"Nein" beim Referendum
Anti-EU-Forum Athen 26.-28. Juni 2015
Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
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Sinkende Lohnquote
Weder Draghi, noch Troika, noch Euro.
Souverän und sozial. statt EURO liberal
 

Linke Argumente gegen die EU

Costas Lapavitsas wendet in seinem neuen Buch „The Left Case against the EU“ die Lehren des griechischen Debakels auf Großbritannien an und argumentiert, dass ein linker Brexit in greifbarer Nähe ist

von Wilhelm Langthaler

Costas Lapavitsas hat sich in den Jahren der Eurokrise international einen Namen als linker Volkswirt gemacht. Aus Griechenland stammend, lehrt er als Wirtschaftsprofessor auf der Londoner SOAS-Universität. 2015 wurde er als Mitglied der „Linken Plattform“ von Syriza ins griechische Parlament gewählt. Aufmerksam wurde man auf ihn als er schon im Februar 2015 das Abkommen mit der Troika ablehnte und für den Austritt aus dem Euro plädierte. Er stellte sich gegen Varoufakis, den er als Scharlatan und neben Tsipras als von der griechischen Seite als einen der Hautverantwortlichen für die Katastrophe, aus der sein Land nicht herauskommt, sieht.

2015 verfasste er gemeinsam mit dem profiliertesten deutschen Linkskeynesianer Heiner Flassbeck das Buch „Against the Troika. Crisis and Austerity in the Eurozone.“ Es ist kein Zufall, dass es auf Deutsch unter dem viel weicheren Titel „Nur Deutschland kann den Euro retten“ erschien. Er gründete das „European Research Network on Social and Economic Policy” (EReNSEP), das eine Alternative zum neoliberalen EU-Regime in Zusammenarbeit von akademischer und politisch-aktivistischer Welt entwickeln sollte. Das geschah parallel zur Beteiligung an den diversen Plan-B-Initiativen [1], denen es aber nicht gelang eine kohärente Alternative zu bieten.

Griechenland fiel in jeder Hinsicht, auch intellektuell, nach der verheerenden Niederlage gegen die Troika in ein schwarzes Loch. Podemos orientierte sich darauf im Großen das zu machen, was die portugiesische Linke vorexerzierte, mit der entsprechenden Moderation: nämlich die Sozialdemokratie zu unterstützen im engen neoliberalen Rahmen der EU-Vorgaben die Spielräume auszunutzen. Und Ménechons „France Insoumise“ blieb als Kraft in einem Zentrumsland, das zudem sogar noch EU-Urheber ist, sowieso bei der Position zuerst den Plan A probieren zu wollen.

Lapavitsas beteiligte auch sich an den Foren der „Europäischen Koordination gegen Euro, EU und Nato“ [2]. Heute engagiert er sich intensiv dafür, die Chance des Brexits für eine linke Wende zu nutzen. Er ist eng verbunden mit dem linken Flügel der Labour Party um Momentum und Young Labour, in denen es einen starken Anti-EU-Flügel gibt.

In diesem Kontext erschien im Herbst sein neues Buch, mit dem Ziel, der Kampagne eine fundierte Argumentation zu geben. Bei der ersten Präsentation waren mehr als 500 Leute anwesend, so dass viele abgewiesen werden mussten. Für die nächsten Monate ist eine Tour geplant, die Lapavitsas durch England führen wird. Auch in Österreich soll er auf Einladung des „Personenkomitees Selbstbestimmtes Österreich“ sprechen. Gegenwärtig laufen Verhandlungen mit deutschen Verlagen für eine Übersetzung.

„The Left Case Against The EU” ist sehr konzis, beabsichtigt nicht akademisch, aber doch wissenschaftlich fundiert. Lapavitsas zeichnet eine kurze Geschichte der EU, die mit der Gründung des Binnenmarktes einen Qualitätssprung macht. Die nun entstehenden Institutionen sind organisch mit dem neoliberalen Projekt verbunden. Dabei verfolgt der die Idee einer europäischen Föderation bis auf Friedrich von Hayek zurück, den Vater des Neoliberalismus, der damit den über die Nationalstaaten vermittelten Druck der Arbeiterschaft ausschalten wollte. Eine weitere Radikalisierung ergibt sich durch die gemeinsame Währung, die auf den Maastrichter Verträgen aufgebaut wird. Der Autor betont die außerordentlich wichtige Rolle des Geldes, die der herrschenden neoklassischen Theorie ein Rätsel bleibt. Für ihn ist die antistaatliche Rhetorik des Neoliberalismus ideologische Blendung, denn der Neoliberalismus hat nichts Natürliches, sondern wurde durch die Staaten selbst betrieben. Das beste Beispiel dafür ist die Institution der EZB. Noch nie in der Geschichte verfügte eine Zentralbank über eine derartige politische Machtfülle.

Für Lapavitsas ist der Euro jedoch nicht nur ein entscheidendes Instrument zur Durchsetzung der neoliberalen Ziele, sondern er begründet auch die „bedingte deutsche Hegemonie“ – eine wichtige Begriffsbildung dieses Buches. Diese geht einher mit der Peripherisierung des Südens und auch des Ostens, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Während der Süden in der Dauerkrise bleibt, desindustrialisiert und verarmt, erleben Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei eine abhängige Industrialisierung, bei der es vor allem darum ging, die Löhne in Deutschland substantiell abzusenken. Überhaupt profitiert nicht Deutschland als Volk, sondern das deutsche Exportkapital auf kosten der Arbeiterklasse, die nach der Wiedervereinigung eine historische Niederlage einstecken musste.

„Es ist nicht die wirtschaftliche Stärke des deutschen Kapitals an sich, die das Land zum Hegemon macht, sondern seine Stärke im institutionellen Rahmen der EU. Nach rein wirtschaftlichen Kriterien beruht die deutsche Hegemonie mehr auf der Niederdrückung der eigenen Lohnabhängigen, anstatt auf überlegener Investitionstätigkeit, Technologie oder Wachstum.“ (S.21) Also kein Vergleich mit dem Aufstieg Deutschlands am Ende des 19. Jahrhunderts.

Der Begriff der bedingten deutschen Hegemonie ist fruchtbar. Er hat den Vorteil sich auf der Grundlage fester sozioökonomischer Argumente zu bewegen und gleichzeitig den Gegner nicht (überhistorisch) zu überhöhen, sondern seine Schwächen bloßzulegen und dadurch auch einen Ausweg zu weisen – zu aller erst den Austritt der peripheren Staaten aus der EWU und damit der Entmachtung seiner organisch neoliberalen Institutionen.

Lapavitsas lässt den Mechanismus der Machtentfaltung der deutschen Wirtschaftseliten im Gefolge der Weltwirtschaftskrise nach 2007 Revue passieren, chronologisch wie systematisch. Dabei verweist er – wie die meisten Neo- oder Postkeynesianer – auf die zentrale Bedeutung des Begriffs der Lohnstückkosten als Interpretationsschlüssel für die Eurokrise. Grob gesprochen handelt es sich um den Lohn bezogen auf das Produkt. Er dient als Maß für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Entweder man steigert die Produktivität und erhält bei gleichem Lohn einen höheren Ausstoß – das passiert im Neoliberalismus kaum, insbesondere nicht in Deutschland, denn die Nachfrage lahmt chronisch und wird mit der EU-weit verordneten Austerität noch verstärkt. Oder aber man senkt die Löhne, der deutsche Königsweg. Darauf reagierte die Peripherie – über Jahrzehnte recht erfolgreich – mit Wechselkursabwertung, womit die preisliche Konkurrenzfähigkeit wiederhergestellt wurde. Doch die gemeinsame Währung versperrt diesen Weg. All jene Volkswirtschaften, die die Löhne nicht so drücken können wie die BRD, also dort wo die arbeitenden Menschen noch mehr gesellschaftlichen Einfluss geltend machen können, kommen dadurch ins Hintertreffen. Es entwickeln sich Handelsbilanzdefizite, die in der Phase der Kreditexpansion mit Zufluss ausländischen Kapitals abgedeckt werden. Doch dann schlägt die Weltwirtschaftskrise zu, die Kapitalflüsse stocken oder kehren sich sogar plötzlich um.

Am Beispiel seines Heimatlandes Griechenland zeigt er die katastrophalen Folgen dieses Politik für die Bevölkerung der Peripherie und die systematische Entwicklung der Institutionen in der Durchsetzung der Macht der deutschen Eliten als dominanten Gläubigern – unter totaler Kollaboration der nationalen Eliten sowie der institutionellen Linken. Dabei ging es zunächst beim „Rettungsprogramm“ darum, die Interessen der Zentrumsbanken zu wahren. Die Last wurde den griechischen Banken und schließlich dem Staat umgehängt. Dieser wurde unter Kuratel der EU gestellt, mit dem Ziel der Verbilligung der Arbeitskraft bis zum Niveau der Konkurrenzfähigkeit und in der Folge der „Räumung des Arbeitsmarktes“, wie es in den Mainstream-Lehrbüchern heißt. Aber das trat nie ein und wird auch nie eintreten, denn gleichzeitig kollabiert die Nachfrage. Die Schockprogramme mussten mehrfach neu aufgelegt werden und sie gingen zuletzt sogar dem IWF zu weit, der argumentierte, dass auf diese Weise Griechenland nicht auf die Füße kommen würde. Mit dem einzementierten neoliberalen EU-Regime, Lapavitsas nennt es Euro-Falle, ist der Süden jedenfalls zu Jahrzehnten des sozialen Niedergangs verurteilt.

Die Schlussfolgerungen: Die Euro-Krise wurde auf der einen Seiten dafür genutzt das supranationale Institutionengebäude im Dienst des Kapitals unter deutscher Hegemonie massiv auszubauen, „befreit“ von jeder demokratischen Kontrolle. Damit werden die sozialen und auch politischen Errungenschaften systematisch angegriffen. Auf der anderen Seite haben die Eliten und eben diese ihre Institutionen einen starken Glaubwürdigkeitsverlust erlitten, genauso wie die Linke, die dem kontrafaktischen (Alb)traum nachläuft, die Brüsseler Institutionen progressiv zu wenden. Das griechische Debakel müsste allen gezeigt haben, dass die soziale Reform der EU unmöglich ist. Denn die Durchsetzung des Neoliberalismus ist ihr eigentlicher Zweck.

So ist in der arbeitenden Bevölkerung ein politisches Vakuum entstanden. Der Wunsch, den sozialen Niedergang zu stoppen und die verlorene Demokratie wiederzugewinnen, vermischt und äußert sich im Ruf nach Souveränität. Die Rechte versucht da mit autoritären und chauvinistischen Losungen hineinzustoßen, was eigentlich Terrain der Linken sein könnte. Um wieder Tritt zu fassen und in der Opposition gegen den Neoliberalismus glaubwürdig zu werden, muss die Linke zum Bruch mit den neoliberalen Institutionen bereit sein, was insbesondere für die peripheren Länder als ersten Schritt einen Austritt aus der Währungsunion heißt. Ein radikaldemokratisches Programm des Bruchs muss ein Ende der Austerität, mehr Verteilungsgerechtigkeit, massive öffentliche Investitionen, eine aktive Industriepolitik, sowie die öffentliche Kontrolle über die Banken sowie die Schlüsselindustrien und -ressourcen umfassen. Nachdem es keinen europäischen Demos gibt, kann sich dieses Projekt der Volkssouveränität nur auf die Nationalstaaten beziehen. Die Beendigung des neoliberalen Binnenmarkts ist daher letztlich nur mit dem Austritt aus der EU zu haben.

