische Nachkriegs-Realität beeinflussten.
In der Zwischenkriegszeit gingen diese Entwürfe weitgehend unter, selbst die ursprüngliche Idee des Völkerbunds. Der wurde zwar verwirklicht, aber nicht in seiner universalistischen Ambition. Zwischen den Siegern und den Besiegten hingegen blieb das Verhältnis eher gespannt. Zwar gab es Versuche, zwischen Frankreich und Deutschland einen Ausgleich zu finden. Aber da lagen einige Stolpersteine im Weg, vor allem aus dem Blickwinkel des revanchistischen Deutschland. Außerdem gab es da nun neu die Sowjetunion. Mit der Rapallo-Politik wollten die deutschen Eliten den Westmächten zeigen, dass es auch Alternativen zu ihnen gab. Die Außenminister des Deutschen Reichs und Sowjetrusslands, Stresemann und Tschitscherin, vereinbarten eine ziemliche weitgehende Zusammenarbeit ihrer Länder, die auch den militärischen Bereich berührte.
Die deutsche Götter-Dämmerung nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reichs schloss eine Initiative von dieser Seite vorerst aus. Dafür traten nun in Frankreich die Planer einer neuen supranationalen Zukunft auf. Der Hegel’sche Weltgeist forderte einen neuen Entwicklungsschritt des modernen Staats. Der Nationalstaat war überholt. Ein übernationales Imperium war überfällig (vgl. etwas ausführlicher: Reiterer 2014). Die ersten Entwürfe waren ein wenig deja vu. Aber sie haben sich heute als erstaunlich zutreffend erwiesen.
Die realistischen politischen Akteure vergaßen keineswegs auf die konservativen Utopisten. Man würde sie rechtzeitig wieder hervorheben und einsetzen. Und als Redenschreiber für luftige Entwürfe waren sie immer noch brauchbar. Doch vorderhand schob man sie in den Hintergrund. Im Augenblick ging es darum, brauchbare Strukturen für eine neue Alltags-Politik zu entwerfen. Man arbeitete dabei nach der Methode Versuch und Irrtum auf verschiedenen Ebenen.
In der klassischen Außenpolitik ging der Entwurf der EVG, der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft den Bach hinab. Zu frisch waren noch die Wunden aus dem deutschen Angriff und der Besatzung. Die französischen Abgeordneten konnten sich nicht überwinden.
Aber schon einige Jahre zuvor hatte man das geschaffen, was sich schließlich in der Zukunft als der große Wurf heraus stellen würde. Die EGKS, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, zielte nicht nur auf einen einheitlichen Markt für die Grundstoffindustrie. Sie schuf ein Institutionen-Werk, das nach seiner Erprobung in diesem sektoralen Markt praktisch unverändert auf den Gesamtmarkt von immerhin sechs Mitgliedern ausgedehnt werden konnte. Mit den Römer Verträgen von 1957 (in Kraft 1958) hatte man mit diesen Institutionen das Gerüst für ein neues, vorerst parastaatliches Gebilde, das sich als sehr entwicklungsfähig herausstellen sollte.
Wir werden sehr bald auf diese Strukturen und Prozesse zurück kommen. Doch vorerst ist es nötig, in ein anderes Feld zumindest kurz einzusteigen. Denn Westeuropa und auch die USA waren nicht mehr die einzigen bedeutsamen Akteure in der Welt des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts
.1.2 „Realsozialismus“: Der Zusammenbruch der UdSSR und seine Folgen
Die Ursprüngliche Akkumulation, der Aufbau des Kapitalismus, hatte bereits im Großbritannien des 18. Jahrhunderts ein starkes Wirtschaftswachstum hervor gebracht. Aber der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung stieg keineswegs. Im Gegenteil: bis etwa 1820 sank er. Der neue materielle Reichtum ging ausschließlich an die Oberen Schichten. Es erinnert ein wenig an die Gegenwart. Es gab einen frühen plebeischen Widerstand der Bevölkerung. Aber es waren plan- und ziellose Rebellionen, die nur zu oft auch gegen Sündenböcke abgelenkt wurden. In Großbritannien richteten sich z. B. solche Übergriffe gegen die katholische Bevölkerung, die ohnehin weniger Rechte hatte. Die Aufstände wurden mit größtmöglicher Brutalität unterdrückt. Insbesondere nach dem Beginn der Revolution in Frankreich waren Englands Adelige und Großbürger in einer wahren Panik. Die wurde in unterschiedlicher Weise aufgearbeitet und thematisiert. Der „liberale“, manchmal bauernschlaue Konservativismus des Edmund Burke (1790) blieb von dieser Panik übrig; ebenso auch die Ideen des Robert Malthus (1798). Die bilden ja bis heute noch den Untergrund u. a. der grünen Ideologie mehr noch als ihrer Politik.