In diesem Sinn spricht sich Costas Lapavitsas aktiv für einen linken Brexit aus. Es war eine Abstimmung „gegen die Austerität, schlechte Jobs, Sozialabbau, insbesondere seit der großen Krise 2007-9. Es handelte sich keineswegs um eine Kapitulation vor dem Rassismus, rabiatem Nationalismus und rechtem Autoritarismus, sondern das Referendum half einer Radikalisierung der britischen Politik in unerwarteter Weise auf die Sprünge. Nur mit knapper Not gewannen die Tories die Wahl 2017. Der wirkliche Gewinner war eine wiederbelebte Labour Party mit einem Manifest basierend auf einem sozialdemokratischen Programm gegen Austerität, das sogar für die Verstaatlichung der Eisenbahnen und anderer Ressourcen eintritt.“ (S. 139)

 

 

 

[1] Das Begriffspaar Plan A / Plan B kam im Gefolge der Eurokrise und insbesondere um den Konflikt mit Griechenland 2015 in die Debatte. Plan A ergibt erst Sinn wenn es dazu auch ein Alternativszenario gibt. Wie die beiden Pläne genau aussehen können, bleibt bis heute politisch umstritten. Ausgangspunkt ist jedenfalls, dass das Versprechen auf ein „Soziales Europa“ nach Jacques Delors sich als Illusion entpuppte, insbesondere nach der Unterwerfung der griechischen Linksregierung von Syriza unter die Botmäßigkeit der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF. Unter Plan B wird der Bruch mit dieser neoliberalen Politik verstanden, im Allgemeinen auch der Austritt aus der Eurozone. Plan A meint einen sozialen Kurswechsel im Rahmen der gegebenen EU-Institutionen. Der griechische Regierungschef Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis glaubten einen solchen im Rahmen von Verhandlungen erreichen zu können, hatten aber keinen Plan B und sei es nur um Verhandlungsmacht aufzubauen. Vertreter der Plan-A-Variante aus größeren Ländern argumentieren gerne, dass ihr jeweiliges Land mehr Gewicht hätte als Athen, um Änderungen durchzusetzen. Das gilt insbesondere für Frankreich als Architekt der EU. „France insoumise“ von Jean-Luc Mélenchon verspricht beispielsweise die EU-Verträge zu ändern (Plan A). Wenn die EU dies nicht akzeptieren würde, dann…

[2] (2)Die „Europäische Koordination gegen Euro, EU und Nato“ wurde 2014 von verschiedenen linken Euro-Gegnern aus Griechen, Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Österreich gegründet. Sie geht davon aus, dass das Ende des Neoliberalismus nur mit einem Bruch mit den EU-Institutionen, also der Währungszone und dem Binnenmarkt, möglich ist. Sie hat bisher vier europäische Foren abgehalten und ein fünftes ist für das Frühjahr 2019 in Vorbereitung. Nachstehend die wichtigsten Erklärungen:

Gründung Assisi, 23.8.2014 Erklärung: http://www.antiimperialista.org/de/node/244571

1. Forum Rom, 24.-25.1.2015 Erklärung http://www.antiimperialista.org/de/node/244651

2. Forum Athen 26.-28.6.2015 Erklärung http://www.antiimperialista.org/de/node/244737

Athen, 18.10.2015 http://www.antiimperialista.org/de/node/244772

3. Forum Chianciano Terme Bericht: http://www.antiimperialista.org/de/node/244877

Paris, 22.1.2016 Erklärung https://www.euroexit.org/index.php/2016/01/30/kommunique-der-europaischen-koordination-gegen-den-euro/

Plattform der Koordination: https://www.euroexit.org/index.php/2017/01/11/politische-plattform-der-europaeischen-koordination-fuer-den-austritt-aus-euro-eu-und-nato/

4. Forum Paris 16.3.2017 Erklärung: https://www.euroexit.org/index.php/2019/02/12/declaration-of-the-4th-forum-of-the-european-coordination-to-exit-the-euro-the-eu-and-nato/

Eine Quittung für die EU und ihre Freunde: Die Abstimmung im Londoner Parlament ging etwas anders als erwartet aus

432 : 202. Das kommt also heraus, wenn ein Esel auf dem Hochseil tanzen will. Das schießt einem im ersten Moment durch den Kopf. Es geht aber natürlich um viel mehr als um Theresa May und ihre Unfähigkeit. Wenn man taktieren will, muss man die Kräfte und die Institutio­nen einschätzen können, und das Vermögen dazu geht ihr gänzlich ab, wie sie ja schon mehrmals bewies.

Wir wissen nicht, wie es weiter geht. Kann sein, dass es zum „harten“ Brexit kommt. Aus meiner Sicht wäre dies ein Vorteil. Mir hat noch niemand erklären können, was am „harten“ Brexit so schlimm wäre. Die EU-Eliten fürchten ihn und erklären ihn zur Katastrophe. Warum eigentlich? Mag sein, dass es zu einigen Reibereien kommt, wie bei größeren Änderungen immer. Und die britischen ebenso wie die EU-Eliten werden schon alles tun, um ihn diskret möglichst zu sabotieren. May hat dies schon gezeigt: Sie muss zur Vorbereitung, im Journalisten-Jargon Plan B, gezwungen werden. Denn diese Leute wissen schon, warum sie ihn fürchten. Sie wollen ja dem p.t.-Publikum zeigen: Seht, das kommt heraus bei einem EU-Austritt! Das habt ihr nun davon! Doch dass sich der „Finanzplatz“ London, also ein der Zentren der globalen Spekulation, bedroht fühlt, können wir ja wohl nicht als besonderes Unglück betrachten.

Unter rationalen politischen Akteuren hätte man einen Kompromiss ausgearbeitet. Aber die Leute von der EU sind nicht rational. Ihnen kommt es darauf an, das haben sie oft genug gesagt, Großbritannien und die Briten zu bestrafen – und auch die Regierung, weil sich diese um das Ergebnis der Volksabstimmung kümmert, nachdem sie eine solche überhaupt zuge­lassen hat, wenn auch aus einer Fehlkalkulation heraus. Und nun fürchten sie die Beispiel-Wirkung, falls der Brexit doch zum Erfolg wird. Schon jetzt sollte das Land ja abstinken – aber die Exporte sind gewachsen und die Wirtschaft hat keineswegs gelitten. Wenn die Menschen diesseits des Ärmelkanals sehen, dass die Welt nicht untergeht, könnte das fatale Folgen haben, da mögen die EU-Propaganda-Medien vom ORF bis zur Frankfurter Allgemeinen noch so dagegen anreden und anschreiben.

Die EU und ihre Kommission haben einen Austritts-Vertrag ausgehandelt, der für Großbritan­nien schlimmer ist als die gegenwärtige Mitgliedschaft. Das UK wäre zur reinen Kolonie geworden. Sicher, um so einen Vertrag zu formulieren, bedurfte es einer Th. May und ihrer Hintermänner auf der anderen Seite. Doch diesmal haben die Herrschaften in Brüssel einfach überzogen und ihrerseits die Lage falsch eingeschätzt. Nun haben sie ihr Ergebnis.

Und wenn es zu einem neuen Referendum kommt?

Ich fände das nicht so übel. Es würde nicht nur die Konservativen zerreißen, sondern auch Labour mit seinem ungelösten Konflikt zwischen Blairisten und Corbyn. Damit wäre auch die falsche Linke innerhalb von Labour entlarvt und möglicher Weise der Weg zur Desillusionie­rung über diese Linke abgekürzt. Das Ergebnis ist offen, im Gegensatz zu Allem was die EU-Propagandisten schreiben. Und selbst wenn die EU gewinnen würde, wäre das gegen den jetzt vorliegenden Austritts-Vertrag vorzuziehen. Insgesamt ginge die EU jedenfalls ge­schwächt aus der Auseinandersetzung hervor. Es würde auch für alle klar, was für die EU eine Volksabstimmung bedeutet, deren Ergebnis gegen die Wünsche und Befehle Brüssels und Berlins ausgeht. Sie hat ja ihr Standard-Verfahren: Man lässt solange abstimmen, bis das gewünschte Ergebnis heraus kommt.

Die Bürokraten haben ihren Stand überschätzt. Noch versuchen sie, mit Härte zu reagieren. Gegen Italien und seine zahmen neokeynesianischen Wünsche hetzen sie die Spekulanten und setzen den spread ein. Gegen die Schweiz wollen sie die „Bilaterale“ verwenden, um den Stachel mitten in Europa stumpf und das Land zur Kolonie zu machen. Dabei haben sie ohnehin die Regierung der Eidgenossen, im Dienst deren Großkapitals, auf ihrer Seite. Aber immer größere Teile der Bevölkerung sind widerspenstig. Und sogar das eigene Vorsitzland, Rumänien, versuchen sie öffentlich zu demütigen, weil die aktuelle Regierung nicht alle Wünsche des Zentrums erfüllt, aus welchen Gründen immer.

Doch diese Politik wird immer kostspieliger. Und das ist eine Chance für die Bevölkerung. Parlamentarische Politik im Innern des Nationalstaats basiert auf Kompromissen und Aus­gleichen. Das kann die Bürokratie als Herrschafts-Apparat nicht; das hat sie nie gelernt; ist sie doch nicht auf Unterstützung und Konsens als ihre legitime Grundlage angewiesen. Damit hat die Bürokratie aber auch die Fähigkeit verloren, jenseits ihres innersten Kreises nach pragmatischen Lösungen zu suchen. Selbst ihre Siege will und versucht sie zu erzwingen, man sehe nur nach Italien. Aber diese Siege werden zusehends zu Pyrrhos-Siegen.

Die Abstimmung im britischen Parlament hat sich aus vielerlei Motiven gespeist. Die EU-Palladine der Labour-Partei und der Liberalen hatten ebenso wenig wie die schottischen Nationalisten – die „guten“ Nationalisten, im Gegensatz zu den kritischen – einen Fortschritt im Sinn. Dabei ist es Corbyn sogar entfahren, dass dieser Vertrag wirklich unakzeptabel ist. Die Mehrheit der Konservativen hatte vermutlich auch nicht gerade das Wohl einer breiten Bevölkerung vor Augen, weder die „Brexiteers“ noch die „Remainers“.

Aber gegen die Erwartung aller EU-Fanatiker wurde diese Abstimmung zum Paukenschlag gegen die EU!

AFR, 16. Jänner 2019

„Die Wut der Bürger und der Friede Europas“

Milan Obid, Klagenfurt

[Bild: Friedensprojekt? Nato- und EU-Osterweiterung Hand in Hand gegen Russland]

Die Sorgenfalten der Europäisten unter den „progressiven“ Intellektuellen werden tiefer. Sie sehen ihr „Friedensprojekt“ von Neoliberalen gekapert und von rechten wie linken Nationalisten attackiert.

Es ist zum Verzweifeln. Da bietet sich die historisch einmalige Gelegenheit, auf den Trümmern zweier Weltkriege und der darauf folgenden Blockkonfrontation ein europäisches Friedensreich zu schaffen und dann stellen sich dieser schönen Idee die kurzsichtigen Interessen von nationalistischen Kleinkrämern, gierigen Kapitalisten, tagespolitisch beschränkten Provinzpolitikern und der unwissenden Masse entgegen. Da große Ideen bekanntlich an den Leuten zu scheitern pflegen, empfiehlt es sich neue Wege zu beschreiten. „Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen, dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist„, so der europabewegte österreichische Schriftsteller Robert Menasse bereits im Jahr 2012 in „Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas“, einem seiner zahllosen Lobgesänge auf die Europäischen Union.

Engagierte Literatur muss belohnt werden, l‘art pour l‘art war gestern. Und so streicht einer, der dazu rät „die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen“ – selbstverständlich dialektisch ganz im Sinne der späteren Entstehung einer wahren, weil nicht nationalstaatlich begrenzten Demokratie – einen Preis nach dem anderen ein. Öffent­liche Intellektuelle wie Menasse gefallen sich in der Rolle von Visionären und jenen muss ein Denken jenseits der Grenzen des normal Zulässigen auch mal erlaubt sein, Zitatfälschung und das willkürliche Zurechtrücken historischer Begebenheiten inklusive. Es wäre aber auch zu schön gewesen, hätte der erste Präsident der Europäischen Kommission, Walter Hall­stein, seine Antrittsrede 1958 tatsächlich in Auschwitz gehalten! Dass dies nicht der Wahr­heit entspricht, hätte sich Menasse denken können. Doch ist er scheinbar vom unter öster­reichischen Intellektuellen beliebten aber historisch haltlosen Motiv des vorbildhaft antifa­schistischen Nachkriegs-Westdeutschlands derart geblendet, dass er selbst die unglaub­würdigsten Anekdoten über Politiker der BRD ungeprüft mehrfach nacherzählt und als histo­rische Wahrheit ausgibt, treffen diese nur den Nerv der politisch korrekten Befindlichkeiten von sich und seinesgleichen. Was nun, wenn sich herausstellt, dass (nicht bloß) die rühren­de Geschichte über die Rede von Auschwitz frei erfunden war? Dann hat die Wahrheit eben Pech gehabt! Ein Menasse spricht im Namen der übergeordneten Wahrheit, und diese lautet eben, dass der Nationalstaat den Weg nach Auschwitz bereitete. Folglich: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“ Ende der Debatte. Und doch bewegt eine Frage das ihm sonst so wohlgesonnene Feuilleton: „Ja darf er denn das?“ Aus dem Springer-Blatt „Welt“ lässt Menasse ausrichten: „Was kümmert mich das Wörtliche, wenn es mir um den Sinn geht?“, was wiederum als ein Hinweis auf die Qualität seiner Schriftstellerei dienlich sein kann.

„Wer als erster Auschwitz sagt, hat gewonnen“ brachte einst ein deutscher Satiriker den Opportunismus so manchen „antifaschistischen“ Debattenstils auf den Punkt. Menasse hat diese schäbige Instrumentalisierung des Völkermordes nicht erfunden, sondern nur die neueste schmutzige Episode dazu geliefert. Wer nun erwartet, die sonst recht schnell em­pörten Wächter des Erbes der Opfer des Holocaust würden auch diesmal öffentlich prote­stieren, hat die Funktion der hegemonialen Gedenkkultur der Gegenwart missverstanden. Der faschistische Völkermord hat als ein obszönes Volksfest dargestellt zu werden, was eine Politik der Massen für immer desavouieren soll. Nicht zufällig ist das Demokratieverständnis der Europabewegten in der vorgeblichen Abgrenzung zum Populismus begründet, womit in Wahrheit freilich eine Absage an die Anliegen breiter Bevölkerungsschichten gemeint ist.

Das wirkungsvollste Instrument in den Händen europatümelnder Intellektueller ist nun mal ihre Rede vom Frieden, den sie auf Gedeih und Verderb mit dem Los der Europäischen Union verknüpft wissen wollen. „Europa oder Barbarei“ ließe sich Rosa Luxemburgs Diktum über die Alternativlosigkeit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung im Sinne der „progressiven“ Europafreunde umschreiben. Ein friedliches, soziales, demokratisches und solidarisches Europa soll es werden. Weil aber die Wirklichkeit dem so gar nicht ähnlich sieht, werden Klagelieder angestimmt. Im „Alpen-Adria Manifest“, einem vom ehemaligen Universitätsprofessor Werner Wintersteiner redaktionell verantworteten Appell von offenbar um die Zukunft des Kontinents besorgten Intellektuellen aus der so genannten Region Alpe-Adria, heißt es etwa: „Die Logik des maximalen Profits droht aus einer ökonomischen Doktrin zu einem generellen Prinzip der menschlichen Beziehungen zu werden. Eine Kultur des Misstrauens und der Rivalität, der Neidgenossenschaft und des kleinlichen Vorteils macht sich breit“. Das Vokabel „Neidgenossenschaft“ kennt man als einen Kampfbegriff jener, die selbst gegen bescheidenste Umverteilungsversuche nach unten Sturm laufen, aber es stimmt eben auch im Allgemeinen mit der Gefühls- und Erfahrungswelt sozial privilegierter Schichten überein. Schon die naive Verwendung dieses Propaganda-Vokabels spricht Bände darüber, wie wenig die Autoren ihre eigene soziale Position in der Gesellschaft reflektieren. Da es sich um ein Manifest handeln soll, haben sie aber selbstverständlich auch eine Lösung für die unhaltbaren Zustände parat: „Transnationale Formen der Demokratie zur Eindämmung der entfesselten Märkte“. Der Begriff „transnational“ kommt im Appell satte zwölfmal vor. Wenig überraschend, ist doch alles in Verbindung mit dem Präfix „trans“ eine dem Zeitgeist entsprechende akademische Modeerscheinung. „[N]ational kann weder die Demokratie gerettet noch der Kapitalismus zivilisiert werden; dazu muss die Demokratie transnational als politische Gegenmacht zum Markt konstituiert werden“, wird der Schweizer Sozialdemokrat und EU-Aktivist Andreas Gross zitiert. Ob er deshalb wie Menasse vorschlägt, die überholten demokratischen Institutionen des Nationalstaats lieber gleich ganz abzuschaffen, bleibt der Vorstellungskraft des Lesers überlassen.

Die Verfasser des Manifests sind angetreten um die „mutwillige Zerstörung des­sen, was vom Friedensprojekt Europa übergeblieben ist“ aufzuhalten. Denn „starke Gegen­kräfte“ stellen sich der „demokratischen Vereinigung von ganz Europa“ entgegen. Das könn­en nur die Handlanger von Hass und Zwietracht oder bestenfalls alten politischen Projekten nachhängende Ignoranten sein. Die Entstehungs-Geschichte der Europäischen Union wird als die Verwirklichung einer Utopie von Frieden und Wohlstand umgeschrieben. Verblüffend, wie unverfroren sich links wähnende Europäisten verdrängen, dass sie selbst diese hehren Idea­le der EU und ihrer Vorläufer erst recht spät anzuerkennen wussten. Die Grünen sind dafür das Musterbeispiel. Waren sie einst noch gegen den EU-Beitritt Österreichs, tummeln sich dort heute die bedingungslosesten Europäerinnen. Und so wimmelt es im „Alpen-Adria Mani­fest“ von Zitaten mehr oder weniger berühmter öffentlicher Persönlichkeiten, zu finden ist je­doch kein einziges historisches Zitat aus linker Feder, das sich positiv auf die Vorläuferinsti­tutionen der EU bezieht. Man begnügt sich vielmehr mit Allgemeinplätzen wie „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“ (Ingeborg Bachmann). Menasse hätte passendere Zitate gefunden.

Spätbekehrte gehören mitunter zu den fanatischsten Verkündern von Glaubensdoktrinen. Dieses allgemeine Phänomen lässt sich unter den in die Jahre gekommenen (ehemals) linken intellektuellen Europatümlern gut beobachten. Was ihnen einst als imperialistisches Projekt des europäischen Großkapitals erschien, wissen sie heute als die Verwirklichung von Frieden und Wohlstand zu würdigen. Bei einschlägigen Veranstaltungen übertreffen sich die „überzeugten Europäer“ regelmäßig gegenseitig. Dass ihnen das Bekenntnis zu „Europa“ eine heilige Bürgerpflicht ist, müssen sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit unter Beweis stellen. Und so ist die Phrase vom „gemeinsamen Europa“ zur Orthodoxie geronnen. Da das „Friedensprojekt“ längst nicht mehr über alle Zweifel erhaben scheint, wird der Ton immer schriller. Je breiter die Ablehnung, desto höher der Einsatz, der auf dem Spiel steht. „Wenn die EU zusammenbricht, dann kommt der Krieg zurück nach Europa, davon bin ich fest über­zeugt“, droht Gregor Gysi in der „taz“. Es gehört zu den Absonderlichkeiten bei postmodern gewendeten Linken, die sich in kritischer bis ablehnender Distanz zum sowjetischen Sozialis­musmodell begreifen, dass sie gerade das schlechteste Erbe linker Tradition bewahren, wenn sie das Schicksal der Menschheit mit einem politischen Projekt der Machteliten verknüpfen. Dass die EU – anders als die aus der Oktoberrevolution hervorgegangene spätere Weltmacht – nie als Emanzipationsprojekt gedacht war, kommt erschwerend hinzu. Es bleibt zu hoffen, dass die Rede vom Krieg von Historikern zukünftiger Generationen nicht als eine sich selbst erfüllende Prophezeiung abgehandelt wird werden müssen.

Und so wünscht man sich ein ganz anderes Europa, als man es in der Wirklichkeit vorfindet. „Europa als Friedensprojekt kann aber nur in dem Maße erfolgreich sein, als es sich nicht auf die Ideologie des Nationalstaates und des entfesselten Kapitalismus gründet“ steht im „Alpen-Adria Manifest“ geschrieben. Schade nur, dass die Autoren solcher Appelle bei den entscheidenden Stellen in Brüssel auf taube Ohren stoßen. Dort nimmt man derartige Stellungnahmen gegen „die Ideologie des Nationalstaates“ zufrieden zur Kenntnis und verbucht das Unbehagen gegenüber dem „entfesselten Kapitalismus“ als unvermeidliche Alt-68er-Marotte. Die Loyalität gegenüber ihrem politischen Großprojekt ist ihnen aus dieser Richtung offenbar gewiss, ganz unabhängig davon, wie weit sie es mit der „Entfesselung der Kräfte des Marktes“ treiben.

15. Jänner 2019

Italien: Der Kompromiss der Regierung des Wandels

Bemerkungen zur Verständigung über das Budgetgesetz zwischen Rom und Brüssel

 

Knapp vor Weihnachten konnte also doch noch ein Kompromiss im Budgetstreit zwischen der italienischen Regierungskoalition von Lega (Matteo Salvini) und 5 Sterne Bewegung (M5S, Luigi Di Maio) und der EU-Kommission verkündet werden: Nicht 2,4 % Neuverschuldung, sondern nur 2,04 %, also knapp 10 Mrd. € mehr an Leistungsabbau, geringere Mittel für Investitionen (-4,2 Mrd. €) , eine mögliche Mehrwertsteuererhöhung als Sicherheit im Fall der Zielverfehlung und regelmäßige Überprüfung durch die EU. Dafür vorerst kein Defizitverfahren und die Verteidigung der beiden „Leuchtturmprojekte“ Grundsicherung (reddito di cittadinanza; mit späterem Beginn im April 2019 und schärferen Zugangskriterien) sowie sozialen Änderungen im Pensionssystem (Rücknahme des Fronero Gesetzes; Quota 100, Pensionsantritt bei einer Summe aus Alter und Beitragsjahren = 100). Im Folgenden ein paar Gedanken dazu.