Auf dem Kontinent, im deutschen Sprachraum etwa, war der Widerstand aus dem Volk sowieso gering. Die Bauern hatten die alten Eliten, teils in Zusammenarbeit mit den neuen Bürgern, bereits vor Jahrhunderten zusammengehauen. Sie schieden auf Dauer aus der Debatte, ja aus der Geschichte, aus. Die Unterdrückung traf jetzt viel stärker die Intellektuellen. Doch nur wenige unter ihnen begriffen: Wenn sie politische und geistige Freiheit wollten, waren sie auf das Volk angewiesen. Dazu hätte man über den Tellerrand hinaus sehen müssen. Doch gerade das wollte eine neue Retro-Ideologie verhindern. Sie schwärmte vom deutschen Mittelalter (Novalis: „Die Christenheit und Europa“) und suchte dort ihre Wurzeln. So transformierte sie die große revolutionäre Idee der Franzosen, die Nation, in einen reaktionären deutschen Ethno-Nationalismus, der sich nicht zuletzt gegen alle unkontrollierten Freiheits-Regungen wandte.
Um die Zeit der Revolution von 1848 allerdings realisierten einige der radikal-liberalen Intellektuellen: Wir brauchen eine Volksbewegung. Ein reiner Intellektuellen-Protest ist fast machtlos. Karl Marx und die Personen um ihn herum identifizierten so die Entrechteten als die Triebraft der Geschichte: „Die Geschichte ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.“ Die Arbeiterklasse, von den Eliten gleichzeitig verachtet und gefürchtet, ist die Organisatorin der neuen Gesellschaft. Was die Intellektuellen nicht dazu sagten, weil es ihnen absolut selbstverständlich war: Sie würden der Generalstab und die Offiziere dieses Volksheers sein. Sie würden es befehligen. So erhielt das Konzept der Arbeiterklasse und des Proletariats einen völlig anderen und neuen Inhalt, weit über einen Schicht-Begriff hinaus. Dieser neue politische Mythos war allerdings höchst ambivalent.
Die Sozialdemokratie war in den damals hoch entwickelten Gesellschaften Europas ziemlich schnell erfolgreich. Im Deutschen Reich organisierten sie bald die zahlenmäßig ansehnlichste Partei. Mit dem Erfolg kamen nicht nur die politisch notwendigen Kompromisse, sondern das langsame Vergessen auf die alten revolutionären Ziele. Schließlich hatte das Wirtschaftswachstum etwa ab 1850 auch den Arbeitern gewisse materielle Ergebnisse gebracht. Die Löhne begannen zu steigen, wenn auch langsam.
Doch im Osten Europas lagen unterentwickelte Gebiete. Im zaristischen Russland gesellte sich zur extremen Ausbeutung, vor allem der Bauern, die extreme Unterdrückung, die auch die Bürger und Intellektuellen traf. Und diese sahen sehr aufmerksam in den Westen. Die Debatte ging um den Entwicklungsweg. Der Fortschritt war ohne wenn und aber westlich. Die Nativisten der russischen Seele waren ja wirklich religiöse Reaktionäre. Sozialismus wurde für nicht wenige synonym mit Entwicklung schlechthin. Die russische Demokratie übernahm den Marxismus.
Derselbe Prozess ließ sich in den Entwicklungsländern der Gegenwart erkennen, jedenfalls bis zum Zusammenbruch des Sowjetsozialismus. Heute gibt es in manchen progressiven Kreisen eine Neubewertung der diversen drittweltlichen Nativismen, man denke an die Zapatisten in Mexiko und andere indigene Beweguingen. Die Situation hat sich tatsächlich verkompliziert.
Nach mehreren erfolglosen revolutionären Anläufen dieser Bewegung trat Russland in den Ersten Weltkrieg ein. Der Zusammenbruch der alten Gesellschaft kam noch schneller als bei den Mittelmächten. Und nun traten die konsequentesten der revolutionären Kräfte auf. Es gelang ihnen schnell, die Macht zu übernehmen.
Lenin hatte den Marxismus weiter formuliert und globalisiert („Imperialismus“). Er hatte daraus auch eine Technik des Kampfes um die Macht abgeleitet („Was tun?“). Und er hatte ihn dogmatisiert und zur Intellektuellen-Ideologie ausgebaut („Empiriokritizismus“, „Staat und Revolution“). Damit war klar, wer das Sagen hatte. Die praktische Folgerung zogen die Bolschewiki. als sie die Konstituierende Nationalversammlung nach Hause schickten ˗ mit guten Gründen. Aber sie ließen keine neue mehr wählen. Die nächsten, die es erfuhren, dass die intellektuellen Führer allein Recht hatten, waren die Matrosen von Kronstadt.
Es war also nach Lenins Tod nur schlüssig, dass Stalin vom Sekretariat der Partei aus gerade diese Punkte weiterzog und aus dem Leninismus die Legitimations-Ideologie einer neuen Elite machte. Der Marxismus-Leninismus wurde so im sozioökonomischen Bereich zur Entwicklungs-Diktatur einer übernationalen Führungsgruppe. Die Industrialisierung der Sowjetunion schritt zügig voran. Aber sie erforderte menschliche Kosten in schrecklichem Ausmaß. Die mehr als eine Million Toten des großen Terrors sind die eine Seite. Der Eliten-Marxismus dieser Sorte wurde auf Dauer diskreditiert. Bei allen unschätzbaren intellektuellen Ergebnissen ist es heute nur mehrmit viel Rechtfertigungsaufwand möglich, sich auf ihn zu berufen.
Die Planung und der administrative Prozess seitens der Nomenklatura hatte die UdSSR und Osteuropa in kürzester Zeit industrialisiert. Doch diese „ursprüngliche sozialistische Akkumulation“ von oben herab zeigte in einer hoch entwickelten Wirtschaft auch bald ihre Schwächen. Das Wachstum verlangsamte sich. Die Überakkumulation wurde ineffizient in dem Sinn, dass die hohen Investitionen einen zu geringen Ertrag brachten. Die Leitungsmechanismen und Prozesse wurden kostspielig, weil sie die Selbstregulierung zu wenig einbezogen. In ihr nehmen Menschen Informations- und Organisationsaufwand auf sich, ohne dies als Kosten zu empfinden. Doch die Nomenklatura fürchtete auch diesen beschränkten Markt, diesen Markt ohne „Konsumentensouveränität“, wie es Oskar Lange im Jargon der mainstream-Ökonomen ausdrückt. Gemeint ist ein Markt, welcher durchaus im Rahmen der Global-Planung bleibt und die Entwicklung nicht den Starken überlässt.
Im Ergebnis wuchs neben der lautstarken Opposition einiger Intellektueller auch der passive „Widerstand“ seitens der Bevölkerung. Sie war wenig motiviert, sich für den weiteren Aufbau einzusetzen. Seit Mitte der 1970er fielen die UdSSR und ihr westlicher Gürtel zurück. Das lässt sich weniger an Kennwerten wie dem BIP ablesen, als an solchen, viel wichtigeren, der sich verlangsamenden Lebenserwartungs-Zuwächse u. ä. Wohlstands-Indikatoren.