  1. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben

Den meisten Kommentatoren und wahrscheinlich auch den Protagonisten ist klar, dass der Kompromiss die Konfrontation nicht löst, sondern nur hinausschiebt. Die strukturellen Probleme Italiens (Niedergang der Industrie und der öffentlichen Infrastruktur, Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung, Bankenkrise, Staatsschulden) bleiben ungelöst – mit dem gestutzten Budget mehr als mit dem ursprünglichen Vorschlag von 2,4 %, mit diesem schon mehr als mit dem im Koalitionspakt vom März geplanten/proklamierten Maßnahmen, die wiederum selbst schon ein unzureichend expansives Ausmaß hatten.

Auch die politischen Kräfteverhältnisse bleiben unverändert. Die Regierung hat nach wie vor eine große Mehrheit hinter sich und es gibt keine Anzeichen einer Erholung auf Seiten der Opposition. Gestärkt wurde durch den Kompromiss die „fünfte Kolonne“ in der Regierung (die Loyalen von Staatspräsident Sergio Mattarella, v.a. Wirtschaftsminister Giovanni Tria und Außenminister Enzo Moavero Milanesi), die für „Stabilität“, gleichbedeutend Kontinuität des Euro-Austeritätsregimes, steht.

In Griechenland 2015 war die Sache mit dem Ja zum Memorandum gelaufen, die Regierung hatte sich offen gegen die Bevölkerung gestellt und in vollem Umfang das Troika-Regime akzeptiert. In Italien ist es in der Tat ein Kompromiss, der mehr einer politischen Verschnaufpause, denn einer Einigung auf halbem Weg gleichkommt. Der Ausgang der Europawahlen im Mai und die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Einbruchs könnten diesen Waffenstillstand bereits 2019 jederzeit wieder aufkündigen, noch bevor das nächste Budget ansteht.

  1. Die EU ist kein Papiertiger, aber dennoch in der Krise

Nach Griechenland zeigt Italien neuerlich, dass ein auch nur vorsichtiges Ausscheren aus dem neoliberalen Korsett des Fiskalpaktes in Brüssel als Kriegserklärung gewertet wird. Die politischen Eliten wissen, dass ein Zeichen der Schwäche gegenüber Herausforderern – denn um die politische Herausforderung geht es, nicht um die Zahlen (siehe Frankreich: 3,2 % Defizit) – zu einem Dammbruch führen kann. Es birgt die Gefahr eines Endes des Euro, der den politischen Weg der Herrschenden während der letzten zwei Jahrzehnte repräsentierte, das Markenzeichen der sich vertiefende Einigung Europas unter neoliberalem Vorzeichen.

Ein Nachgeben Brüssels gegenüber den Herausforderern wäre eine Beschleunigung hin zur Neuformierung der Machtverhältnisse innerhalb und zwischen den Ländern Europas. Und die neoliberalen Parteien der Mitte sind sich der Präzedenzfälle der Sozialdemokratien Griechenlands, Italiens und Frankreichs im Klaren: in kürzester Zeit ist ein Abstieg von den Zentren der Macht in die völlige Bedeutungslosigkeit möglich, wenn man die Zügel aus der Hand legt.

Und auch das Export- und Finanzkapital fürchtet zu Recht, dass seine ungebremste Gestaltungshoheit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik von einer Erschütterung der neoliberalen Globalisierungsarchitektur in Europa empfindlich getroffen werden könnte.

Bei einem solch gewichtigen Einsatz ist die Unnachgiebigkeit Brüssels daher nicht verwunderlich, und die Herren sitzen durchaus noch auf einem langen Ast: das Damoklesschwert des Defizitverfahrens war begleitet durch die Artillerie des Spread und die Hand am Colt des Geldhahns der EZB.

Die Durchsetzungskraft Brüssels darf aber über die Politikschwäche und den Glaubwürdigkeitsverlust des Projekts EU nicht hinwegtäuschen. Das (verspätete) Abfangen der verschuldeten Mitgliedsstaaten durch die EZB kombiniert mit einem in die Verfassungen gemeißelten deutschen Austeritätsregime (z.B. Sixpack, Schuldenbremse) sind keine Strategie zur Lösung der strukturellen Krisenherde der EU und schon gar kein Modell, das mehrheitliche Zustimmung der Bevölkerung mobilisieren kann.

  1. Institutionelle Repräsentanz ohne soziale Mobilisierung ist wenig standfest

Auch in Italien ist trotz massivem Unmut der Bevölkerung – siehe Niedergang der ehemaligen Regierungsparteien von Forza Italia/Berlusconi und Partito Democratico/Renzi, aber auch das sinkende Vertrauen in die EU (Eurobarometer 2008: 51 % vs. 2018: 36 %) – die soziale Mobilisierung auf den Straßen und in den Betrieben äußerst gering. Der Protest äußerte sich, wie vielerorts in Europa, institutionell in den Wahlen, indem Parteien jenseits des Establishments, in Italien eben die M5S und Salvini‘s Lega, stark gemacht wurden und in die Regierung kamen. Die italienische Koalition spiegelt dieses passive Protestpotential wieder, wird von ihm getragen und muss dementsprechend agieren. Dennoch ist die Verbindung zwischen „Führung“ und „Basis“ eben keine „organische“.

Lega und M5S folgen einer widersprüchlichen, programmatisch inkonsistenten Agenda und sind von internen Gegensätzen zerrüttet. In der Lega die alte Padaner-Riege mit ihren proeuropäisch-großbourgeoisen Elementen, vertreten etwa durch Staatssekretär Giancarlo Giorgetti, gegen die kleinbürgerlich-plebejische Salvini-Riege. Bei der M5S haben sich in der EU-Frage die Fronten weitgehend hinter Di Maio geschlossen (offenbar inklusive Europaminister Paolo Savona), ohne hörbares eurokritische Ausscheren in den oberen Rängen. Wobei die Gruppe der „Parteilosen“ Moavero, Tria und tendenziell auch Ministerpräsident Giuseppe Conte im Preis wohl noch billiger zu haben sind als Di Maio. Letzterer fürchtet hier sicher stärker – bestätigt durch Wählerumfragen- um seine Sichtbarkeit innerhalb der Koalition gegenüber Salvini. Die kritischen Stimmen in der M5S haben sich dann auch in diesem Kontext geäußert, etwa hinsichtlich des autoritären „Sicherheitsdekrets“ der Lega. Nur sind unter diesen Lega-kritischen Stimmen leider auch viele, die als Alternative einer Koalition mit der PD zugeneigt sind (mit Parlamentspräsident Roberto Fico als Wortführer). Für den Machiavelli Mattarella ist das eine zweite Stütze in seiner „Subversion“ gegen die „Populistenregierung“.

Mitten in der Konfrontation mit Brüssel beschäftigt sich die Regierung dann noch mit allerlei Hickhack und Theater um Nebensächlichkeiten. Dazu noch die lächerlichen Twitter-Schauspielereien von Salvini, die lautstarken Proklamationen nach Ereignisse, um sich dann wieder um die konsequenten Entscheidungen herumzudrücken (siehe Nationalisierungsdebatte nach der Katastrophe der Morandi-Brücke): all das sind Symptome von dem Phänomen, das der Begriff „Populismus“ nicht schlecht umschreibt.

Der Kompromiss im Budgetstreit zeigt also nicht nur, dass die politische Führungsgruppe und die Parteien der Regierungskoalition weder inhaltlich noch organisatorisch auf eine Konfrontation mit Brüssel vorbereitet sind. Er ist auch das Zeichen der Schwäche eines unorganisierten Unmutes, der nicht in der Lage ist aktiv zu reagieren und gezielt Druck auszuüben. Dementsprechend ist die aktuelle Periode der Krise und des Kampfes auch eine sehr sprunghafte, die genauso gut wieder in Resignation und Rückzug enden kann (siehe Griechenland), um dann von neuem und an anderen Schauplätzen auszubrechen.

Die andere Seite desselben Zeitgeistes sind die „Gelbwesten“ in Frankreich. Sie zeigen die Kraft des Volksprotestes auch ohne eine „organische Führung“. Der Protest ist das analoge Phänomen zur Regierung in Italien, nur eben von unten. So wie die EU-Eliten vor einer wirren und nicht einschätzbaren Fünf-Sterne/Lega-Regierung mehr Angst haben als vor einer linken Partei à la Syriza oder Podemos, da erstere den Hass gegen die Eliten viel unmittelbarer wiedergeben, so fürchten sie die Gelbwesten mehr als etwa eine CGT-Streikbewegung, da auch diese viel stärker die unbändige Entschlossenheit (konsensfähiger) sozialer Wut wiedergibt. Kein Wunder, dass die Kommission also in Frankreich ein Defizit über der 3%-Grenze durchgewunken hat, damit ihr Freund und (schneller als gedacht am Müllhaufen der Krisenmanager gelandete) Hoffnungsträger Macron diesem Alptraum gegensteuern kann.

Aber auch hier muss man sich vor „spontaneistischem“ Überschwang hüten. Die Skepsis der Gelbwesten gegen politische Repräsentanz ist zwar verständlich und auch sympathisch, angesichts der Unzulänglichkeiten selbst von France Insoumise. Aber damit ist natürlich vorgezeichnet, dass die Bewegung keine „organische“ Kontinuität finden wird.

Dennoch, so sind eben die vorläufigen Ausdrucksformen in den Momenten der holprigen Geschichte zu einer anti-neoliberalen Opposition in Europa: Gelbwesten, die „populistische“ Regierung Italiens, die turbulenten Monate Januar bis Juli 2015 in Griechenland, der Brexit.

  1. Der nationalen Souveränität ein fortschrittliches Bild geben?

Die Gegner der italienischen Regierungskoalition von PD, Forza Italia und Konsorten, jahrzehntelange Verursacher der ganzen Misere, waren sich nicht zu blöd, angesichts des Budgetkompromisses (und des damit erforderlichen Änderungsantrags zum Budgetgesetz im Parlament) die Verletzung der Souveränität des Landes anzuklagen. Kein Wunder, dass die Menschen sich mit Ekel von Politik und Wahlen abwenden, bei derart lächerlichen Eskapaden! Aber dennoch sagt das einiges: Souveränität ist ein Thema, objektiv, angesichts der wieder einmal als eisernes Korsett an den Tag getretenen Budgetregeln aus Brüssel, und subjektiv, im Empfinden vieler Menschen.

Die positiven Argumente für das Rückholen von Entscheidungsmacht auf die Ebene des Nationalstaates sind wirtschafts-, sozial- und demokratiepolitisch vielfältig und klar (siehe dazu z.B. die Gründungserklärung von Euroexit). Auch die Krise der Globalisierung (sichtbar u.a. als Handelskonflikte) und der EU legen nahe, sich heute wieder über die Rolle des Nationalstaates Gedanken zu machen.