Zusätzlich ließen sich die Herren vom Politbüro noch auf einen Rüstungs-Wettlauf mit den USA und dem Westen ein, den sie angesichts der Kräfte-Verhältnisse nur verlieren konnten. Einige unter den Satteliten-Staaten hatten zudem mit aktiven Widerstand aus ihrer Bevölkerung zu kämpfen. War diese, z. B. in Polen, auch wirklich reaktionär geführt und gelenkt, so bleibt doch, dass eine Mehrheit der Bevölkerung ihn unterstützte. Dazu kamen innere Konflikte in der Führungsgruppe. Sie waren nach Außen kaum erkennbar, gaben aber schließlich den Anlass zu jenen Prozessen, die seit Mitte der 1980er zum Zusammenbruch führten.
Damit aber war der Weg für weitreichende Entwicklungen im Westen frei.
Die westlichen Eliten hatten den Sozialismus stets zutiefst gefürchtet. Jede von ihnen unabhängige Strömung, die nur entfernt daran erinnert, sahen sie als „Weg zur Knechtschaft“ für die Eliten, und wenn es nur kleine Schrittchen auf dem Weg zur Freiheit für die Bevölkerung waren. Und auch der Sowjet-Sozialismus war eine schwere Bedrohung. Solange er über etwas Glaubwürdigkeit in den entwickelten Ländern verfügte, war er ein Impetus für jede ernsthafte Opposition. Als diese Glaubwürdigkeit im Westen längst flöten gegangen war, war da noch immer ein anderer Aspekt, den man als höchst geschäftsschädigend empfand.. Die Nomenklatura bot sich als Entwicklungs-Modell für die Dritte Welt an.
Damit trat sie in unmittelbare Konkurrenz zum Imperialismus. Unterschiedlichste Entwicklungs-Diktaturen begannen sich auf die Sowjetunion zu berufen, wenn sie westliche Abhängigkeit und liberalistische Globalisierung ablehnten. Die sowjetische Führung ihrerseits war gerne bereit, jedes solches Regime als sozialistisch zu punzieren, wenn es nur antiwestlich war, ja, wenn es sich nur an der Oberfläche als etatistisch gerierte, wie immer die politische Wirklichkeit aussah. So wurde Nasser zum „arabischen Sozialisten“ und Nyerere zum „afrikanischen Sozialisten“. Indira Gandhi betrachtete man zumindest als verwandte Seele. Aber selbst so schmutzige und blutige Figuren wie Mengistu Haile Mariam, der in Äthiopien Mitte der 1970er jede sozialistische Regung unterdrückte und die linken Militanten mit Stalin‘scher Konsequenz ausrottete, waren für die sowjetische Partei und im Falle von Äthiopien: auch für die DDR Sozialisten.
Mit dem Zusammenbruch hatte man das Ende dieser Art von Geschichte erreicht. Die westliche Elite war sanguninischer und glaubte: Jeder Widerstand gegen ihr globales Design sei nun am Ende. Zu ihrem Schrecken musste sie am Beispiel Islamismus nun feststellen: Der Widerstand kann in ganz neuen Kleidern auftreten. Aber das ist eine Geschichte für sich. Für uns ist eine andere Wendung wichtiger.
Die Elite ging nun daran, im eigenen Land aufzuräumen. Nun dachte man, jene Verhältnisse zu schaffen, die man sich seit Langem wünschte. Nun sollte die Ein-Viertel-Gesellschaft verwirklicht werden.
1.2 Globale Strukturtendenzen
Der Schwenk der EG zur EU, vom Ultra-Imperialismus Kautsky’schen Angedenkens zum übernationalen bürokratischen Staat mit einer neuen Verteilung innen und neuen Abhängigkeits-Verhältnissen außen, ist ohne den Zusammenbruch des Sowjetsystems nicht denkbar. Aber die fortschreitende Entwicklung des Finanzkapitalismus war nicht zum Stillstand gekommen. Wir sind allerdings gegenwärtig noch im Stadium, diese Entwicklung sehr tastend und versuchsweise zu analysieren. Das Folgende ist also eher eine Aufzählung auffälliger Merkmale als eine wirkliche Strukturanalyse.