Dennoch gibt es dabei ein ungelöstes Hegemonieproblem. Sowohl unter den politischen Akteuren/Parteien als auch im Empfinden jener sozialen Schichten, die sich von den Elitenparteien abwenden, ist der links-souveränistische dem eher rechts konnotierten Diskurs (mit all seinen Widersprüchen, siehe Italien) noch völlig unterlegen. Das macht Probleme: es verhindert, der Idee des Nationalstaats den Mief des Nationalistischen, Ausländerfeindlichen und Rückwärtsgewandten zu nehmen, ihr etwas Fortschrittliches und Zukunftsweisendes zu geben. Das wiederum erschwert es ungemein, in den immer noch (in Österreich völlig) von der EU-Ideologie („Friedensprojekt“) dominierten Bereich der Intellektuellen vorzudringen. Auch hier braucht es einen Bruch, um weiter zukommen von den Turbulenzen der Gelbwesten und Regierungspopulisten hin zu einer organisierten Opposition mit durchdachter politischer Strategie und anstrebenswerter (demokratischer und sozialer) gesellschaftlicher Vision.

 

Gernot Bodner, Wien 27.12.2018

Gelbwesten: Eine a-politische, tendenziell linkspopulistische plebeische Bewegung

Vorgestern (13. Dezember) veröffentlichte „Le Monde“ kurze Ergebnisse einer Gruppe französischer Sozio- und Politologen zu den Gelbwesten und ihren Motivationen. Ich habe die Grafiken der Zeitung vereinfacht und nachgebaut.

In Kürze zusammengefasst:

Der beruflich-soziale Schwerpunkt liegt bei kleinen Angestellten. Auch das alte Kleinbürger­tum (Handwerker, Kleinunternehmer) ist etwas überrepräsentiert, macht aber nur einen geringen Anteil aus. Dafür liegt der Anteil der Arbeiter etwas unter dem nationalen Schnitt. Dem Einkommen nach stehen sie sich nicht besonders gut, leicht unterdurchschnittlich, aber nicht ganz unten.

Massiv unterrepräsentiert sind, wenig verwunderlich, die höheren und leitenden Angestellten und Beamten.

Der Großteil der Aktiven war bisher a-politisch, wie es heute ganz üblich ist. Den Parteien schlägt größtes Misstrauen entgegen, aber auch die Gewerkschaften werden ziemlich misstrauisch betrachtet. Auf der politischen Links-Rechts-Achse ordnet sich die Mehrzahl „Links“ und sogar „extrem Links“ ein – soweit sie sich dort positionieren: ein Drittel weigert sich. Vor allem aber wollen sie nicht „Zentrum“ sein. Es ist ein Protest gegen die Hegemonie, die wir gern linksliberal nennen, die aber in Wirklichkeit liberal-konservativ ist – liberal in kulturellen Fragen, aber erzkonservativ in soziö-ökonomischer Hinsicht. In Österreich stellt der „Standard“ das Muster-Beispiel.

Das Hauptanliegen sind Einkommens-Erhöhung, bessere Verteilung und Steuersenkung. Und sie wollen gehört werden. Die Immigration spielt keinerlei Rolle.

Das ist nicht der Ort für eine Analyse. Es ist jedoch klar: Hier haben wir eine wirkliche Bewegung vor uns, wo die liberal-konservativen mainstream-Leute zornig hinschimpfen: „(Links-) Populisten“!! Es ist eine plebeische Rebellion derer, die von den abgehobenen Akademikern auch in Österreich voll Arroganz und voll Klassen-Verachtung von oben herab als „Modernisierungs- und Globalisierungs-Verlierer“ bezeichnet werden. Das sind jene Leute, welche selbst heute noch den Sozialdemokraten den guten Rat geben: Mit diesen Abgehängten könnt ihr keinen Staat machen. Oder wie es ein viel im ORF (und auch anderen Medien) interviewter österreichischer Politologe ausdrückte: „Das sind nur Objekte der Sozialpolitik.“

Tories vergeigen Brexit

Ist ein People’s Brexit gegen das neoliberale Regime möglich?

von Wilhelm Langthaler

Zwei Jahre Verhandlungen haben eindrucksvoll bewiesen, dass die Tories und hinter ihnen die britischen Eliten weder fähig noch bereit sind, den Austritt aus der EU so zu organisieren, dass er die Wünsche der unteren Hälfte der Bevölkerung auch nur annähernd reflektieren würde.

Die Vielen („the many“) oder die „working-class“ haben mit großer Mehrheit für den Brexit gestimmt, weil sie sich Take-back-control erwarteten, nämlich über ihre Lebensumstände, die ihnen in vier Jahrzehnten des Neoliberalismus abhandengekommen sind.

Der Versuch der Tories, diese Stimmung von unten mittels einer Reminiszenz des britischen Großmachtstrebens auf ihre Mühlen zu lenken, ist gründlich gescheitert. Denn sie gingen davon aus, dass die Abstimmung gegen den Brexit ausgehen würde. Sie hätten sich damit als Demokraten profilieren könnten, die zwar den Brexit ermöglicht hatten, lediglich das Volk hätte nicht gewollt. Jetzt ist es umgekehrt: Weder können noch wollen die Tories einen Bruch mit der neoliberalen Machtstruktur Europas vollziehen.

Die No-Dealers am rechten Rand der Tories sind nur mehr abgehalfterte ideologische Desperados, die ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, sowohl oben als auch unten.

Denn die Idee eines reaktionären Souveränismus, eines eigenständigen Großbritanniens als globale liberale Macht mit noch engerer Beziehung zur USA, trägt schon lang nicht mehr. Selbst wenn das Trump gefällt, der nicht versteht, dass die EU ein Teil des globalen US-amerikanischen Machtdispositivs ist. Obama sah da im Sinne der US-Vorherrschaft klarer und stellte sich entschieden gegen den Brexit.

Nationale Souveränität hat nur als linker Entwurf für größere soziale Gerechtigkeit Sinn, selbst in einem Zentrumsland. Als wirtschaftsliberales Konzept stößt die nationale Souveränität gegen das historisch-konkrete, institutionelle globalistische Freihandelsregime – eine freifliegende rechte Träumerei, die der City of London nicht dienstbar ist.

 

Am Erbe der kolonialen Weltmacht gescheitert

Hauptstolpersein für den Brexit ist Nordirland. Unter allen Kolonien ist Irland (neben Indien) jenes Land, dass am meisten unter dem britischen Joch gelitten hat – mit Millionen Toten, Generationen des Elends, Unterentwicklung und Unfreiheit bis heute.

Es ist eine tragische Tatsache, dass der jahrzehntelange Bürgerkrieg über die koloniale Grenze mitten durch die grüne Insel (und damit über den unionistischen Machtanspruch), auf reaktionäre Weise (vorläufig) gelöst werden konnte, nämlich durch die EU-Personenfreizügigkeit. Diese hat eigentlich einen anderen Sinn, nämlich die freie Bewegung des Produktionsfaktors Arbeit unter der Botmäßigkeit und nach den Bedürfnissen des Kapitals. (Wir gehen hier auf die zahlreichen Probleme des Karfreitagsabkommen nicht ein.)

Mittlerweile haben sich die Verhältnisse auf den Inseln jedoch stark verändert. Die Republik ist eine der größten Profiteure der EU als Eintrittspunkt des US-Kapitals nach Europa. Das soziale Niveau der Republik hat mittlerweile jenes Nordirlands überholt. Und die kulturelle Modernisierung des Neoliberalismus dämmte den politischen Katholizismus substanziell ein. Die Krise der traditionellen Industrien Ulsters hat für die nordirische Mittelklassen die Republik denkbar gemacht, während die protestantische Arbeiterschaft und die Elite hart unionistisch bleiben. Und es kommt noch die demografische Entwicklung dazu, die das katholisch-republikanische Lager zur Mehrheit machen, obwohl die Counties extra so ausgewählt und maßgeschneidert wurden, dass dauerhaft eine unionistische Mehrheit gewährleistet bliebe.

Jede Form des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU muss zwangsläufig Irland wieder teilen. Doch eine volle Grenze wird von der republikanischen Mehrheit Nordirlands nicht akzeptiert werden. Schon jetzt funktioniert die Karfreitags-Machtteilung mit den Unionisten nicht. „Direct rule“ Londons droht als Rute im Fenster. Doch eine Grenze brächte die Möglichkeit eines abermaligen Bürgerkriegs und damit die Frage des Anschlusses an die Republik wieder auf das historische Tapet. Das will London vermeiden, zumal die britischen Eliten nach Jahrzehnten des Neoliberalismus eine tiefe Krise durchlaufen.

So blieb Theresa Mey nichts anderes übrig als die Frage auf die Zukunft zu verschieben und in einer Zollunion mit der EU zu bleiben – mit (fast) allen Konsequenzen des Binnenmarktregimes, einschließlich der Jurisdiktion des EU-Gerichtshofs. Die EU bestand darauf als Rückfalllösung („backstop“ im Brüsselsprech), falls es nach der vereinbarten zweijährigen Übergangsperiode zu keiner Einigung kommen sollte, eine harte Grenze auf der grünen Insel zu verhindern. Das heißt entweder, dass Großbritannien in der Zollunion bleibt oder die Zollgrenze zwischen den Inseln aufgezogen werden muss. Ein gewaltiger Schritt zur De-facto-Rückkehr Ulsters zur Republik.

Das kommt einer historischen Demütigung jener imperialen Macht gleich, die die Welt wie niemand zuvor und niemand danach alleine beherrscht hatte. Und nun können sie nicht einmal mehr ihre Siedlerenklave in nächster Nähe unter Kontrolle halten. Es zeigt, wie groß die Verzweiflung, der Machtverlust, die Schwierigkeiten der Londoner Eliten sind. Natürlich können da die nordirischen Unionisten der DUP nicht mit und haben May die zur Stimmenmehrheit notwendige parlamentarische Unterstützung aufgekündigt. Doch auch wichtige Teile der Tories verweigern May die Gefolgschaft.

 

Stürzt May?

Die Premierministerin hat mit großer Sicherheit die Mehrheit verloren und sollte eigentlich stürzen. Doch was ist für die Tories die Alternative?

No Deal, der unkontrollierte Austritt wie er in der Führungslosigkeit möglich werden könnte und wie ihn einige Tory-Hinterbänkler vollmundig propagieren, ist für die City ein Graus. Für sie bedarf es unbedingt eines modus vivendi mit der zentralen kapitalistisch-liberalen Macht Europas.

Rechnerisch gesehen wäre der May-Plan mit der Hilfe der Blairisten in Labour durchzudrücken. Doch das könnte nicht nur die Tories zerrütten, sondern auch den Blairismus auslöschen und das Land dem Corbynismus als Linkskeynesianismus ausliefern. Das wäre für die City der absolute Supergau, noch schlimmer als No Deal.

Hinzu kommt der im Sinne der Eliten unverantwortliche Revanchismus Brüssels. Angesichts dieser Szenarios müssten sie May beistehen und mit gewissen symbolischen Zugeständnissen helfen, die Ehre der Vereinigten Königreichs zu retten. Doch dazu scheinen sie nicht bereit, umso mehr als sie auch vom Süden bedroht sind und dort absolute Härte zeigen wollen.

Was schreibt sich May nun gut, um ihren Plan zu verkaufen? Zunächst die Einschränkung zukünftiger Arbeitsimmigration von Nicht-EU-Bürgern aus der EU. Ob das Substanz hat, darf bezweifelt werden. Denn der Lohndruck ging vorwiegend von Arbeitskräften aus osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten aus, die auch in der Übergangsphase vollen Zugang haben werden. Dann ein Ende des EU-Agrarregimes, wobei nicht klar ist, wie das mit der Binnenmarktregeln und der Zollunion zusammengeht. Und schließlich ein Ende der Beitragszahlungen, die nun angeblich für das Gesundheitssystem verwendet werden könnten. Das EU-Regime bleibt also für die Übergangsphase überwiegend bestehen, nur kann London politisch nicht mehr mitbestimmen. Und was danach sein wird, steht noch in den Sternen. Der Soft Brexit Mays hat also kein Fleisch an den Knochen. Anders gesagt: May hat den Brexit vergeigt.

 

Links-Brexit?

Wir beobachten eine spektakuläre Metamorphose, welche aber im Kern schon als Larve angelegt gewesen war. In der öffentlichen Wahrnehmung wurde das Ergebnis des Referendums als Rechtsschwenk abgekanzelt, waren doch die linken Stimmen für den Brexit nur schwach hörbar und die traditionelle Linke dagegen. Man dachte, die Tories hätten sich schlicht verzockt und ihr reaktionärer Flügel gewonnen. Ein klassischer Fall von gerufenen Geistern, die man nicht mehr los wird?

Ja, aber diese Geister heißen nicht Nigel Farage von UKIP oder Boris Johnson, das den Wilden spielende Elite-Kind, sondern Jeremy Corbyn und John Meynard Keynes.

Der Brexit kam überwiegend von unten. Doch politisch konnte er sich nicht als solcher klar artikulieren und wurde so von den reaktionären Tories missbraucht. Das gelang auch deswegen, weil New Labour keine Alternative geboten hatte. Doch das überwältigende Gefühl der Vielen nach Jahrzehnten des Neoliberalismus und seinen Verwüstungen – Großbritannien diente ja als Versuchskaninchen – ist, dass der „freie Markt“ endlich in die Schranken gewiesen werden muss. Selbst May, deren Tories einer historischen Niederlage entgegengehen und deren Eiserne Lady Thatcher das Flaggschiff des Neoliberalismus darstellgestellt hatte, muss das Ende der Austerität versprechen – aber nun ist es zu spät, keiner glaubt ihr mehr. Stattdessen ist Corbyn mit einem linkskeynesianischen Programm als konkrete Alternative aufgetaucht und elektrisiert die Massen.

Doch das Problem von Labour liegt beim blairistischen Apparat, der linken Deckung des Neoliberalismus. Neu Labour stellt den Kern der Kampagne für eine zweite Abstimmung. Nur mit äußerster Mühe konnte Corbyn seine politische Exekution verhindern, die aber weiterhin immer droht. Er und seine Basisbewegung, wovon Momentum nur der am besten organisierte Teil ist, sind im Labour-Apparat höchst umstritten und werden von einer gewichtigen Sektion bekämpft.

Diese Koexistenz ist ungesund, denn sie hindert Corbyn am People’s Brexit. Er muss ständig herumeiern und die Blair-Jünger mit Kompromissen in Schach halten. Die terroristische Verleumdungskampagne wegen seiner propalästinensischen Haltung, die ihm Antisemitismus vorwirft, ist nur ein Vorgeschmack darauf, welcher Sturm losbrechen könnte, wenn er die Wahlen gewinnen sollte. Nicht nur, dass die gesamte Presse sich gegen Corbyn stellte und stellen wird, sondern eben auch das Trojanische Pferd in Labour selbst.

Doch es gibt die konkrete Möglichkeit des People’s Brexit und paradoxerweise im Mutterland des europäischen Neoliberalismus. Der Austritt aus der EU macht die versprochenen Renationalisierungen, die Regulierungen, die öffentlichen Investitionen in allen Bereichen, die Wiederbelebung des Sozialstaates erst möglich. Corbyns Labour könnte ein solches Mandat erhalten, wenn er im Vorfeld nicht zu zu vielen Abstrichen gezwungen wird, auch in der Frage des Brexits.

Der Kampf wird sich nicht zwischen Labour und Tories abspielen, sondern innerhalb von Labour oder besser gesagt, das ganze alte System wird sich auf Corbyn stürzen. Und es wird ein schwerer Kampf, der vor allem von der Volksmobilisierung abhängt, denn England ist ein Zentrumsland des globalen Kapitalismus. Wenn sowas dort möglich ist, dann erst recht in mehr peripheren Ländern.

Eine weitere positive Folge eines People’s Brexit könnte die vollständige Entkolonisierung der geschundenen grünen Insel Irland sein.

Gelbwesten bringen „Präsident der Reichen“ in Bedrängnis

von Wilhelm Langthaler

Sozialer Protest des peripheren Frankreich wird zum politischen Revolte

[Bild: Macron raus – Lügner und Dieb – wir sind die 99% – Fuck the system – Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit]

In den vergangenen Wochen ist scheinbar aus dem Nichts eine Massenbewegung entstanden, die die tiefsitzende Unzufriedenheit der Bevölkerung zum Ausdruck bringt, sich aber über das traditionelle politische System nicht auszudrücken vermag. Anders gesagt, Macron verfügt zwar über eine enorme institutionelle Macht, aber sein Wahlerfolg war eine kurzfristige Medienblase, während der Hegemonieverlust der euroliberalen Eliten nachhaltig ist.

Anlass war eine geplante Steuererhöhung auf Diesel, die zu Straßenblockaden vor allem in der vernachlässigten Peripherie führten, während normalerweise immer die Zentren und Paris das Sagen haben.

Doch die Breite und Wucht der Bewegung wirkte wie ein Funke, der auch auf die Städte übersprang und praktisch die gesamten Unterklassen erfasst hat. Medien berichten von sensationellen Zustimmungswerten von über 80% der Bevölkerung.

Proteste gegen Erhöhung von Kraftstoffpreisen lassen auf der Linken berechtigterweise Fragen aufkommen. Wie sehr verkleiden sich hier Interessen von Frächtern und anderen Kleinunternehmen als Allgemeininteressen? Oder steht gar die individualistische Autoideologie der Rechten und der Industrie dahinter, die sich gegen den öffentlichen Verkehr und ökologische Eingriffe im Allgemeinen zur Wehr setzen? Wo bleiben die Interessen der unselbständigen Lohnempfänger? Waren nicht die Taxifahrer und Kleintransportunternehmer immer tendenziell der Rechten zugehörig?

Die Gelbwesten sind schon lange über die Frage der Spritpreise hinausgewachsen. Die Medien berichten über ihre Heterogenität und politische Führungslosigkeit. Interviews und Augenzeugen bringen eine große Wut auf die Eliten zum Ausdruck, gegen deren schamlose Bereicherung, während die einfache Bevölkerung in immer größere Schwierigkeiten gelangt. Macron selbst ist hervorragendes Symbol dieses Abgehobenheit und Arroganz. Forderungen nach höheren Löhnen und Pensionen, sowie ein Ende der Steuer- und Subventionsgeschenke an die Wohlhabenden werden erhoben. Zudem ist es ein Schrei der politisch Entmündigten nach mehr Demokratie, die über direkte Beteiligung und Referenden erreicht werden soll. All das wird in einer Forderung zusammengefasst: Macrons Rücktritt!

Die Reaktion der herrschenden Eliten, ihrer Medien und auch weiter Teile der institutionellen Linken war die Gelbwesten als rechte Bewegung zu denunzieren, die sich gegen ökologische Anliegen wenden würde. Die kommunistische Gewerkschaft CGT stellte ihnen die Rotwesten entgegen und verurteilt die Gewalt und selbst France Insoumise (FI) von Jean-Luc Mélenchon brauchte einige Zeit um ihre Unterstützung auszusprechen – jetzt dafür aber im vollen Umfang und ohne Paternalismus.

Während dessen stellte sich Marine Le Pen vom Rassemblement National, früher Front National, von Anfang an auf die Seite der „gilets jaunes“.

Doch die Bewegung selbst hat vielfach zum Ausdruck gebracht, dass sie keine Instrumentalisierung durch die etablierten politischen Kräfte wünscht, teils weil sie sich nicht repräsentiert fühlen, teils weil das der breiten Unterstützung Abbruch tun könnte.

Selbst die exzessive Repression durch Macrons Polizei auf den Champs-Élysées, dem Symbol der Macht der Eliten des vom Protest der einfachen Leute abgeschirmt werden sollte, hat der Bewegung offensichtlich nicht geschadet. Trotz des Sperrfeuers der Medien, die die Gewalt der Bewegung anlasten und sie damit diskreditieren wollen, machen die unteren Schichten die Regierung verantwortlich. Die harte Linie des Präsidenten erweist sich als ein Schuss nach hinten. Nun musste er die Notbremse ziehen und ein Steuermoratorium erklären, allerdings nur für sechs Monate bis nach den EU-Wahlen. Ob das ausreichen den Protesten den Wind aus den Segeln zu nehmen, ist fraglich.

Das wesentliche Charakteristikum der Gelbwesten ist, dass es ein umfassender und transversaler Protest der Unterklassen ist, ein sozialer Protest gegen die Eliten, der weder von der Linken aber auch nicht von der Rechten repräsentiert werden kann. Was die Rechte betrifft, so kanalisiert der FN seit Jahrzehnten politisch-kulturellen Unmut von unten auf chauvinistische Art und Weise, doch wirklichen sozialen Protest konnte und sollte er nie artikulieren. Dazu ist und bleibt er zu sehr mit dem Bürgertum verbunden. Die Tatsache, dass viele ihrer Anhänger von unten an den Protesten teilnehmen, ändern daran nicht.

Wahrscheinlich sind an der Basis viel mehr Aktivisten und Sympathisanten linker Bewegungen beteiligt, doch zeigt die große Distanz zur organisierten Linken eine Entfremdung an, obwohl die Linke im Gegensatz zur Rechten historischen nicht nur mit der Arbeiterschaft, sondern den unteren Schichten im Allgemeinen verbunden war.

Diese Entfremdung gilt für die linke Kultur, die mit gewissem Recht (aber auch einem Schuss Übertreibung) mit den Eliten verbunden wird. Denn es stimmt, dass die Eliten nach der Wende viele Elemente linker Ideologie und Kultur angenommen haben, ja oft die organisierte Linke adoptierten. Denn der kulturelle Schild des Konservativismus gegen die die Arbeiterklasse war nicht mehr nötig.

Aber auch im engeren politischen Sinn gibt die Linke keine Antwort. Die Sozialdemokratie ist sowieso verschwunden und hat in Macron ihren Endpunkt als in einem ultraliberalen Bonaparte gefunden. Die KP ist ihr Anhängsel, während die kommunistische Gewerkschaft CGT keine selbständige politische Rolle spielen will.