In den Jahren 1985 – 2008 war die Blasenbildung vor allem in den hoch entwickelten Ländern, aber damit auch global, sehr auffällig. In den Daten der Nationalen Buchhaltungen drückt sich dies u. a. im starken Steigen der Vermögenswerte und damit des Kapital-Koeffizienten aus (vgl. Piketty / Zucman 2014, die dies allerdings in höchst naiver und theoretisch geradezu skandalösen Weise angehen).
Die Dualisierung von Wirtschaft und Gesellschaft verstärkte sich rapide. Sie geht auf mehreren Ebenen vor sich. Die eine ist die eben angeführte stärkere Konzentration des ohnehin schon hoch konzentrierten Vermögens. Es ist ein ambivalenter Prozess für die Eigner des Finanzkapitals. Denn das geht vor sich mit einem Sinken des Zinssatzes. Es ist nicht völlig klar, wie sehr dies auch die Renditen betrifft. Denn als Daten ergeben sie sich nicht zuletzt aus den Realisierungen von spekulativen Kapital durch die Einzelnen. Die aber können große Gewinne ergeben, wenn der Verkäufer seinen Akt zeitlich richtig placiert. Aber das ist u. U. nur ein Gewinn auf Kosten seiner Miteigentümer, der anderen Kapitalisten.
Die Dualisierung lässt sich aber auch im Umbau des Sozialstaats erkennen. Er wird zur Grundsicherung und zur Disziplinierung der Unterschichten und zur Drohung an die Unteren und Mittleren Mittelschichten genützt. Funktionell kommt dies auf Ähnliches heraus, was vor zwei Jahrhunderten mit den Arbeits- und Armenhäusern in der Frühzeit der britischen Industriellen Revolution geschah. Das mag angesichts des (noch!) riesigen Niveau-Unterschieds nicht nur übertrieben, sondern sogar zynisch gegenüber den Elenden der Dritten Welt klingen. Aber vergessen wir nicht: Die Entwicklung seither hat nicht nur das Pro-Kopf-Produkt vervielfacht. Sie hat auch sozial und kulturell zum Postulat eines neuen Menschenbilds geführt, das auch die Eliten nicht so einfach versenken wollen und vor allem können.
Die Dualisierung drückt sich nicht zuletzt in einer Dualisierung der Lebensform aus. Für die unteren drei Viertel wird eine Daseins-Vorsorge mit stark kollektivistischen Tendenzen angestrebt. Das beste Beispiel ist die Entwicklung des Care-Sektors. Für die Oberschichten und die Oberen Mittelschichten wird hingegen durch Umverteilung nach oben die Möglichkeit ausgebaut, sich privat komfortable Lebensumstände zu schaffen.
Einige Literatur-Hinweise
Burke, Edmund (1968 [1790]), Reflections on the Revolution in France and on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to That Event. Ed. with an Introduction by Connor Cruise O’Brien. Harmondsworth: Pemguin.
Graml, Hermann (1969), Europa zwischen den Kriegen. München: dtv.
Grantham, George (2006), The Prehistoric Origins of European Economic Integration. http://www.mcgill.ca/files/economics/theprehistoricorigins.pdf (Download 8. Juni 2015).
Hardt, Michael / Negri, Antonio (2000), Empire. Cambridge, Mass.: Harvard University Press.
Kautsky, Karl (1914), Der Imperialismus. In: Die Neue Zeit 32.2, 908 – 922.
Lenin, W. I. (1975 [1916]), Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Werke 22, 189 – 309.
Malthus, Thomas Robert (1977 [1798]), Das Bevölkerungsgesetz. München: dtv (Übersetzung der Erstauflage von 1798).
Naumann, Friedrich (1915), Mitteleuropa. Berlin: Georg Reimer.
Piketty, Thomas / Zucman, Gabriel (2014), Capital is Back: Wealth ˗ Income Ratios in Rich Countries 1700 ˗ 2010. In: The Quart. J. of Economics, 1255 ˗ 1310.
Reiterer, Albert F. (2014), Der Euro und die EU. Zur politischen Ökonomie des Imperiums. Bergkamen: pad.