Und was ist mit FI von Mélenchon? Es ist zumindest eine Teilantwort, doch einerseits kann Mélenchon als Person als Abkömmling des alten Systems angesehen werden. Die Episode um die Hausdurchsuchung wegen Korruptionsverwürfen, gegen die er sich mit „La République c’est moi“ zur Wehr setzte, kann auch als typisch für die über dem Volk stehende Eliten interpretiert werden. Aber auch sein Unwillen konsequent gegen das von Euro/EU-Binnenmarkt repräsentierte neoliberale Regime vorzugehen andererseits. Seine politische Formation ist nicht fähig der Mehrheit des Volkes in seiner Diversität eine Plattform zu bieten, auch wenn sein eingeschlafener Ruf nach einer neuen verfassungsgebenden Versammlung in die richtige Richtung ging. Zugute muss man ihm halten, dass er als einer der ganz wenigen etablierten Linken sich von der Antiberlusconite befreien konnte. Gegen Le Pen rief er nicht für Macron auf und das kommt ihm heute zu gute. Aber ob er wirklich mit den Eliten zu brechen bereit ist, muss sich erst zeigen.

Die Bewegung der Gelbwesten ist jedenfalls eine riesige Chance. Sie hat sich den Sturz des Präsidenten zum Ziel gesetzt. Das ist eine sehr, sehr große Aufgabe, von der sie noch einigermaßen weit entfernt ist. Dazu müsste nicht nur der Straßenprotest verbreitert und radikalisiert werden, sondern er müsste wahrscheinlich auch auf die Betriebe mit einer Streikbewegung überbringen.

Jedoch bleibt die größte Hürde ist politisch. Hat initial die Ablehnung von etablierten politischen Parteien ihren Sinn und Zweck, so müsste sich das nun umdrehen. Es bedarf einer breiten politisch-sozialen Plattform für eine Regierung der Mehrheit, die mit dem euroliberalen Regime bricht und sich die Volkssouveränität im Anschluss an die Ziele der Französischen Revolution von Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit auf die Fahnen schreibt. Die Forderung nach einer Konstituante könnte dabei auch eine wichtige Rolle spielen.

Doch selbst wenn ein kleiner Schritt in diese Richtung gemacht wird, wäre das ein großer Fortschritt.

Jedenfalls zeigen die Ereignisse in Frankreich wie tief nicht nur die soziale Krise der neoliberalen EU ist, sondern dass sie auch die politische Sphäre erreicht hat, von unten wie von oben. Die Beispiele sind bekannt: Diktat gegen Griechenland; Brexit; der Katalonienkonflikt, der durch die Austerität radikalisiert wurde; die Weigerung der italienischen Regierung sich der EU unterzuordnen usw.

 

Werden sie den Tsipras machen?

Interview mit Leonardo Mazzei, Exponent der „Patriotischen Linken“ und langjähriges Führungsmitglied von Rifondazione Comunista in der Toskana

von Wilhelm Langthaler

[Bild: Der Spiegel vom 27.1018, Kampfblatt des EU-Regimes]

Die EU-Kommission hat den italienischen Budgetentwurf als „präzedenzlose Abweichung “ vom „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ zurückgewiesen. Warum diese Härte?

Die “präzedenzlose Abweichung” ist eine offensichtliche Übertreibung. In den vergangenen vierzig Jahren gab es nur vier Jahre, in denen das Verhältnis Defizit/BIP unter 2,4% lag, so wie es die Regierung für 2019 vorgesehen hat. Die Ablehnung durch die EU-Kommission lässt sich nur politisch erklären. Man will gegen eine Regierung hart vorgehen, die zwar keinen entscheidenden Schwenk hin zu einer expansiven Politik verfolgt (wie es notwendig wäre), aber die zumindest die Richtung in Bezug auf die Austerität umdreht.

Die Regierung scheint auch ihrerseits hart zu bleiben. Ist eine Eskalation unvermeidlich?

Die Regierungsmehrheit kann sich keinen Rückzug erlauben. Das wäre ein politisches Desaster. Sie versucht konkrete Maßnahmen zu setzen – Verbesserung der Pensionen, Transfereinkommen für die ärmsten Schichten, Steuersenkungen – und dabei einen Frontalzusammenstoß mit der EU zu vermeiden. Aber diese Suche nach einem Kompromiss wurde in Brüssel nicht aufgenommen, im Gegenteil. Die Eskalation ist daher ein wahrscheinliches Szenario.

Bleibt nicht trotzdem noch Raum für einen Kompromiss? Premier Conte meinte, man könne einige kostspielige Ausgaben auf später verschieben. Ein paar Promille auf oder ab macht doch keinen großen Unterschied.

Theoretisch müsste ein Kompromiss immer möglich sein. Praktisch gesehen halte ich ihn für schwierig. Vor allem wenn das Haushaltsjahr einmal zu laufen beginnt, wird es gänzlich unrealistisch. Wenn das Budget so wie von der Regierung vorgeschlagen (der Text wurde noch nicht ans Parlament weitergeleitet) beschlossen wird, sehe ich nicht, wie die Regeln bezüglich Pensionen und Grundeinkommen nachträglich verändert werden könnten. Sicher, man kann an den Steuereinnahmen immer drehen, zum Beispiel die Mehrwertsteuer erhöhen, aber das ist sowohl für die Fünfsterne und noch mehr für die Lega ein unantastbares Tabu.

Könnte die italienische Position nicht auch ein Bluff sein um Zugeständnisse zu erwirken, so wie es damals Tsipras versuchte?

Es gibt in der Regierung sicher Kräfte, die in diese Richtung arbeiten. Und nicht nur die Leute von Präsident Mattarella, sondern auch Komponenten der zwei Regierungsparteien. Aber gegenwärtig handelt es sich um Minderheiten. Der wahre Einsatz sind nicht die Stellen hinter dem Komma der Defizitzahlen, sondern wer in Italien das Sagen hat: die Regierung, die die Mehrheit der Stimmen und Sitze hinter sich hat, oder die EU-Kommission mittels ihrer Diktate? Das wirkliche Thema ist die Souveränität. Deswegen erachte ich Ende à la Tsipras für wenig wahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte in diesem Kontext nur sehr vorübergehend sein.

Gibt es Anzeichen, dass die Regierung mit der Kündigung des Fiskalvertrags droht?

Formal nicht, aber es ist offensichtlich, dass genau das am Spiel steht. Außerdem weiß jeder, dass der Fiskalpakt, so wie er ist, unanwendbar ist.

Viele meinen, dass das Kabinett Conte auf einen harten Konflikt nicht vorbereitet ist. Was denken Sie?

Natürlich hat diese Regierung unzählige Schwächen, objektive und subjektive. Die subjektiven sind Ausdruck der Natur der populistischen Kräfte und ihrer inneren Widersprüche. Die objektiven leiten sich vom Faktum ab, dass die systemischen Kräfte, die der EU dienen, die entscheidenden Schalthebeln der Macht noch in der Hand halten: das Präsidentenamt, die Nationalbank, das Wirtschaftsministerium, praktisch die Gesamtheit des technokratischen Apparates (die Ministerien und nicht nur die), die Presse und die Medien in der überwiegenden Mehrzahl. Ein Problem der gegenwärtigen Regierungsmannschaft ist, dass sie zu viele Illusionen hat, sei es zum möglichen Wirtschaftswachstum oder zum Ausgang der kommenden EU-Wahlen. Illusionen, die zu einer gewissen Unterschätzung der konkreten Effekte der Brüsseler Kriegserklärung verleiten. Es scheint in diesem Rahmen unmöglich den Zusammenstoß durchzustehen. Aber sie hätten eine Waffe, auf die sie bisher noch nicht zurückgegriffen haben, nämlich die Mobilisierung des Volkes. Wenn der Konflikt eskaliert, kann er sich nicht nur auf die Paläste der Macht beschränken – und wenn doch, wäre die Niederlage ausgemachte Sache.

Die entscheidende Waffe der EU ist die EZB und die Kontrolle über das Geld. Weiß die Regierung sich zu verteidigen?

Wir sind nicht an der Regierung und man kann dazu keine sichere Aussage machen. Es ist klar, wenn wir wirklich zu diesen Punkt kommen würden, wäre die erste Antwort die Ausgabe einer Parallelwährung für den internen Zahlungsverkehr – eine ihrer Natur nach vorübergehende, aber trotzdem unausweichliche Maßnahme. Es zirkulieren einige Vorschläge in diese Richtung, unter anderen die Mini-Bot, die den Volkswirten der Lega sehr wichtig sind. Nachdem sie bei der Regierungsbildung so ausschweifend darüber schwadroniert haben, herrscht nun irreale Stille: der Terror des Spreads hat die Münder zugenäht. Aber alle wissen, wie die Dinge stehen und in der Regierung gibt es diesbezüglich sicher gewisse Kompetenzen. Die Frage ist nur, ob sie den politischen Mut aufbringen werden, jene Phase einzuleiten, die das Ende des Euros einläuten wird, zumindest in Italien.

Wie unabhängig ist die Banca d‘Italia von der Regierung? Wer ernennt die Zentralbank-Führung?

Wie immer wieder erklärt, ist das Prinzip der sogenannten Unabhängigkeit der Nationalbank ein zentraler Bestandteil der Ideologie und Politik des Neoliberalismus. In Italien wird dieses Prinzip seit 1981 angewandt, als es zur Scheidung zwischen Banca d’Italia und Finanzministerium kam. Hier begann der Boom des Staatsdefizits, das so in die Hände der globalen Finanzmärkte gelegt wurde. Heute schreibt das Statut der EZB den nationalen Zentralbanken vor, dass sie keinen politischen Anweisungen von staatlichen Organen Folge leisten dürfen. Der Vorstand der Nationalbank aus 13 Mitgliedern wird von den Anteilseignern gewählt, also Banken und Versicherungen mit Sitz in Italien. Dieser Vorstand kann seine Meinung zur Nominierung des Gouverneurs ausdrücken, der vom Präsidenten des Ministerrats [Regierungschef] vorgeschlagen und vom Staatspräsidenten bestimmt wird.

Gefährdet der drohende “Terror des Spreads” die breite Unterstützung der Regierung im Volk?

Die Gewalt der Waffe des Spreads ist sehr groß, vor allem entfaltet sich seine Wirkung durch die exzessive Verwendung in den Medien. Das zu unterschätzen wäre ein schwerer Fehler. Tatsächlich handelt es sich um das einzige Werkzeug in der Hand der Eliten, das geeignet ist, die Unterstützung der Regierung durch das Volk zu untergraben. Dennoch, wenn man täglich die Katastrophe herbeischreibt und diese nicht eintritt – wie es beispielsweise 2011 der Fall war –, verbreitet sich die Wahrheit über die politische Nutzung des Spreads. Man darf sich keinen Illusionen hingeben. Wenn in Brüssel und Frankfurt entschieden wird den Spread einzusetzen, dann bedarf es schneller und entschiedener Maßnahmen, um den sozialen Block, der die Regierung trägt, zusammenzuhalten.

Welche legal-technische Form könnte ein Euro-Austritt annehmen? Welche Schritte wären formal notwendig? Kann Mattarella das verhindern?

Dazu gebe es viel zu sagen, doch ist klar, dass, wenn die EZB die Liquiditätsversorgung zudreht, wenn die Banken durch die Entwertung der Staatspapiere und die Regularien der Bankenunion an den Rand des Abgrunds gedrängt werden, ein Ausnahmezustand eintritt. Theoretisch könnte der Austritt mit der Eurozone abgesprochen werden, doch praktisch ist das kaum möglich. In einer solchen Ausnahmesituation kann niemand Italien daran hindern, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um seine Wirtschaft zu sichern, unter diesen die Einführung einer Parallelwährung und die Verstaatlichung des Bankensystems. Alles Dinge, die für die EU inakzeptabel sind. An diesem Punkt wird nichts anderes bleiben, als den Austritt aus dem Euro zu formalisieren. Und was Mattarella betrifft, so kann er tatsächlich die Unterschrift unter diese Rechtsakte verweigern. Doch das würde einen fast unlösbaren Machtkampf mit dem Parlament hervorrufen. Im entscheidenden Moment – wie man auch bei der Krise im Zuge der Regierungsbildung Ende Mai gesehen hat – muss eine Seite nachgeben, diesmal jedoch ohne die Möglichkeit eines Kompromisses.

Wie läuft in Italien die Auktion von Staatsanleihen ab?

Für die Auktionen gibt es diverse Modalitäten. Für die wichtigsten Titel, also Langläufer von mehr als einem Jahr (vor allem BTPs), gilt ein absurdes System, das die Käufer bevorzugt. Der Preis (d.h. der Zinssatz) wird durch das tiefste, also für den Staat ungünstigste Angebot bestimmt. Dieser Modus erlaubt den Banken Absprachen und unterscheidet sich von den anderen europäischen Ländern und auch von Deutschland. Es ist die Konsequenz der europäischen und nationalen Normen, die der Banca d’Italia verbieten, die Schulden zu monetisieren und als Käufer letzter Instanz zu fungieren.

Ist es denkbar, dass Italien aus dem Euro austritt aber in der EU bleibt?

Juristisch gesehen wäre das möglich, politisch hat das aber keinen Sinn. Das umso mehr, als ein solcher Bruch alle Sicherheiten über die Zukunft der Union zerstören würde. Das bedeutet natürlich nicht, dass man nicht neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten suchen muss. Aber alles zu seiner Zeit.

Sie haben immer von einer Drei-Parteien-Koalition gesprochen. Welche politische Form könnte ein Austritt annehmen, wenn man bedenkt, dass diese dritte Partei auch in den Koalitionsparteien selbst vertreten ist?

Hier stoßen wir ins Reich des Unbekannten vor. Allgemein gesprochen haben wir für einen solchen Bruch nicht die geeignetste Regierung. Es ist klar, dass die philo-europäische Mattarella-Gruppe nicht an ihrem Platz bleiben kann, wenn der Moment der Entscheidung da ist. Auf der anderen Seite sieht man am Brexit, wie historische Prozesse widersprüchlich verlaufen können, manchmal sogar den Fähigkeiten und Wünschen der Handelnden zum Trotz, die sogar die Rolle der Protagonisten spielen. Wir halten eine Art neues CLN (Komitee der Nationalen Befreiung), das die politische Führung des Widerstands gegen den Nazi-Faschismus innehatte, für notwendig. Ein Bündnis, sei es auch nur temporär, das alle demokratischen Kräfte, die von der Notwendigkeit der Befreiung unseres Landes vom Euro-Regime überzeugt sind, vereinigt.

Sie sind von der „Patriotischen Linken“. Welche Rolle könnte diese spielen?

Leider hat der Großteil der linken Kräfte die Frage der nationalen Souveränität aufgegeben. So wurde das Feld einem Rechtspopulismus (der Lega) sowie einem im Kern linken aber oft konfusen Populismus (Fünfsterne) überlassen. Glücklicherweise beginnt sich in gewissen linken Milieus endlich ein linker Patriotismus, der dem nationalistischen Chauvinismus entgegengesetzt ist, Bahn zu brechen. Aber das reicht noch nicht und die Zeit drängt. Die Stärkung der Patriotischen Linken und seine Positionierung auf Seiten der Populisten ist der einzige Weg, dass der Prozess des Bruchs mit der EU unter demokratischen Vorzeichen und zugunsten der Mehrheit und insbesondere der unteren Schichten der Bevölkerung verläuft. Das populistische Regierungsbündnis ist nicht ehern, sondern muss auf den Druck von unten reagieren. Der soziale Block, der es unterstützt, ist der Unsere: vereinfacht gesagt, jene, die von der Krise am meisten betroffen sind. Es gibt unzählige Schwierigkeiten aber es gibt keinen anderen Weg für eine Linke, die sich des historischen Einsatzes bewusst ist.

 

Das Interview erschien zuerst in leicht gekürzter Form auf makroskop.eu

Brexit-Vertrag?

von Rainer F. Brunath

Mit dem Brexit-Verhandlungsergebnis zwischen EU und Großbritannien haben die EU-Eliten dem politischen London gezeigt, was eine Harke ist. Dafür trat Dominic Raab, der britische Brexit-Minister von seinem Amt zurück. Er sah seine Anwesenheit im Amt für überflüssig an, denn er wurde nicht zu den Verhandlungen geschickt, sondern die Vertraute der Premierministerin.

Man fragt sich, warum Theresa May so standfest bei ihrer Linie, den Brexit durchzusetzen, geblieben ist, obwohl scheinbar in der Bevölkerung die Zustimmung zum Festhalten an der EU-Mitgliedschaft wieder gewachsen scheint. Warum hat sie nicht ein zweites Referendum angesetzt, wie das so üblich ist in bürgerlichen Demokratien: es wird so lange abgestimmt, bis das Ergebnis wie gewünscht ausfällt. Beispiel dafür ist Irland, aber auch Dänemark. Es muss also etwas viel gewichtigeres sein, als das, was die Medien vermitteln.

Winston Churchill sagte einst: „Wir Briten haben unsere eigenen Träume“ Margaret Thatcher fauchte der EU-Ministerrunde in Fontainebleau entgegen: „Wir haben den Staat nicht deshalb erfolgreich zurückgedrängt, um ihn auf europäischer Ebene wieder errichtet zu sehen.“

Ist hinter diesen Aussagen die Antwort zu finden, warum ein halber Brexit besser sein soll als gar keiner? Geht man nochmals in die junge Vergangenheit und hören Margret Thatcher zu, als sie vor dem Beirat der britischen Juden eine Rede hielt und sinngemäß sagte: „die deutsche Vereinigung weckt bittere Erinnerungen an die Vergangenheit. Ich bin überzeugt, wie viele meiner Landsleute, dass es ungerecht ist, dass Deutschland wirtschaftlich so stark wird. Und eine Vereinigung des ehemaligen Kriegsgegners würde zu einem von Deutschland beherrschten Europa führen.“

Die Eliten, der Geldadel, die potenten Kapitalgruppen und nicht zuletzt die Waffenschmieden waren mit Margret Thatcher einig und auch jetzt stehen sie beratend hinter Theresa May. Diese Eliten wollen und werden sich nicht einem Europa-Hegmon unterordnen, der Deutschland heißt. Ist das verwunderlich für die Eliten der Insel, die über 300 Jahre eine Weltmacht war und immer noch über wirtschaftliche Resourcen verfügt, die eine EU nicht hat? So gesehen hat man die Mitgliedschaft in der EU gar nicht nötig. Der einzige Grund, warum diese Eliten die 40 Jahre in der EU hingenommen hatten, war der Wunsch, die eigene Bevölkerung ruhig zu stellen, zu korrumpieren mit einer wirtschaftlichen Entwicklung die den eigenen Reichtum nicht antastet, um verbreitete Armut in den Midlands zu mildern. Und das hat nicht funktioniert. Nun wollen diese Eliten die einmalige Chance für den Exit nicht verstreichen lassen. Deshalb gibt es kein zweites Referendum.

Der halbe Brexit aber, den Theresa May ausgekungelt hat, würde teuer werden: die EU-Herren (und Damen) haben den Brexit in ein kompliziertes Vertragswerk gepackt, das Britannien, ohne Schaden zu nehmen, nicht verlassen kann. Die Gefahr wird von vielen Konservativen in London auch gesehen und schon kursierten Unterschriftenlisten für ein Misstrauensvotum gegen May. Und die Brexit-freundliche Presse, zugleich die rechte Presse, trommelt gegen den Vertrag.

Nun soll der Trennungsvertrag im Dezember vom Unterhaus beschlossen werden. Dessen Annahme ist aber fraglich: die Nordirischen Unionisten, mit denen die Premierministerin regiert, lehnen bisher ab. Die Labour ist gespalten, denn es sitzen immer noch üble Kapitulanten von Typ Tony Blair im Unterhaus. Aber wahrscheinlich werden sie es kaum wagen, Frau May zu unterstützen um eine Neuwahl zu vermeiden.

Wie sieht nun das keineswegs großartige Verhandlungsergebnis aus? Antwort: es bleibt alles beim alten. Auch künftig wird es keine Zölle geben und Britannien unterwirft sich den Regeln des Binnenmarktes, die von der EU überwacht werden.

Das ist die Sicht von außen. Und jene von innen? Britanniens bisheriges Mitspracherecht über die Binnenmarktregeln, die in vielen Gremien ausgehandelt werden, gibt es nicht mehr. Dafür darf Britannien solche Regeln mit EU-Staaten bilateral aushandeln. Und: Freihandel mit Nicht-EU-Staaten wird nicht erlaubt. Jedoch solange nicht, bis ein vollständiger Austritt aus der EU erklärt und ein neues, eigenes Freihandelsabkommen mit der EU ausgehandelt worden ist. Und warum ist das so? Weil Nordirland im EU-Binnenmarkt verbleiben soll, um dort eine harte Grenze zu Irland zu vermeiden. Käme es dazu, bestünde die Gefahr, dass die alten Rivalitäten in Nordirland wieder aufbrechen.

Und London? Dortige Banken hätten nach dem Abkommen nicht mehr die Freiheit in allen EU-Ländern Bankgeschäfte abzuschließen. Die kontinentalen Bankzentren freuen sich schon, dass dort Tochterunternehmen der Londoner Banken eröffnet werden. Diese Frage ist aber noch offen. Es könnte auch sein, dass Großkonzerne vom Kontinent und den USA ein Finanzstandort London durchsetzen.

In der EU (Berlin, Paris) ist man zufrieden. Der Freihandel und der freie Fluss des Kapitals geht bis auf weiteres weiter wie gehabt. Und die EU hat ein Zeichen gesetzt: Achtung an alle die mit dem Gedanken eines Austritts spielen, denn der Ertrag wird minimal sein. Und man wird einen Packen an Problemen aufgehalst bekommen, die es quasi unmöglich machen, den ökonomischen Status quo zu halten.

Eigene Regelungen (Lexit), die nichts zu tun haben mit den Kapitalfreiheiten des EU-Binnenmarktes muss von den Arbeitern Britanniens erstritten werden, denn mit dem jetzt ausgehandelten Diktat ist ihnen nicht gedient.

Lapavitsas in Kassel gegen Euro und EU

Hier eine Youtube-Aufnahme des Diskussionsbeitrags am Europa-Kongress von Attac in Kassel am 5.10.2018.

Der griechisch-britische Volkswirt und ehemaliger Syriza-Parlamentarier erklärt, dass eine progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik nur mittels Bruch mit dem neoliberalen Regime der Währungsunion und dem EU-Binnenmarkt möglich ist. Daher spricht er sich auch für den Brexit aus, den er als im Interesse der Arbeiterschaft ansieht.